Amanshausers Album: Ampelterror am Prenzlauer Berg

Achtung. Bei Rot über die Straße  gehen: Das halten  Fußgänger zwischen Saigon und Berlin sehr unterschiedlich  von locker bis überkorrekt.
Achtung. Bei Rot über die Straße gehen: Das halten Fußgänger zwischen Saigon und Berlin sehr unterschiedlich von locker bis überkorrekt. Imago
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46 - Darf man als Fußgänger eigentlich bei Rot gehen? Natürlich nicht. Aber mir gefällt es doch.

Mein intensivstes Verkehrserlebnis hatte ich in Saigon Ende der
1990er-Jahre. Autos gab es damals kaum. Wer ein bisschen Geld hatte, fuhr mit Motorrollern, kleinen Motorrädern oder motorisierten Dreirädern durch die Innenstadt. Als ich erstmals das Hotel verließ, schüchterte mich der wilde, ungezügelte Verkehr total ein. Wie würde ich je die Straße überqueren können? Die Einheimischen querten, ohne zu schauen. Sie gingen einfach.

Rot und Grün zählten sowieso null für sie. Als ich beobachtete, wie ein Blinder mit Stock durch den irren Verkehr tappte, begriff ich: Die Motorisierten nahmen Rücksicht! Sie berechneten Fußgänger ein, diese hielten dafür ihre Geschwindigkeit konstant und vermieden unberechenbare Bewegungen. Von da an bewegte auch ich mich traumwandlerisch durch den Wunderverkehr des alten Asien.

Das bürgerliche Gegenstück ist Berlin. Besonders am Prenzlauer Berg herrscht elterlicher Ampelterror. Er wird von beflissenen Jungmüttern und Jungvätern mit ihrem allerliebst rosa und hellblau ausstaffierten Nachwuchs ausgeübt. Sobald es jemand wagt, bei roten Fußgängerampeln die Straße zu überqueren, wird er von den brav auf Grün wartenden Eltern heruntergeputzt. Die lupenrein hochmoralische Argumentation: Wer bei Rot mit schlechtem Beispiel vorangeht, produziere ja quasi die Kinderleichen der Zukunft. Solche Eltern sehen in alltagstotalitärer Anmaßung die Erwachsenenwelt als ihre Aufzuchtsstaffage, in ihrer schönen, neuen Welt darf absolut nichts Unkorrektes mehr vorkommen.

Wien ist neuerdings von dieser Rotlicht-Stehpest angekränkelt. Alle warten immer so brav. Sollen sie. Ich erziehe meine Kinder anders. In ihrer Anwesenheit vermeide ich das Rotgehen, doch sie sollen wissen, dass es in dieser Welt Erwachsene gibt, die das tun. Es gehört zur Realität einer Stadt. Für Kinder ist das verboten, und sie verstehen auch, wieso: weil ihnen noch der Überblick fehlt.
Kürzlich war ich in Malaga. Alle gingen bei Rot. Es war so befreiend. Ich dachte an den Zauber Saigons. Wir brauchen wieder etwas mehr Freiheit.

www.amanshauser.at

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