Amanshausers Welt: 458 England

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Kleine Geschichten über große Locations.

Ein österreichischer Manager saß mir gegenüber. Ich freute mich, ihn mitten in diesem unübersichtlichen Chaos des Pubs mit dem schönen Namen The Ladbroke Arms getroffen zu haben. Holger hatte einen Glatzkopf und trug eine John-Lennon-Brille. Wir sprachen nicht einfach nur, wir brüllten, denn im Hinterzimmer schnitt eine Liveband offenbar mit einer Kreissäge Betonblöcke auseinander. Holger brüllte mir seine Erfahrungen aus London ins Ohr. Er fühle sich verloren in London, brüllte er und deutete auf sein viertes Pint. Normalerweise trinke er hier fünf Pints, deutlich weniger, wie er anmerkte, als der durchschnittliche Brite.

Türschnallen, Kellner, U-Bahnstationen, alles sei hier so furchtbar nice! Für ­Holger war das Wort „nice“ nicht in den USA, sondern in London definiert ­worden. Schon sein erster Abend im ­The Ladbroke Arms vor einigen Wochen hatte ihn schwer erschüttert. Irgendwann nach Mitternacht saß an seinem Tisch eine Frau auf dem Schoß eines hässlichen Mannes und sagte pausenlos, sie wolle mit diesem Mann ins Bett gehen, wofür sie jedoch viel schmutzigere Ausdrücke gebrauchte. Der lächelte nur dabei. Eine andere Frau, sicher über 70, holte Gras aus ihrer Handtasche und drehte sich einen Joint. Wieder ein ­anderer Mann wollte Holger unbedingt ein Paar Schuhe falscher Größe verkaufen.

Holger hatte kürzlich eine Japanerin kennengelernt, über deren Qualitäten er sinnierte. Eine fürchterliche Frau, sagte er, aber ein super Mädel. Ihr erstes Date hatte während eines Quentin-Tarantino-Films stattgefunden. Während auf der Leinwand ein Gemetzel stattfand, dem er nicht recht folgen konnte, fragte er sich, ob ein Film der richtige Ort für ein erstes Date war. Irgendwann fanden die beiden heraus, dass sie die einzigen Menschen im Kinosaal waren. Von da an ging es leichter. Die Japanerin, erzählte Holger brüllend, designte Stoffe. Sie suchte gern verschiedene Museen auf in Städten wie Kairo, Delhi oder Xi’an. Ihr kamen die Ideen für ihre Stoffe, wenn sie durch Museen ­spazierte. Außerhalb von Museen hatte sie kaum je brauchbare Einfälle. Er wolle sie wiedertreffen, brüllte Holger, denn sie war lustig. Sie würde allerdings niemals die Mutter seiner zukünftigen Kinder sein können, brüllte er. Er zeigte mir ein Foto von ihr. Sie war extrem hübsch. Ihn spreche ihr Aussehen leider nicht an, brüllte er. Schade, brüllte ich zurück. Holger bestellte sein sechstes Pint.

Ort

Brautschau. The Ladbroke Arms, 54 Ladbroke Road, London, England.

Martin Amanshauser, „Typisch Welt, 111 Geschichten zum weiter Reisen“, Picus Verlag.

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