Tracht: In bester Ordnung

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Schürze, Leiberl, Lederhose: Die Tracht als Orientierungshilfe, historisches Dokument und Spiegel der Persönlichkeit.

Kleider als Ordnungsprinzip und als Orientierungshilfe: So sehr wie auf die Tracht trifft diese Erwartungshaltung ihrer Träger wohl auf keine andere Form von Bekleidung zu. Und das, obwohl kundige Liebhaber nicht müde werden zu betonen, dass man Tracht weder als Inkarnation eines vestimentären Regelwerks noch gar als Uniform missverstehen solle. „Es ist wie in der Musik: Das Typische und das Lebendige daran sind die Varianten, darum ist es auch nicht unbedingt sinnvoll, sich besonders dogmatisch zu zeigen, wenn Varianten zugelassen werden sollen“, sagt etwa Dorothea Draxler, Geschäftsführerin der Kulturregion Niederösterreich. Seit fast 25 Jahren bemüht sie sich um die Belebung und, wie sie sagt, „Entstaubung“ diverser Aspekte der Volkskultur, und dazu gehört eben auch die Tracht. Das freilich stört Frau Draxler, die ihre Karriere als Lehrerin und Leiterin des Musikschulwesens im Land begann, nicht im Geringsten, da sie sich selbst als leidenschaftliche und lebenslange Dirndlträgerin bezeichnet: „Ich bin sogar zu meiner Matura in Tracht gegangen und war damals die Einzige“, erinnert sie sich.

Mit Regeln brechen. Wahrscheinlich ist es die eingangs erwähnte Suche nach Ordnung und Orientierung, die in den vergangenen Jahren immer wieder Menschen aus niederösterreichischen Orten auf Draxler zukommen ließ, um eine eigene, unverwechselbare Tracht entstehen zu lassen. Anlässe sind oft wichtige Jubiläen von Vereinen oder gar einer Ortsgründung, die Initiative ergreifen Trachtenvereine, Musikkapellen oder Einzelpersonen. „Die Menschen wünschen sich Orientierung und Leitsysteme, wie sie Aspekte der Volkskultur schaffen“, ist Draxler überzeugt und warnt zugleich davor, über das Ziel hinauszuschießen. „Jeder versucht, eine Tracht in An­spruch zu nehmen, die nur ihm gehören und klar verortet sein soll. Das führt zu zum Teil absurden Auswüchsen.“ Im stillen Kämmerlein und ohne mit den Menschen zu reden, so lasse sich, ist sich die Volkskulturexpertin sicher, nur schwer eine gelungene Tracht entwerfen. „Eine Tracht ist nur dann eine Tracht und keine Uniform, wenn sie von vielen Menschen in einer Region angenommen und getragen wird, über das Vereinswesen hinaus.“

Dass immer wieder nach Regeln gesucht und auf die Einhaltung dieser Regeln gepocht werde, wenn es um Trachten geht, findet Dorothea Draxler ebenso widersinnig wie ihre, wie sie sagt, „große Lehrmeisterin“ Gexi Tostmann. Auch die wohl bekannteste Trachtenexpertin in Österreich wird ja nicht müde zu betonen, dass die Kenntnis bestimmter Grundprinzipien ebenso wichtig sei wie die Bereitschaft, eben diese Reglementierungen zu verwerfen. „Man kann“, unterstreicht Dorothea Draxler, „niemandem etwas verordnen, das ihm nicht passt oder das er nicht gern trägt. Deshalb ist es wichtig zu verstehen, dass eine Tracht nicht verordnet werden kann.“

Ordnungen und Leitsysteme regieren zumindest in einer Lagerhalle am Wiener Hafen: Hat man sich den Weg durch die Paletten mit Chipspackungen gebahnt und den Lift in eines der oberen Stockwerke des Speicherhauses genommen, steht man im Depot des Volkskundemuseums Wien, in dem rund 60.000 Objekte der Sammlung ver- und bewahrt werden. Auch die Textil- und ­Kleidersammlung: In nummerierten, flachen Kartons schlummern die Ensembles ihren Dornröschenschlaf, gebettet in Seidenpapier, mottensicher eingelullt von Lavendelduft. Kathrin Pallestrang, Leiterin der Textil- und Bekleidungsabteilung des Museums, erweckt eine Tracht aus dem Bregenzerwald, entstanden um 1900, zum Leben, mit Gummihandschuhen an den Fingern. Sanft streicht sie über den gechinzten, dunklen Stoff, deutet auf die feinen Stickereien. Eine schöne Arbeit.

„Man sollte historische Trachten aber nicht nach dem heutigen ästhetischen Empfinden beurteilen“, sagt Pallestrang: Die Tracht sei auch ein repräsentatives Kleidungsstück gewesen, „das zeigte, wie viel jemand besessen hat. Man hat Materialien verwendet, die möglichst teuer waren“. Genau dieser Aspekt – was Kleidung über ihren Träger und dessen Leben, dessen gesellschaftliche Position aussagt – liegt im Sammlungsfokus des Volkskundemuseums, und die Trachtensammlung konzen­triert sich vor allem auf Stücke aus dem ehemals habsburgischen Einflussgebiet. „Trachten muss man stets von Region zu Region betrachten“, ergänzt Pallestrang. Das Bewusstsein für regionaltypische Kleidung sei allerdings erst recht spät entstanden, unter Einfluss von Bürgertums und Wissenschaft: „Viele Leute kamen ja nicht von ihrem Geburtsort weg, man reiste nicht viel.“ Erst die fahrenden Händler – etwa aus Tirol – legten bewusst Wert auf ihr regionales Outfit: Wiedererkennungswert.

Überzeichnung. Was macht eine Tracht überhaupt zur Tracht? Gibt es das eine Ordnungssystem, die eine Richtschnur, die eine, wahre Tracht? Pallestrang schüttelt es beinahe bei den Ordnungsbegriffen. „In den 1920er-, 1930er-Jahren hat man versucht, stramme Ordnungen für volkstümliche Kleidung zu finden und sie gleichzeitig dem Geschmack anzupassen und tragbar zu machen“, sagt sie, man wollte sozusagen den Prototyp Tracht finden. Nationalistische Regimes nutzten die Begeisterung für Trachten, um völkische Bilder zu schaffen, Märchen zu spinnen, um Menschen Identifikationsflächen im heimatlichen Mäntelchen zu bieten. „Damals haben Forscher Typen konstruiert und dann verkürzt zusammengefasst zur ,reinen‘ Tracht, zur Urtracht“, sagt Pallestrang, „eine wissenschaftliche Kreation, originaler als das Original.“ Eine Romantisierung des ländlichen Lebens. Sommerfrischler im Salzkammergut etwa sollen vor hundert Jahren enttäuscht gewesen sein, als sie die Einheimischen entgegen aller Erwartungen nicht in Tracht gekleidet vorfanden.

Das Bild zur typischen Tracht, das man zum alpinen Raum landläufig im Kopf hat, ist also eine Kunstfigur. Selbst frühe Skizzen, die Wissenschaftler heute (wie damals) analysieren, bilden nicht ganz die Realität ab: „Die wurden häufig von Kostümbildnern angefertigt.“ Die Überzeichnung liegt da nahe. Die Frage, ob eine Tracht aber nun echt oder unecht ist, stellt sich für Pallestrang aber nicht: „Trachten werden heute nun einmal so gelebt.“ Wo dabei die Wahrheit um das Kleidungsstück geblieben ist? Wer nun welchen Kreuzstich wie gesetzt, welche Farbe wie gewählt hat? Für die gelebte Geschichte ist das wohl egal.

Spurensuche. Die alte Freude an den Farben, den Mustern, den Techniken ist jedenfalls geblieben. Monica Gross Meinhart zum Beispiel spürt sie. Es ist aber nicht bloß die Vielfalt der Handwerkstechniken und Materialien, die es ihr bei Trachten angetan haben, sondern auch die Vielfalt der Bezeichnungen dafür: Hexenstich, verkehrter Smockstich oder Froschgoscherl, Kretonne oder Schillertaft. Und natürlich die winzigen Mäusezähnchen, die die Künstlerin auch ihrem selbst genähten Dirndl applizierte. Ihr eigenes Dirndl war freilich ein Ausnahmefall: Als Künstlerin hat Gross Meinhart mit Trachten nämlich weniger an deren Lebensanfang denn an deren Daseinsende als Kleidungsstück zu tun. Die gebürtige Amerikanerin mit tschechischen Wurzeln, die seit ihrem Teenageralter in Wien lebt, verarbeitet abgelegte Trachtenblusen oder Kinderdirndln zu Bildern, zu abstrakten Porträts der Trägerinnen, zu „portraces“. Ein Wortspiel aus portrait und traces, Spuren. Es sind vor allem die Lebensspuren auf Trachten und anderen Kleidungsstücken, die Gross Meinhart für ihre „portraces“ (es gibt freilich auch solche aus Männerhemden oder Kinder-T-Shirts) interessieren. Kleine Brandlöcher auf Schürzen. Eingerissene und neu (und nicht selten schlampig) vernähte Knopflöcher in Dirndlblusen. Knopfleisten, die über die Jahre mit verschiedenen Ersatzknöpfen bestückt wurden. Kittelfalten, die außen ausgebleicht sind, in ihrem Inneren aber die Originalfarbe offenbaren. Interessant sind für sie aber auch die linearen Strukturen, die sich etwa aus Biesen ergeben. Gross Meinhart wählt aus den abgelegten Stücken also jene Partien aus, die am aussagekräftigsten sind. Sie zertrennt die Kleidungsstücke, legt die Einzelteile auf ihrem alten Holzarbeitstisch neu zusammen, bevor sie sie vernäht, über Keilrahmen spannt und mit einer selbst ertüftelten Firnis versiegelt.

Gross Meinharts Lieblings-portrace ist eines aus der Serie „anonymous white portraces“ von 2013, ein Bild aus einer langärmeligen Dirndlbluse mit rotem Monogramm, die von der Urgroßtante der Spenderin stammt und über hundert Jahre alt sein muss. Detailverliebt im wahrsten Sinn streicht sie über die zusammengefügten weißen Stoffpartien, schwärmt dabei von der Schönheit handgenähter Knopflöcher und von jenen überaus filigranen Stichen, wie sie an heutigen Trachtenblusen und Dirndln nur mehr selten zu finden sind. Ihr Wissen über Trachten hat die Absolventin der Angewandten, die bereits im Pariser Atelier des Modeschöpfers Azzedine Alaïa gearbeitet hat, unter anderem aus alten Büchern, die sie im Internet findet. Mittlerweile kann Monica Gross Meinhart anhand von Sticharten oder handgeklöppelter Spitze ungefähr den Entstehungszeitraum eingrenzen. Und wird so gewissermaßen auch zur Dirndl-Detektivin.

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