Herrenschneider: Das Ende der Gentlemen?

Michael Possanner in seiner Schneiderei in Döbling, die er vor vier Jahren eröffnete.
Michael Possanner in seiner Schneiderei in Döbling, die er vor vier Jahren eröffnete.Stanislav Jenis
  • Drucken

Michael Possanner ist einer der letzten traditionellen Schneidermeister Wiens. Über fehlende Kundschaft kann er sich nicht beklagen. Über mangelnden Nachwuchs hingegen schon.

Handwerk oder Kunst? Bei kreativen Berufen wird diese Frage häufig gestellt. Und oft ist sie gar nicht so einfach zu beantworten. Sind beispielsweise Modedesigner eher Handwerker oder Künstler? Wie ist es bei Restauratoren? Oder bei Grafikern?

Michael Possanner reagiert auf diese Frage beinahe verlegen. „Ich betrachte meinen Beruf schon als Handwerk“, sagt er. „Obwohl ihn meine Kunden eher als Kunst bezeichnen, wenn sie das Ergebnis meiner Arbeit sehen.“

Der 44-Jährige ist einer der letzten traditionellen Herrenschneidermeister Wiens. Das Geschäft läuft trotz der starken Konkurrenz durch große Modehäuser, die qualitativ hochwertige Anzüge um ein Mehrfaches günstiger anbieten, wie er sagt, ausgezeichnet.

90 Prozent Handarbeit.
Acht bis zwölf Wochen warten seine Kunden auf einen maßgeschneiderten Anzug, den er in seinem Salon in Döbling in rund 85 Stunden Handarbeit fertigt. Jeder Kunde bekommt einen individuellen, auf ihn abgestimmten Schnitt. Konfektionen gibt es nicht.

„Ich arbeite nach Methoden, die bereits vor 100 Jahren angewandt wurden“, erzählt Possanner. „Mindestens 90 Prozent der Herstellung besteht aus Handarbeit. Anders als in der Konfektion wird jedes Knopfloch per Hand gestochen und genäht. Rund 7000 Nadelstiche und drei Anproben erfordert ein klassicher dreiteiliger Anzug mit Sakko, Weste und Hose.“

Zu seinen Kunden zählen Politiker, Diplomaten, Architekten, Ärzte, Anwälte, Juweliere und „jeder, für den gute Kleidung ein Kulturgut bedeutet und Mode eine Möglichkeit darstellt, seine persönliche Note zum Ausdruck zu bringen. Viele meiner Kunden konnten sich bei ihrem ersten Anzug gar nicht vorstellen, dass ein solches Tragegefühl überhaupt möglich ist. Einer beschrieb den Komfort sogar mit einem Handschuh, der perfekt passt.“


Klassische Ausbildung.
Eröffnet hat Possanner seine Herrenschneiderei, von denen es in Wien auf diesem Niveau nur noch eine Handvoll gibt, vor vier Jahren. Zuvor durchlief er eine klassische Ausbildung, die in Wien immer schwieriger zu absolvieren ist – weil sie kaum irgendwo angeboten wird.

Alles beginnt 1999 mit einer Lehre bei Kniže am Graben, einem der bekanntesten und renommiertesten Herrenaustatter der Welt, der 1858 gegründet wurde und sogar als die erste Herrenmodemarke überhaupt gilt. Possanner: „Dort habe ich alles von der Pike auf gelernt und meine Ausbildung mit der Abschlussprüfung beendet.“ Nacht acht Jahren im Haus und weiteren eineinhalb Jahren als Berater eines Unternehmens, das mit Schneidern aus aller Welt zusammenarbeitet, kehrt er 2009 für ein Jahr zu Kniže zurück, ehe er beschließt, sich als Herrenschneider selbstständig zu machen – 2013 wird nach Renovierungen und Umbauten sein Salon in Döbling eröffnet.

„Auf meine Meisterprüfung musste ich vier Jahre warten“, blickt der Wiener zurück. „Was viel über den Zustand dieses Handwerks aussagt.“ Denn für eine Meisterprüfung müssen mindestens fünf Kandidaten gefunden und eine Kommission zusammengestellt werden. Was in Wien beinahe ein Ding der Unmöglichkeit ist. Zum einen, weil die meisten Schulen nur Damen- und keine Herrenklassen anbieten, und zum anderen, weil das Interesse von jungen Männern und Frauen an diesem Beruf überschaubar ist.

„Ich suche händeringend nach Lehrlingen, finde aber keine, weswegen ich auch ein Ein-Mann-Betrieb bin“, klagt Possanner. „Im vergangenen Jahr beispielsweise haben sich bei mir fünf Personen beworben. Aber nur eine junge Frau wäre infrage gekommen, und sie wollte nur im Rahmen ihrer Ausbildung an einer Modeschule ein Praktikum absolvieren.“


Zerstochene Finger.
Und die anderen? „Sie lehnten ab, weil sie sich nicht in die Finger stechen und beim Ausblick auf die viele Handarbeit am Abend keine Kreuzschmerzen haben wollten“, sagt Possanner. „Natürlich sticht man sich in diesem Beruf in die Finger, ist am Abend müde und hat vielleicht Rückenschmerzen, weil man vor allem in der ersten Zeit viel sitzen muss. Aber das gehört zur Ausbildung dazu, mir selbst ging es während meiner Lehrjahre nicht anders.“

Ehrgeiz und Durchhaltevermögen seien nun einmal Voraussetzungen für diesen Beruf. Und Wissen sei bekanntermaßen eine Holschuld. „Man muss es natürlich unbedingt wollen. Ich erinnere mich, wie ich in meiner Lehre immer nachgefragt habe, warum etwas so gemacht wird, und jeden Handgriff, der mir beigebracht wurde, am Abend zu Hause noch einmal wiederholt und geübt habe“, erzählt er. „Und wie sehr ich die Arbeit zu genießen begonnen habe, als sie später abwechslungsreicher und kreativer wurde.“

Für die Zukunft hofft der 44-Jährige nicht nur, dass sich vermehrt junge Menschen für das Erlernen dieses Berufs interessieren, sondern auch für das Tragen maßgeschneiderter Anzüge. Denn im Schnitt sind seine Stammkunden 50 Jahre alt.

Bei den jüngeren seien es zumeist einmalige Ereignisse wie etwa Hochzeiten, für die sie sich Anzüge maßschneidern ließen. „Für sie ist der Anzug dann aber umso wichtiger, weil der Moment ein so besonderer ist“, betont Possanner. „Das wiederum ist für mich ganz besonders, weil ich ein Teil davon sein kann.“

Steckbrief

1972
wurde Michael Possanner in Wien geboren. Seine Ausbildung zum Herrenschneider absolvierte er bei Kniže am Graben, einem der bekanntesten Herrenausstatter Europas.

2012
eröffnete Possanner seinen eigenen Salon (www.possanner.com) in Döbling. Es ist eines der letzten Herrenschneiderbetriebe in Wien. Das Geschäft läuft trotz der Konkurrenz durch Modemarken sehr gut.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.