Vakuum: Kristalle zum Essen

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Zwei Kopenhagener Köche experimentieren auf der Suche nach neuen Aromen mit in Vakuum getrocknetem Obst und Gemüse.

Die Geschmacksexplosion findet an einem unscheinbaren Ort statt. In einem fensterlosen Raum tief im Inneren der Universität Kopenhagen reicht John Greany einen kleinen Plastikbehälter. Gefüllt ist er mit Kristallen in kräftigem Purpurrot. „Probiert mal“, sagt Greany. Und grinst. Der Mann in Jeans, T-Shirt und Sneakers muss nicht lange warten, bis der Wow-Effekt bei den Verkostern eintritt: Ungemein knusprig sind die Kristalle mit der gepufften Struktur. Überraschend süß. Und unglaublich intensiv. Das Zauberwort heißt Vakuumtrocknung. Mit diesem Verfahren wurden aus Rote-Rüben-Saft essbare Kristalle hergestellt. Greany zeigt auf ein Gerät, das einem mittelgroßen Backofen ähnelt. „Hier erzeugen wir die Kristalle.“

Dass die Kristalle auf den Tellern eines Kopenhagener Restaurants gelandet sind, hat mit Greany zu tun. Im Hauptberuf arbeitet der 32-Jährige am Institut für Ernährungswissenschaft der Uni Kopenhagen. Dort geht er der Frage nach, wie Abfälle aus der Obst- und Gemüseindustrie im Vakuumofen zu Kristallen oder Pulver getrocknet werden können. Greany ist aber auch Koch. Nur logisch, dass er erste Kristallproben sofort ins Restaurant Tivolihallen mitgebracht hat. Dort steht er zeitweise am Herd. Es waren die neuen Farben, Aromen und Konsistenzen, die ihn und Küchenchef Anders Busk begeisterten. „Es macht Spaß, mit den Kristallen zu arbeiten“, sagt Greany. „Neue Aromen zu kreieren, die zu 100 Prozent auf Obst und Gemüse basieren, ist faszinierend.“

Gemüse, wie man es nicht kennt. Für die Gäste im Tivolihallen, gelegen im Souterrain eines 1790 erbauten Gebäudes, veredeln sie seit dem Frühjahr Vorspeisen und Desserts mit Rote-Rüben-Kristallen. Etwa als Garnierung von Ziegenkäse oder des hauseigenen Veal Sylte, einer Art Sulz aus fein geschnittenem Kalbsfleisch. Oder zusätzlich zur Garnierung auch als Zutat ihres Rote-Rüben- Parfaits. „Wenn man die Kristalle dem Eidotter hinzufügt, lösen sie sich langsam auf. Als ob man Instantkaffee verwenden würde“, erklärt Greany. Die Reaktionen der Gäste stimmen ihn positiv. „Sie sind begeistert davon, wie knusprig und geschmacksintensiv die Kristalle sind. Es ist Gemüse, aber in einer Form, die sie nicht kennen.“ Da es sich im Wesentlichen um getrockneten Saft handelt, lösen sich die Kristalle im Mund rasch auf. Dabei setzen sie besonders starke, teilweise ungewohnte Aromen frei. „Bei der Vakuumtrocknung werden schwächere Geschmacksnoten durch starkes Dehydrieren verstärkt“, sagt Greany. „Es ist spannend, wie Aromen, die normalerweise im Gemüse verborgen bleiben, auf diese Weise hervortreten.“ So würden bei Roten Rüben jene Geschmacksstoffe intensiviert, die an Lakritze oder Anis erinnern. Generell bleiben Nährstoffe und Aromen bei der Vakuumtrocknung gut erhalten, weil Wasser bei geringeren Temperaturen verdampft als unter normalem Luftdruck.

„Waste Taste“. Die Vakuumtrocknung ist nicht neu im Lebensmittelbereich. Wissenschaftler der TU Dresden und der Universität Jena etwa entwickelten vor gut zehn Jahren ein Verfahren, mit dem Trockenfrüchte schonend (mit einem Inhaltsstoffverlust von weniger als 35 Prozent) produziert werden können. Die Wissenschaftler in Kopenhagen sind aber die Ersten, die das Verfahren – unter dem Projektnamen „Waste Taste“ – bei Abfällen und Überproduktionen der Lebensmittelindustrie einsetzen wollen. Sie treffen einen Nerv der Zeit. Tonnenweise landen allein in Dänemark jeden Monat Obst und Gemüse im Müll. Diese Abfälle sollen reduziert werden. Und zu Zutaten für Lebensmittel (Suppen, Joghurts, Eiscreme etc.), Gesundheitsprodukte, Sportergänzungsmittel oder die Gastronomie verarbeitet werden. Dazu kollaboriert man derzeit mit einem großen dänischen Lebensmittelproduzenten.

Greany führt in einen lichtdurchfluteten Raum. Auf einem langen Labortisch hat er mit Busk Gerichte vorbereitet: etwa das köstliche Rote-Rüben-Parfait mit Nougat, das sie auch im Tivolihallen servieren. Aber auch Speisen, die noch im Experimentierstadium sind: Kabeljau mit Pfefferspeck und vakuumgetrockneten Kapern. Lachsrolle gefüllt mit einer Creme aus getrockneten Pilzen. Und als Fingerübung, um zu zeigen, was alles möglich ist: ein Dessert mit Kaffeekristallen. Es eignet sich aber nicht alles zur Vakuumtrocknung. „Genau genommen hat sehr vieles nicht funktioniert“, erzählt Greany. Zum Beispiel Kartoffelpulver. Oder das Trocknen von diversen Fruchtund Beerenpürees. Zu hoher Wassergehalt führte etwa dazu, dass die Kristalle im Vakuumtrockner explodierten. Er ist aber optimistisch: „Bei dieser Form der Konservierung geht es vor allem darum, die Chemie und die Zusammensetzung der Lebensmittel zu verstehen. Wir werden Wege finden, das künftig besser zu meistern.“ Gäste des Tivolihallen zählen möglicherweise zu den Ersten, die es erfahren: Nach Weihnachten wollen Busk und Greany die essbaren Kristalle ins Zentrum neuer Menüs stellen. Die Zukunft der Kristalle sieht Greany aber vor allem in der Großproduktion für den Lebensmittelsektor. Das Tivolihallen ist derweil ein ideales Experimentierfeld: „Die Produkte in einem Restaurant zu testen ist einfach sinnvoll“, sagt Greany. „Du musst irgendwo anfangen.“

Der Autor reiste auf Einladung der Food Organisation of Denmark.

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