New Yorker Broadway: Hupkonzert und Candy

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Der New Yorker Broadway aus einem anfänglich skeptischen Blickwinkel oder: Wie aus einem Musical-Saulus ein Musical-Paulus wurde.

Kitschig. Passanten  lassen sich mit drei  lebenden Freiheitsstatuen auf dem Times Square fotografieren.
Kitschig. Passanten lassen sich mit drei lebenden Freiheitsstatuen auf dem Times Square fotografieren.(c) Martin Amanshauser
Unerschrocken. Auf einer Verkehrsinsel spielt ein Cowgirl im kurzen US-Flaggenhöschen E-Gitarre.
Unerschrocken. Auf einer Verkehrsinsel spielt ein Cowgirl im kurzen US-Flaggenhöschen E-Gitarre.(c) Martin Amanshauser

Die Billboards am Times Square unterliegen bekanntlich dem Denkmalschutz. Doch die spektakulärste Werbung aller Zeiten wäre heute nicht mehr denkbar. Zwischen 1941 und 1966 blies der Camel-Man unter dem Slogan „I’d walk a mile for a Camel“ alle vier Sekunden einen Rauchring über den Platz. Insgesamt ergab das einen Ausstoß von 200 Millionen Rauchringen. Zigarettenwerbung ist inzwischen ausgeschlossen, aber der bunte, mehreckige Platz, der in den Siebzigerjahren als Brennpunkt urbaner Gefahren galt, ist ein Magnet für die Massen. Mittlerweile drängen auch gierige Big Player ins Herz touristischer Begierde, Toys‘R‘us etwa mit seinem Indoor-Riesenrad zieht magnetisch Familien in seinen Schlund. Draußen hupen die dunkelgelben Taxis, als wollten sie einander in Töne zerstäuben, die Passanten lassen sich mit Mickey Maus fotografieren oder mit Sponge Bob oder mit drei lebendigen Statues of Liberty. Auf einer Verkehrsinsel spielt, allzeit bereit zum privaten Shooting, ein Cowgirl im kurzen US-Flaggenhöschen ihre E-Gitarre.

Abends geht der Trubel weiter. Aus der Schachbrettstruktur des Times Square, in der der Broadway als schräges Element liegt, strömen die Massen zu den Theaterhäusern und in den Norden zum Central Park.  Dort oben fungiert der Broadway als Zubringer zur Lincoln Plaza mit Kulturstätten wie der Metropolitan Opera, hi­nauf bis zum Delikatess-Supermark Zabar’s, wo man mit Glück angeblich Woody Allen trifft. In Upper Westside hat der Broadway eine andere Struktur, ist offen, frei und breit. Ganz im Gegensatz zur quirligen Midtown, wo zwischen der 7th Avenue mit ihren Ansätzen zur Hochkultur und der berüchtigten 8th Avenue mit den indischen Sexshops die Theaterkultur vorherrscht.

Der Großteil der Bühnen gehört zum Reich der Shuberts, dreier Brüder, Levi (später Lee), Samuel (Sam) und Jacob, Söhne litauischer Einwanderer aus dem 19. Jahrhundert, die den Unterhaltungsmarkt Midtown mit dem Bau mehrerer spektakulärer Spielstätten gründeten. Sam Shubert starb mit 26 Jahren bei einem Zugsunglück, Lee und Jacob Shubert wetteiferten – andere sagen, bekriegten sich – im Bau immer eleganterer, größerer Theater. Lee galt als beinharter Businessmann, er landete den Coup, die berühmteste Schauspielerin der Epoche, Sarah Bernhardt, nach Amerika zurückzubringen, wo sie vorher nur schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Den Shuberts gehörte bald das größte Theaterimperium des 20. Jahrhunderts, zusammengefasst in The Shubert Organisation. Der Architekt der Gebäude war meist Herbert J. Krapp. Am liebsten errichtete er Säle mit breitem Parkett („orchestra“) und einer steilen Galerie („mezzanine“), die bis heute funktionieren.

Musical, nein danke? Mir widerstrebte das Genre an sich, mein Vorurteil besagte, dass es sich nur um blanken, dummen Kitsch handelt. So pflege ich die Überzeugung, dass die Welt (und jede Party) ohne die gellenden Ohrwürmer der schwedischen Siebzigerjahreband Abba definitiv eine bessere wäre. Meine Abba-Abneigung war in New York das Motiv, ins kalte Wasser zu springen und im Broadhurst Theatre (1917/1156 Plätze) zu testen, wie sich das Abba-Musical schlägt. Zu meiner Verblüffung bestand das fremde Genre den Test spektakulär. Die britische Autorin Catherine Johnson hat ein dramaturgisches Konzept mit Hand und Fuß erfunden, in das sich wie durch ein Wunder sämtliche Hits der Megaband wie angegossen schmiegen. Dabei hat die Storyline nichts mit den Songs zu tun! Es geht um eine alleinstehende Hippie-Aussteigerin auf einer griechischen Insel. Ihre Tochter lädt zu ihrer Hochzeit die drei Exfreunde der Mutter ein, um endlich herauszufinden, welcher der drei ihr Vater ist. Die Texte der Songs treiben aus irgendeinem zauberhaften Missverständnis die Handlung voran. Wahrscheinlich gibt es kein besseres Jukebox-Musical als jenes, das Abba nicht selbst geschrieben haben.

Hupkonzert und Frischluft. Wenn ein Geräusch die Midtown Manhattans kennzeichnet, ist es das Hupen, ein lockeres, nicht insistierendes Hupkonzert in allen Klangschattierungen. Es klingt, als hätte es Schönberg komponiert. Es dringt durch die Ritzen in die Häuser, findet seinen Weg in jeden Deli, in jeden Supermarkt, in jedes Hotelzimmer. Nur in den Theatersälen hört es keiner. Wer das Hupen ausschalten will, muss in eine Broadway-Aufführung. Durch die Theater mit ihren steilen Stiegen zu den Logenplätzen weht ein kühler Wind. Oder soll man es Frischluft nennen? Jedenfalls zieht es ordentlich. Manche Amerikaner sitzen auch in der kalten Jahreszeit in kurzen Hosen und T-Shirt im flachen Orchestra oder auf dem noch frostigeren Mezzanine. Die Europäer sitzen kopfschüttelnd in ihren Mänteln und bleiben auf ihre komplizierte Art overdressed.

New Yorks Theaterwelt geriert sich derartig uneuropäisch, dass der Bildungsbürger mit der hohen Augenbraue, der von der Überzeugung ausgeht, in den USA herrsche ohnehin nur Unkultur, besser gleich draußen bleibt. Dort draußen, auf den Gehsteigen Midtowns, stehen die Musicalgäste an, auch wieder uneuropäisch, ohne erkennbares Murren. Die Erfahrung lehrt, dass solche Schlangen sich rasch auflösen. Die Logistik der Füllung eines New Yorker Theaters ist unübertroffen: Wie bringt man zweitausend Menschen ohne Verzögerung in einen Veranstaltungssaal?

In der Pause werden „wine, water, candy“ verkauft und das Schlangenspiel setzt sich fort: Nicht nur vor den Restrooms der Damen, auch vor jenen der Herren bilden sich wieder Staus. Niemand jammert, wenn er zehn Minuten warten muss und ein Glas Sekt versäumt – Geduld ist in Amerika normal. Außerdem waschen sich die Betroffenen vor dem Hinausgehen ausführlicher als notwendig die Hände, wodurch Partikularschlangen entstehen, die ebenfalls in aller Seelenruhe akzeptiert werden. Es kommt zu keinem Handgemenge, niemand gibt auf, keiner läuft Amok. Die Billeteure tragen ihren Teil zur Ordnung bei, argumentieren mit den feuerpolizeilichen Bestimmungen, fordern die „folks“ auf, „not to block the way“, und das Volk gehorcht.

Wilder Knast, Großer Fisch. Im Ambassador Theatre (1921/1155 Plätze) läuft „Chicago“, einer der unangefochtenen Broadway-Klassiker. Es geht auf das gleichnamige Stück der Reporterin Maurine Dallas Watkins aus dem Jahr 1926 zurück und beschreibt die mörderischen Machenschaften im zeitgenössischen Chicago und im Chicagoer Frauengefängnis. Die Bearbeitung von Kander und Ebb, die zwischen 1975 und 1977 mit fast tausend Aufführungen zu einem Erfolg wurde, hat sich seit der Wiederaufnahme 1996 durchgehend gehalten, eine Menge der begehrten Tony und Drama Desk Awards abgeräumt und ist die drittlängste Broadway-Produktion. Ganz am „Phantom der Oper“ ist „Chicago“ noch nicht dran, doch das energiesprühende Spiel mit hoher athletischer Kompetenz erringt allmählich Legendenstatus. Es ist ein Lehrstück mit moralischen Anklängen und sozialem Anliegen, Bertolt Brecht schaut wohlwollend herab, wenn Velma Kelly das Publikum nach der Pause, sich in luftiger Höhe lasziv um die Stufen einer Leiter schwingend, begrüßt mit: „Welcome back suckers!“ Was dieses Feuerwerk letztlich rüberbringen will, außer, dass Männer ihre Frauen betrügen, auch Frauen fähig sind zu Mord, dass Anwälte korrupt und Medien sensationslüstern – das alles wird eindringlich, teilweise mit sämtlichen theatralischen Mitteln gleichzeitig dargestellt –, ist nicht ganz klar. Dass Verbrechen sich lohnt? Dass die Vereinigten Staaten ruchlos und gefährlich sind? Dass der Mensch ein Gauner sein kann? Wenn auch bei „Chicago“ irgendwie der Brecht’sche Erkenntnisgewinn fehlt, muss man zugeben, die Broadway-Unterhaltung funktioniert grandios.

Ganz anders verläuft „Big Fish“ im Neil-Simon-Theatre (1927/1467 Plätze), eine tragische Familienkomödie mit tausenden Narzissen nach einem Buch von David Wallace (1998). Was steckt hinter den wild ausgeschmückten Lebensgeschichten eines redseligen Vaters, wenn der Sohn, erwachsen geworden, sie kritisch hinterfragt? Hier spielt der Broadway alle seine Stärken aus. Das Publikum kramt die Taschentücher hervor, denn es geht um Liebe, Krankheit, Verlust, um die große Geste, eine Märchenwelt. Am Ende würde man vielleicht sogar abstreiten, dass das meiste gesungen war. Darin besteht meine eigentliche Erfahrung: Ich habe begonnen, an das Genre zu glauben. Musical mag definitionsgemäß nicht ohne Kitsch auskommen, aber eines ist es rund um den Times Square ganz sicher: ein authentisches Volks-Theater.

Tipps

Billig. Midtown Souvenir. Die ­8th Avenue, einst ein Rotlichtviertel, hat sich unter Bürgermeister Giuliani durch massiven Druck „gebessert”. Die billigsten T-Shirts gibt es hier, die scheußlichsten Aschenbecher, die unglaublichsten Typen tummeln sich in einer Art Menschen-Begegnungszone.

Legendär. Zabar‘s Supermarkt auf der Upper Westside, an der Ecke von Broadway und 80th Street, gute Importe, gute Eigenprodukte; wurde auch negativ berühmt durch seinen Lobstersalat, in dem kein Lobster drin ist – aber alle lieben ihn. Küchenutensilien im 1. Stock, großes Merchandising (Tassen, Einkaufstaschen), betreibt auch ein kleines Café mit warmen Suppen und Bagels am Eck. 2245 Broadway, zabars.com

Praktisch. Tickets der Broadway Collection, eines Zusammenschlusses von Broadway-Produzenten, erhältlich bei broadwaycollection.com. Deutschsprachige Infos bei Lieb Management, broadway@lieb-management.de
City Package mit Übernachtung (Skyline Hotel, Holiday Inn Midtown, Westin Times Square) und Eintrittskarten nach Wahl, dazu Flugangebote bei Amerikareisen, Buchberggasse 34, 3400 Klosterneuburg, 02243/25994, amerikareisen.at
Große Auswahl an Musicaltickets, Hotels und Packages weltweit bei Dertour, 0662/21 50 60 www.dertour.at

Ubiquitär. „I love NY“-T-Shirts und -Kapperln trägt man weltweit mit Stolz.

Ein Must: Die „Met“ aus dem Jahr 1880 gehört zu den größten Opern der Welt. Metropolitan Opera, ­ 10 Lincoln Center Plaza, New York, USA. metoperafamily.org

Shubert Brothers. The Shubert Organisation betreibt das Ambassador, das Ethel Barrymore, das Belasco, das Booth, das Broadhurst, das Broadway, das Cort, das John Golden, das Imperial, das Bernard B. Jacobs, das Longacre, das Lyceum, das Majestic, das Music Box, das Neil Simon, das Gerald Schoenfeld, das Shubert selbst und das Winter Garden Theatre, dazu kommt noch das Little Shubert, das zu Off-Broadway gehört.
shubertorganization.com

Der Autor reiste auf Einladung von broadwaycollection.com.

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