Amanshausers Welt: 387 Frankreich

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Kleine Geschichten über große Locations.

Kirchen besuche ich regelmäßig, weil mich meine – im Übrigen völlig ungläubige – Großmutter oft gefragt hat, welche Kirchen ich hier oder dort besucht habe. Sie hielt das für wichtig. Irgendwann gewöhnte ich mir an, länger als der Durchschnittsverbraucher in Kirchen zu bleiben. In der Pariser Kirche La Madeleine, die aussieht wie ein römischer Tempel, kam ich neben einem deutschen Ehepaar zu stehen. Sie sahen die Kirchenmerkblättchen durch. „Englisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch, Japanisch, . . . – Deutsch gar nicht . . .“, klagte der Ehemann und atmete tief aus, „die wollen uns einfach nicht!“

Schwachsinn. An seinem Arm baumelte ein Einkaufssackerl der Galeries Lafayette, da er irgendeinen hellblauen Schwachsinn gekauft hatte. Nun schüttelte auch seine Frau verärgert den Kopf, tatsächlich keine deutschen Merkblättchen. „Wieso haben sie zum Beispiel Portugiesisch?“, fragte er. „Wer spricht denn das? Während Deutsch nicht nur bei uns gesprochen wird . . ., auch in der Schweiz . . . und in Öst-Reich . . . und in Belgien eine Minderheit . . .“ Er nahm kein anderes Merkblatt, und so erfuhr er nie, dass hier 1992 die Totenmesse für Marlene Dietrich stattgefunden hatte. Ich heftete mich an ihre Fersen, um nichts von ihrem Gespräch zu verpassen. Beim Opferstock läutete das Handy des Mannes, er zog es schwungvoll aus der Hosentasche und gab unterdrückte Geräusche gespielter Wohligkeit von sich. „Ja, jaa, jaaaa!“ Es klang wie im Amateurporno, dabei wollte er ja leise sein, um die Würde der Madeleine nicht zu stören. Nachdem er untermauert hatte, wie blendend sich der Verlauf seiner Reise entwickelte, berichtete er dem oder der Anrufenden, heute bereits den Triumphbogen besucht zu haben und über „die“ Champs-Élysées „gelaufen“ zu sein – ich konnte nicht anders, als auf die antideutschen Ressentiments meiner Jugend zurückzugreifen – dazu sagte er durchgehend „ich“ und nicht „wir“.

Seine Frau spitzte den Mund, als wolle sie ihr eigenes Ich in sein Telefonat hineinreklamieren, doch nahe der Statue der Maria Magdalena hielt er sie mit ausgestrecktem Arm auf Distanz, wodurch sein Lafayette-Sackerl hin- und herbaumelte. Ich wurde nachdenklich. Von einer deutschen Minderheit in Belgien hatte ich noch nie gehört. Meinte er Dänemark? Ich glaubte ihm vorläufig. Und wieder einmal wusste ich, wieso meine Großmutter gesagt hatte, ich solle Kirchen besuchen.

Ort

Merkblättchen. La Madeleine, Kirche aus 1842, Place de la Madeleine, 75008 Paris, Frankreich.

Der Autor war privat unterwegs.

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