Reykjavík: Klang der Erde

Harpa concert hall is pictured in Reykjavik
Harpa concert hall is pictured in Reykjavik(c) REUTERS (STOYAN NENOV)
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Wer nicht schon als Teenager in mindestens einer Band spielt oder Gedichte verfasst, gilt auf Island als verdächtig. Ein Besuch in der Kulturmetropole Reykjavík.

Schöne Landschaft, schöne und freundliche Menschen: soweit die erste Kurzbeschreibung Islands. Früher, bis in die 1980er-Jahre, war die Insel ein Fliegendreck weit draußen im Atlantik. Es gab einen großen Stützpunkt der US-Airforce und Touristen, die wegen der Wasserfälle oder der Gletscherlagune Jökulsárlon kamen. Dann katapultierten Björk und ihre Sugarcubes die Insel auf die popkulturelle Weltkarte. Hippe junge Leute entdeckten das Natur-, aber auch Partyparadies voller Popmusik, Mode und Design. Es folgte der Exzess, dem der Spielfilm „101 Reykjavik“ im Jahr 2000 ein Denkmal setzte. Und dann: Bonjour Tristesse. 2008 krempelte die Finanzkrise das Land komplett um. Die drei größten Banken gingen bankrott. Fünf Jahre später tritt Reykjavíks Bürgermeister Jon Gnarr mit seinem Vorleben als Punkrock-Clown mit der Gewissheit ab, vieles wieder ins Positive gewendet zu haben.

Was hat der Crash mit der Insel und ihren 320.00 Menschen gemacht? Auf alle Fälle ist die Kreativindustrie mit Filmproduktionen, Games- und Software-Entwicklungen eine große Stütze: Sie erwirtschaftet inzwischen mehr als die Fisch- und Aluminiumindustrie. Und Musik gehört ohnehin zur Tradition. Wer mit 15 nicht in mindestens einer Band spielt oder Gedichte verfasst, gilt als verdächtig. Nicht jeder wird so berühmt wie Björk, aber auch GusGus und Sigúr Rós sind weltweit bekannt. Und natürlich Emilíana Torrini mit ihrem Nummer-eins-Hit „Jungle Drum“. Unser Streifzug durch die Nacht beginnt im Kex, im rustikalen Lokal einer Jugendherberge. Der große Star hat großen Hunger und schon bestellt: Emilíana Torrini sitzt vor einem Bier und einem Berg glänzender Spareribs. Trägt einen grau melierten Sweater mit Lederschuppen und ein gestreiftes Tuch um den Hals. Klein ist sie – und hübsch. Keine Schminke, kein Schmuck. Gerade hat sie noch gekocht, den Kleinen ins Bett gebracht und ein Taxi in die Stadt genommen. „Ich bin ein langweiliges Landei“, lacht sie.

Ihr Leben ist allerdings ziemlich spannend. Italienischer Vater, isländische Mutter, britischer Mann, Konzerte in aller Welt. Die Krise 2008 verfolgte sie von London aus. Die Musikerin versuchte in ihrem Exil ihre Schulden kleinzuhalten: Schon ein Cheeseburger auf Pump konnte wegen der Inflation dreistellige Löcher ins Konto reißen. „Aber die Krise war das Beste, was uns passieren konnte“, sagt Emilíana. Ein Reminder, ein Schuss vor den Bug. „Plötzlich war jede Sicherheit weg.“

„Björk“-Likör. Also textete sie, komponierte, landete ihren Hit und „flüchtete“ auf eine Zweijahrestour mit LayLow. Diese hatte 2008 gerade ihr drittes Soloalbum „Good Night’s Sleep“ aufgenommen. Eigentlich heißt LayLow Lovísa, hat srilankische Wurzeln, lange schwarze Haare, eine unscheinbare Brille. Und sie ist ein Musterbeispiel dafür, wie man in Island erfolgreich Musik macht: schon als Kind Klavierstunden nehmen, Bass und E-Gitarre lernen. Dass sie auch anderes kann als Country oder Folk, könnte sie gleich heute live demonstrieren, erzählt sie nebenbei. Noch eine Stunde bis zu ihrem Gastauftritt beim Konzert der Heavy-Metal-Band Sign. Also Zeit für ein Getränk – wobei wir uns schnell einig sind, dass „Björk“ selbst für einen Likör zu süß schmeckt.

Schon komisch. Die schlechten Nachrichten waren die beste PR für die Insel. In Island gibt es bis auf Erdwärme keine Rohstoffe. Blieben als Ressource die Menschen. Und weil diese noch mehr Kunst produzierten und die Preise, zumindest relativ, in den Keller rauschten, kamen immer mehr Touristen. Emilíana meint, ich soll unbedingt Siggi treffen, ihren ehemaligen Drummer, und ruft den Familienvater zu nächtlicher Stunde kurzerhand an. „Jeder ist hier immer nur einen Phone Call away.“ Gut für die Szene, dass das auch für spontane Konzerte, Proben oder Projektideen gilt.

In der koreanischen K-Bar trinken wir schicke Gurken-Martinis und essen Bohnen in Bierteig mit Ingwersoße. Auch die exotischen Zutaten sind erst mit den Touristen auf die Insel gekommen. Und die füllen die K-Bar ebenso wie das Grillmarkaðurinn mit seiner isländisch-asiatischen Fusion-Küche, wo getrockneter Fisch in grasgrüner Algentempura auf Lavasteinen gereicht wird, und als Dessert ein dampfender Vulkan mit Schokofüllung auf Sesameiskristallen. Die „Michelin“-Scouts haben es in die Tokioter U-Bahn geschafft. Aber in Island waren sie offenbar noch nicht. Der Laden ist aber auch so immer voll. Auch sonst herrscht keine Katerstimmung auf der Insel. (Abgesehen von Emilíana, die am nächsten Morgen eine Nachricht schickt: „Schlechte Idee, bei Vollmond zu trinken.“) Die Hotels sind ausgebucht, in den Cafés herrscht Hochbetrieb. Die Schaufensterpuppen der Boutiquen tragen Fummel ohne Preisschild, es gibt teures Strickzeug aus Schafwolle, und durch die kleinen Straßen mit den rot, blau, grün gestrichenen Häusern rollen dickbäuchige Landrover.

Högni Egilsson kommt zu Fuß ins Café Mokka, das 1958 eröffnete erste Kaffeehaus der Stadt. Groß, blond und bärtig ist der Sänger von GusGus, eindeutig ein Kind der Wikinger. Högni bestellt heiße Schokolade, die schon in den 1950ern auf der Karte stand und die kalt wird, während er aufzählt, was er alles so macht: Gerade schreibt er an einem Wind-Quintett, davor hat er Musik für ein Theaterstück komponiert. Seit zwei Jahren ist er der neue Star von GusGus, der Band, die das isländische Musikkonzept verkörpert: eine Art Villa Kunterbunt aus Genres und Mitgliedern. „GusGus ist die Band, in die jeder reinwill. Und wenn er drin ist, wieder raus.“ Högni war auch schon kurz draußen gewissermaßen. Manisch-depressive Störung lautete die Diagnose. Das hieß: acht Monate Klinik und „magische Momente“ mit den Bandmitgliedern, mit denen er im Krankenhauskittel neue Songs schrieb. „Ein Geschenk des Lebens“ nennt er diese Zeit, die ihm Einblick in fremde Welten gewährte. „Ich habe nach neuen Arten der Wahrnehmung gesucht, dem Schlüssel, der hinter den Dingen liegt, nach dem Klang der Erde.“ Überhaupt sei die Natur ebenso wie die Krise: „Das war eine schöpferische Zerstörung, die gezeigt hat, dass die Gesellschaft erneuerbar ist. Das elektrisiert die Kunst.“ Ein gutes Geschäft für Asmundur Jónsson, den Gründer des Labels Smekkleysa („schlechter Geschmack“) und gleichnamigen Indie-Plattenladens. Unscheinbar sieht er aus mit seinem Pulli, der Windfrisur und der leisen Stimme. Dabei ist er der Mann hinter Björk; er hat die Sugarcubes groß gemacht, die Experimental-Popper Sigur Rós, und er betreut das Elektronik-Kollektiv Múm. Aussi glaubt, dass eben das den Erfolg isländischer Musik ausmacht: sich nur auf kein Genre festlegen. Klein sein. Auf der Insel kennt jeder jeden, jeder will besser, individueller sein als seine Freunde.

Wahrzeichen der Krise. Außerdem gibt es keine Majorlabels, die ihre Künstler in massenkompatible Formen pressen. Das funktioniere auch dann, wenn die Welt da draußen zusammenbricht. „Die Krise hat uns an den Anfang zurückgeworfen: Als wir in den 1980ern unser Label gründeten, wollten wir auch nicht Teil des Systems sein. Wir waren Punk. Heute ist der Punk wieder da.“ Nicht die Musik, aber die Idee dahinter: dieses Etwas-Machen, notfalls aus dem Nichts.

Der Unterschied zu damals: Heute wird der Punk offiziell verwaltet, und zwar von Siggi, dem Emilíana-Drummer. Sigtryggur „Siggi“ Baldursson war auch Drummer bei den Sugarcubes, er hat den ersten großen Boom mitlosgetreten. Heute betreut er den zweiten Boom in seinem Büro im Stadtzentrum. Als Geschäftsführer des Musikexportbüros IME präsentiert er stolz seine Lieblingszahl 1364: So viele Konzerte gaben isländische Musiker 2013 im Ausland, 2012 waren es mit 718 noch gut die Hälfte. Mithilfe staatlicher Gelder hat das IME es auch geschafft, das legendäre Airwaves-Festival wiederzubeleben, das auch Vorbild für die 47 weiteren Festivals ist, die rund ums Jahr auch an den abgelegensten Inselspitzen stattfinden. Und neuerdings platzieren sogar international renommierte Festivals wie das britische ATP-Festival oder das Sonar aus Barcelona ihre Ableger auf der Insel.

Die Festivalgäste kommen wegen der Musik – und wegen der Natur. Dann besteigen die Helden der Nacht scharenweise die Busse, die sie in die Lavasteinwüste bringen, wo sie im brühwarmen Naturfreibad dem Jacuzzi-Hedonismus frönen: In der Blauen Lagune plantschen sie mit einem Drink im milchigen Wasser, schmieren sich hautfreundlichen Mineralschlamm ins Gesicht, und erholen sich bei Musik von Musik, die immer öfter im Harpa spielt. Das Harpa ist das Flaggschiff der Stadt und Wahrzeichen der Krise: Wie ein leuchtendes Chamäleon liegt der Bau mit seiner eiswürfelartigen Fassade, die der Künstler Ólafur Eliasson gestaltet hat, direkt am Meer, hinter dem die Berge allmählich im schwarzblauen Licht verschwinden. Die aufwendig gestaltete und absolut sehenswerte Glashülle erinnert innen an die isländischen Basaltsäulen, während sich außen die Umrisse der Stadt kaleidoskopartig spiegeln. Zwischen den Konzerten in Hallen, die Nordlicht heißen oder Kalte Lagune, übersehe ich Emilíanas Nachricht auf dem Display: „Now you can see the Northern lights.“ Ein Blick nach draußen: alles wieder pechschwarz. In einer Stunde startet der Transfer zum Flughafen. Diesmal gehen sich die Nordlichter also wohl nicht mehr aus. Ein weiterer Grund wiederzukommen.

Trip Info

Hverfisbarinn, Hverfisgata 20. Konzerte und DJ-Sets am Wochenende, von Nordic-Electro bis Techno. Angesagtes Lokal mit hippen jungen Leuten und der längsten Wochenendschlange. Das Design ist skandinavisch-cool. facebook.com/pages/Hverfisbarinn/107188169315009


Smekkleysa, Laugavegur 35. Musiklabel und gut sortierter Independent-Plattenladen.
smekkleysa.net


Geysir, Skólavörðustíg 16. Vermutlich bestes Sortiment für isländisches Wolldesign. geysirshops.is/

Harpa, Austurbakki 2. Die 2011 fertiggestellte Konzerthalle ist von innen so spektakulär wie von außen. Ólafur Elíasson schuf eine Glasfassade, deren innenliegendes dreidimensionales Strukturgebilde an die für Islands Landschaft typischen Basaltsäulen erinnern soll. harpa.is

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