Amanshausers Welt: 335 Kanada

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Kleine Geschichten über große Locations.

Der Arbeitsplatz von Dr. Andrea McCrady befindet sich in 55 Metern Höhe. Aufzugtüren öffnen sich in einen fensterlosen, niedrigen Raum. Hier steht das Peace Tower Carillon, Baujahr 1927 bei Gillett und Johnston, Bellfounders and Clockmakers, Croydon, England – ein mechanisches Glockenspiel. Sieht aus wie eine Orgel, funktioniert wie ein Klavier, wurde vor einem halben Jahrtausend in Flandern erfunden. Irgendwie erinnert das Ding an ein Walfischskelett: 53 Hebeltasten treiben die Turmglocken des Parlaments, die zwischen 4,5 Kilo und fast elf Tonnen wiegen, an. Keine Elektronik, kein Computer.

McCrady arbeitete früher als Ärztin. Spät im Leben folgte sie ihrer Berufung, der Musik. Heute bekleidet sie die wichtigste staatliche Glockenspielstelle als der (oder die?) Dominion Carillonneur des zweitgrößten Landes der Welt.

Nach vier Männern arbeitet erstmals eine Frau in dieser Position. „Bin ja noch dazu ein Yankee“, spielt sie auf ihre Herkunft an, „die Stelle war 2008 ausgeschrieben, aber sie fanden keine qualifizierten kanadischen Kandidaten. Später hab ich hier um die Staatsbürgerschaft angesucht.“ Mrs. McCrady setzt sich auf die Holzbank, atmet durch und legt los. Sie spielt mit leicht geöffneten Fäusten, die größeren Glocken betätigt sie mit den Füßen. „Your feet are just big hands“, hat sie vorher erklärt, und „I am a drummer without the sticks.“ Ihre 20-minütige Show, einer von über 200 Auftritten pro Jahr, beginnt mit „O Canada“ und endet mit „God Save the Queen“. Bald ist McCrady völlig versunken.

Draußen, unten auf dem Parliament Hill, heben die Touristen im Nieselregen ihre Köpfe. Kaum einer ahnt, dass da kein soundverstärktes Tonband läuft, sondern live gespielt wird. Umgekehrt hört McCrady in ihrem Kobel wenig, denn innen hallen nur knochenartige, mechanische, blecherne Geräusche.

„Ich spiele alles, von Renaissancemusik bis Hip-Hop“, erzählt sie, nachdem sie ihr Programm durchhat. „Wenn Duke Ellington Geburtstag hat, spiele ich eben Duke. Aber am liebsten sind mir Kompositionen, die eigens für das Carillon geschrieben wurden.“

Wichtig sei die Konzentration, eine falsch geschlagene Taste ist nicht korrigierbar. „Ich spiele vom Blatt, immer. Wäre doch das Allerletzte, die Hymne zu verpatzen!“ Ein Merkzettel klebt an der Wand: „Did you remember? Turn on the clock? Close the shutters? Turn off the sound? Adjust the heat? Turn off the light? Good for you!“

Ort

Andrea McCrady ist Dominion Carillonneur im House of Commons, Parliament Hill, Peace Tower, Ottawa, Kanada.

Tipp

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