Ladakh: Zeitensprung

(c) Lene Wolny
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Es gibt eine Welt hinter der Welt: Ladakh, die Welt der unsterblichen Seele im Himalaya. Wer sie findet, läuft Gefahr, plötzlich ewig Zeit zu haben.

Die Hufeisen für die Packpferde werden ausgewählt
Die Hufeisen für die Packpferde werden ausgewählt(c) Lene Wolny
Zwanzig Tage dauert es, Ladakh auf dem „Großen Zanskar Trek“ von Nordindien aus zu erreichen.
Zwanzig Tage dauert es, Ladakh auf dem „Großen Zanskar Trek“ von Nordindien aus zu erreichen. (c) Lene Wolny
(c) Lene Wolny

Mitten im Wald von Manali steht der Hadimba-Tempel, beschützt von mammutbaumgroßen Koniferen. Heute tummeln sich hunderte Besucher auf der gepflasterten Tempellichtung – schöne Inderinnen in bunten Saris, Männer und Jugendliche in westlicher Kleidung und Touristen in Shorts und Sandalen. Am Rand der Lichtung blubbert Linsensoße in mannsgroßen Kupferkesseln, in anderen dampft Reis.

Es ist ein besonderer Tag: Der Göttin Hadimba wird heute ein Huhn geopfert, um sie über die Zukunft zu befragen. „Es hat viel geregnet in letzter Zeit. Die Menschen möchten wissen, was sie tun sollen, damit der Regen aufhört“, sagt Reiseleiter und Guide Karma Lama. Dann ist es soweit. Vor dem fünfhundert Jahre alten Tempel aus geschnitztem Holz und Lehmziegeln versammeln sich die Hindu-Priester. Einer von ihnen beginnt, wie in Trance zu singen und sich zu wiegen. Göttin Hadimba wird durch ihn sprechen, flüstert Karma. Hühnerblut fließt, und auf einmal beginnt das Medium lautstark zu schreien und zu schimpfen. Fragende Blicke gehen an Karma, der den Kopf wiegt und schließlich meint: „Die Göttin sagt, die Menschen sind zu gierig geworden. Das verändert das Wetter.“

Ohne dass jemand davon Notiz nimmt, verlassen wir das Tempelfest und wandern durch den Wald zurück ins Hotel. Das Wetter ist auch den Touristen nicht gnädig. Am nächsten Morgen regnet es, und dank einer Mure beginnt die Weiterreise in den Himalaya mit zwölf Stunden Wartezeit vor dem 4000 Meter hohen Rohtang Pass. Der Übergang ist immer wieder wegen Muren und Ausschwemmungen gesperrt. Ein Tunnel wird gebaut. Aber es wird noch etwa zwanzig Jahre dauern, bis sich die lustig bunten indischen Tata-Laster nicht mehr über den Berg plagen müssen. Allerdings wird so lange der Leh-Manali-Highway, der Ladakh mit Nordwestindien verbindet, wohl weiterhin zu den gefährlichsten Straßen der Welt zählen.
Wir wollen ebenfalls in die ladakhische Hauptstadt Leh, aber nicht mit dem Auto, sondern zu Fuß. Es dauert etwa zwanzig Tage, den nordindischen Himalaja auf der Trekkingroute „Großer Zanskar Trek“ von der regenreichen Südseite bis ins trockene Industal zu durchqueren.

Tunig für die Packpferde. Am frühen Abend erreicht der staubige Jeep Darcha das erste Camp. Blaue Zelte leuchten einladend in der Abendsonne. Auf der Wiese neben dem Fluss hocken zwei Männer vor einer sorgfältig ausgebreiteten Hufeisensammlung. Das letzte Tuning für die Packpferde. Mit breitem Grinsen tauchen Koch Dill-Dai und Helfer Pemba aus dem Küchenzelt auf, jenem Ort, aus dem sich die nächsten drei Wochen auf wundersame Weise Reis, Gemüse, Linsen, Eierspeis, Nudeln, Pommes, Pizza, Kuchen, Momos und viele Nachmittagssuppen materialisieren werden. Kaum ist das Gepäck in den Zelten verstaut, steht das Essen im von Kerzen erhellten Dining tent bereit. Den anschließenden Weg zurück in den warmen Daunenschlafsack beleuchten aberhunderte von Sternen. Das weiße Band der Milchstraße spannt sich quer über den Himmel. Kein künstliches Licht versperrt den Blick ins All. Neben den Zelten schnaubt ab und zu schläfrig ein Pferd.

Höhenkrank. „Good Morning Sir! Good Morning Madam!“ Ein blendend gelaunter Pemba serviert den Aufweck-Tee ans Zelt. Katzenwäsche am Fluss, kurzer Spaziergang zum Klozelt, ein paar Morgenstimmungsfotos und gemütlich frühstücken: heißen Porridge, Toast, Marmelade, Eier, Kaffee. Das Leben kann so einfach sein. Den ganzen Tag über nichts zu tun zu haben als einen Schritt vor den anderen setzen. Eine wackelige Steinbrücke überqueren, die niemand statisch berechnet hat, aber über die sich auch vollbepackte Pferde wagen. Pfaden folgen, denen seit Jahrhunderten buddhistische Pilger auf dem Weg zu den großen Klöstern Zanskars gefolgt sind.

Schmetterlinge landen schwankend auf den himmelblauen Blüten des Himalaja-Mohns. Ein tibetisches Schneehuhn stolziert durch eine Wiese aus rosa Pfeifenputzer-Knöterich. Weiter oben kreisen Raben über den Felsen. Die Luft wird dünner, der Schritt langsamer, und plötzlich bleibt Werner aus Wien stehen. „Du bist ja ganz weiß im Gesicht“, sagt Guide Karma besorgt. „Ich hab‘ Kopfweh, und mir ist schlecht“, antwortet Werner zögernd. Muss wohl die Höhe sein, ist sich die Gruppe einig. Nach einer längeren Trinkpause schultert Karma Werners Rucksack und stapft langsam voraus ins Camp. Werners Frau Birgit stützt ihren zitternden Mann, und nach einer zweistündigen Ewigkeit sind alle sicher, aber besorgt im Lager angekommen. Der nächste Tag wird hart. Es steht die Überquerung des Himalaya-Hauptkammes über den 5400 Meter hohen Shingo La Pass bevor. Beim Abendessen redet Karma mit Werner und der Gruppe: „Ich schlage vor, wir bleiben morgen hier. Ein Rasttag wird dir dabei helfen, dich zu akklimatisieren. Ich glaube, dass du den Pass dann schaffst. Und wenn du dich übermorgen früh noch immer schlecht fühlst, kannst du auch reiten.“ Alle sind zufrieden mit dieser Entscheidung. Am übernächsten Morgen geht es Werner viel besser, und zu Mittag steht er gemeinsam mit den anderen jubelnd auf der Passhöhe, die mit Hunderten bunten Gebetsfahnen geschmückt ist.

Über Altschnee und dann über Yakweiden geht es hinunter ins malerische Lugnak-Tal, Edelweiß und Himmelsherold säumen den Weg. Karma beginnt, von sich zu erzählen: „Wir Buddhisten glauben an die Kontinuität des Geistes“, erklärt uns der aus Nepal stammende, in Ladakh geborene Sherpa. „Der Körper stirbt irgendwann, doch die Seele existiert weiter. Deshalb ist es wichtig, ein liebevolles und achtsames Dasein zu pflegen. Hass, Gier und Achtlosigkeit machen die Seele traurig.“ Der Tod ist für Buddhisten Teil des Lebens und die Begleitung der Seele darüber hinaus extrem wichtig. Es gibt sogar gesellschaftlich anerkannte Codes, wie man mit den Seelen Verstorbener kommuniziert. Mahlzeiten etwa werden immer mit zum Teller hin geneigtem Löffel ausgegeben. Nur beim Totenmahl wird dem Toten selbst das Essen mit nach außen gerichtetem Löffel auf den Teller geschöpft. Damit soll die Seele des Toten, die selbstverständlich noch anwesend ist, darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie nicht mehr zu den Lebenden gehört. 

Einige Tage später kommen Karma kurz nach der Passhöhe des Hanuma La ein rotgekleideter Mönch, ein kleiner Bub und ein prächtig geschmücktes Pferd entgegen. Ein bisschen Smalltalk über das Woher und Wohin, dann bittet der Mönch um einen Schluck Wasser. Die Jause wird aufgeteilt, der Bub mit Schokolade vollgestopft, Fotos werden gemacht. Wir können es kaum glauben, als wir später erfahren, dass wir dem Abt des Klosters Lingshed begegnet sind. „Ihr in Europa habt Geld, aber keine Zeit. Wir im Himalaja haben Zeit, aber kein Geld“, erklärt Karma lächelnd den Mentalitätsunterschied.
Auf den ersten Blick mag die materielle Armut der Menschen im Himalaja bedauernswert scheinen. In Wirklichkeit macht der Luxus, Zeit zum Nachdenken zu haben, die Menschen innerlich reich. Achtsamkeit sich selbst und anderen gegenüber führen zu einem tiefen Frieden mit sich und der Welt. Das Leben ist hart, aber einfach. Auf eine Erledigung folgt eine Pause und erst dann die nächste Erledigung. Multitasking und Deadlines sind völlig unbekannte Konzepte, auch für den weltgewandten Guide Karma.

Luft schnappen. Nach drei Wochen, sechs Pässen und stundenlangen Gesprächen spuckt uns das Gebirge im Industal aus. Das letzte Stück flussaufwärts nach Leh geht es per Jeep. Kostbare Pashmina-Schals, heiße Duschen und duftende Lamm-Curries – die ladakhische Hauptstadt wirkt auf Weitwanderer wie der Gipfel der menschlichen Zivilisation. Die Lungen sind kräftiger, die Beine auch, dafür sind die Hüften schmaler und der Horizont weiter.
Am letzten Tag der Reise spaziert die Bande an nach Luft schnappenden Neuankömmlingen vorbei zum hoch über der Stadt thronenden alten Königspalast. Im Tempel drücken wir silbrige Zwei-Rupien Münzen in die rußige Lehmwand, die – wie bei allen, die reinen Herzens sind – auf geheimnisvolle Weise kleben bleiben. Und vor der mit Butterlampen beleuchteten Götterstatue der Grünen Tara knie ich nieder und bete darum, ein bisschen von der Gelassenheit, die sich in den letzten Wochen in mir breitgemacht hat, mit nach Hause nehmen zu können.

Tipp

Aussagekräftig. Indische Rupienmünzen zeigen nicht nur in Zahlen, sondern auch mit Gesten, wie viel sie wert sind. Das hilft den über 50 Prozent Analphabeten. Auf größeren Scheinen steht in den 15 offiziellen Sprachen und Schriften Indiens, um welchen Betrag es sich handelt.

Verführerisch. Die Himalaja-Überquerung auf dem „Großen Zanskar Trek“ dauert etwa zwanzig Tage. Der Weg ist weit, hoch und fernab von Menschen, Stromnetzen und Telefonen. Unterwegs gibt es nur eine Stadt, man muss deshalb Verpflegung für jeweils zehn Tage mitnehmen. Der Trekkingguide Karma Lama ist mit einer Österreicherin verheiratet und bietet geführte Wanderungen in Ladakh an: karmareisen.at Auch die Wiener Alpenvereinssektion Edelweiss veranstaltet in diesem Sommer zwei Trekkings in Ladakh: weltbewegend.at

Reinigend. Der intensive Geruch von Wacholder und Golden Leaf durchwabert jeden buddhistischen Tempel und viele Häuser in Ladakh. Geräuchert wird früh am Morgen, um den Raum von schlechten Gedanken und Energien zu reinigen. Praktisch zum Mit-nach-Hause-nehmen sind fertige Räucherstäbchen mit klingenden Namen wie Golden Buddha Incense.

Bereichernd. In der buddhistischen Gedankenwelt entsteht alles Unglück aus den drei Geistesgiften Gier (etwas wollen, das in der Realität nicht da ist), Hass (etwas nicht wollen, das in der Realität da ist) und Verblendung (fehlende Klarheit bei der Wahrnehmung der Realität). Gelingt es, frei von diesen Emotionen zu werden, kann man ein glückliches, liebevolles Dasein pflegen. Bestes Beispiel: Seine Heiligkeit, der Dalai Lama.

Göttlich. Buddhistische Gebetsfahnen werden vorzugsweise auf Pässen oder an heiligen Plätzen aufgehängt, Hauptsache möglichst weit oben. Von dort trägt der Wind die Wünsche der Menschen besonders schnell zu den Göttern. Die Farben Blau, Grün, Rot, Gelb, Weiß stehen für die Elemente Wasser, Holz, Feuer, Erde und Metall, aus denen die Welt besteht.

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