Kernfragen, Blattkritik, Stielistik

Ganz. Schalen, Strünke, Stiele, Blüten: Alles lässt sich verwerten.
Ganz. Schalen, Strünke, Stiele, Blüten: Alles lässt sich verwerten.(c) Beigestellt
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Kohlblattadern im Pariser Dreisterner, Quittenkernkaramell zu Hause: Jetzt geht es um die ganze Pflanze.

Es ist das Nose-to-Tail der Vegetarier: Leaf-to-Root, also das Verwenden der ganzen Pflanze in der Küche. Stiel oder Schnauze, Strunk oder Schwänzchen, Wurzelfäden oder Zunge: alles eines, könnte man meinen, die Philosophie ist jedenfalls dieselbe. Alle Teile eines Tieres oder einer Pflanze, sofern nicht giftig, haben ihre Vorzüge und ihre Berechtigung für die Küche. Und es sind gerade die unüblichen Teile, auf Englisch Second Cuts genannt, die für das sich als fortgeschritten bezeichnende Essvolk und für Köche interessant sind und mit denen man sich von der Masse abheben kann. Schweinsohr und Brokkolistrunk als Distinktionsmerkmal also.

Vorreiter. Johann Reisinger ist ein Protagonist von Leaf-to-Root.
Vorreiter. Johann Reisinger ist ein Protagonist von Leaf-to-Root.(c) Beigestellt

Gemüse als Star. Die Leaf-to-Root-Bewegung – man spricht auch von Root-to-Stalk – ist seit einigen Jahren im Aufwind. Die Kulinariktrendforscherin Hanni Rützler führt dies unter anderem darauf zurück, dass Gemüse der neue Star in Top-Restaurants ist und man „mit Stars einen leidenschaftlicheren und zugleich achtsameren Umgang“ pflegt. Man blickt also heute bei Gemüse und auch Obst wieder genauer hin, seziert die Möglichkeiten, was aus Wassermelone, Maiskolben, Karfiol und Co. alles herauszuholen ist. Im Steirereck wurde Artischockenstielen gehuldigt, der Drei-Sterne-Koch Yannick Alléno versteckt indes in Paris ein Stück Hummer unter einem eigentümlichen Geflecht, das sich bei genauem Hinsehen als Kohlblattadern entpuppt und als eigentlicher Star des Gerichts inszeniert ist: ein starkes Statement zur angeblichen Hierarchie von Zutaten, zu ihrer Wertigkeit. Oft reicht auch ein Blick in fremde Kochkulturen für die Inspiration: Wassermelonenschalen etwa, also die weiße Schicht, die wir üblicherweise entsorgen, legt man auf dem Balkan süß-sauer ein, in Thailand raspelt man sie zu Salat. Auch alte Kochbücher können ein ergiebiger Ideenfundus sein, schließlich mussten vor allem in Mangelzeiten Pflanzen möglichst vollständig verwertet werden. Der legendäre Fernsehkoch Franz Ruhm etwa empfahl unter anderem gebackene Rhabarberblüten. Zahlreiche Foodblogs wie auch Kochbücher widmen sich Ideen rund um Stiele, Blattrippen oder Blütenköpfen, auf Deutsch zum Beispiel Bernadette Wörndl mit ihrem Buch „Von der Schale bis zum Kern“.

Wertvoll. Angebliche Küchenabfälle entpuppen sich oft als wertvoll.
Wertvoll. Angebliche Küchenabfälle entpuppen sich oft als wertvoll.(c) Beigestellt

Zum Standardwerk könnte nun „Leaf to Root“ aus dem AT Verlag avancieren. Dass es generell nicht ohne englische Begriffe zugeht, liegt wohl an der Umständlichkeit des Deutschen – Wörter wie Ganzpflanzenverwertung versprühen nicht gerade viel Knackigkeit. Autorin Esther Kern hatte die Aktion „Leaf to Root“ auf der Website www.waskochen.ch ins Leben gerufen. Gemeinsam mit Fotograf Sylvan Müller und Rezeptautor Pascal Haag hat sie nun ein aufwendiges Buch produziert, in dem nicht nur Rezepte zu finden sind, sondern auch Gedanken über die Eigenschaften von missachteten Pflanzenteilen. Die Sensorikerin Christine Brugger beschreibt die Aromen von Pastinakenschale, Papayakernen und Rotkrautstrunk, die Köchin Rebecca Clopath erzählt, warum sie Quittenkerne und -blätter verarbeitet, der Lebensmittelchemiker Norbert Fischer sinniert über Gras-Tofu.

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Brokkoliblätter werden in diesem Buch zu Chips, Gurkenschalen mit Limetten zur hellgrünen Limonade, Walnussblätter, Kaffee und Zucker ergeben ein Granité. Die Stiele von Grünkohl lassen sich als Tempura verwerten, jene von Roten Rüben werden mit Amaretto und Orangensaft zu einem süßen Kompott gekocht, und Kohlrabischalen legt man mit Verjus und rosa Pfeffer ein. Einer der Protagonisten und hierzulande zweifellos Vorreiter der Leaf-to-Root-Bewegung ist der steirische Koch Johann Reisinger. Er zeigte unter anderem beim Kochcampus, einer kulinarischen Thinktank-Veranstaltungsreihe, vor, dass man allein aus einer Karotte ein vielteiliges Gericht machen kann. Wenn man sich ihrer vom grünen Haarschopf bis zum Spitzentanzfuß annimmt.

Tipp

Ganze Pflanze. Eines der spannendsten Kochbücher des Jahres: „Leaf to Root“ von Esther Kern, Sylvan Müller und Pascal Haag, AT Verlag, 51,30 Euro.

Die Schönheit der Ethnobotanik

Gepresste Pracht. Manche werden sich augenblicklich in die Kindheit zurückversetzt fühlen: als man zwischen Bücherseiten oder mit einem speziellen Blumenpressgerät aus Sperrholz, Löschpapier und Flügelschrauben hantierte. Die Schönheit von ganzen Pflanzen aus aller Welt, essbaren wie giftigen, versammelt nun in Form von historischen Herbarbögen der Prachtband „Herbarium Orbis“. Die meisten der Bögen stammen aus dem Botanikinstitut Montpellier. So wird etwa die ganze Bandbreite von Kürbispflanzen sichtbar – Fruchtfleisch, Blüte, Triebe, Blätter, Kerne –, und wir werden angesichts der anschaulich ausgebreiteten Vielfalt daran erinnert, dass viel mehr Teile einer Pflanze nutzbar sind, als wir wahrhaben. Feigenblätter, wie sie ein Herbarbogen von 1852 zeigt, dienen als Aromaten für Öle oder Cremes, vom Knoblauch lassen sich nicht nur die Knollen, sondern auch die Blüten verwenden.

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