San José: Das reine Leben

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Schmetterlinge taumeln durch das Verkehrschaos, Regengüsse durchnässen die Städter: Costa Ricas Metropole San José sei eine der unattraktivsten Städte der Welt, heißt es. Gar nicht wahr! Eine Ehrenrettung.

Jean-Pierre hat viel von der Welt gesehen. Ein richtiger Reiseprofi. Doch der Pariser ist immer richtig eingeschnappt, wenn jemand mit Meinungen daherkommt, die ihm nicht passen. Zum Beispiel die Idee, man könne San José ganz okay finden – die Hauptstadt von Costa Rica, in der er gerade seinen Kaffee trinkt. „Määh“, schüttelt er den Kopf und macht ein Zitronengesicht, „schau dich doch um, San José ist unübersichtlich, uninteressant, langweilig – der letzte Dreck!“

Vulkane „machen“. Reiseführer verweisen bei San José auf Taschendiebe, Hupkonzerte und ein kompliziertes Häusermeer, die Verweildauer des Durchschnittstouristen sei so kurz wie möglich. Weil man von hier innerhalb von zwei Stunden zwei Weltmeere erreichen, den Regenwald besuchen und nebenbei ein paar Vulkane „machen“ kann, wird San José von der Tourismusindustrie und den Guide-Verlagen als reizloses Absprungbrett beschrieben. In einer hochländischen Binnenlage auf 1161 Meter gelegen, stellt San José einen stadtgewordenen Kompromiss dar, ist der jüngste Regierungssitz Mittelamerikas (1823) mit heute etwa zwei Millionen Einwohnern und das Bildungszentrum der Region – denkt man neben der renommierten Universidad de Costa Rica (UCR) an die 51 privaten Universitäten. Der letzte Dreck sieht anders aus. So gehört der Mercado Central aus 1880 mit seiner chaotisch labyrinthischen Architektur und der Mischung aus Verschlafenheit und Vitalität zu den interessantesten Markthallen der Welt. Zwar kommt die eine Hälfte der Waren aus China, die andere hat es jedoch in sich. Eine alte Dame spielt auf einer Kinderflöte „Smoke on the Water“, aber nicht nur die ersten Töne, sondern das ganze Lied. Sie swingt, ist völlig auf das Deep-Purple- Covern konzentriert. Es bleibt unklar, ob man ihr Geld geben soll oder was sie sonst verkauft. Flöten?

Käse in Fäden. Ein paar Blocks weiter, im Mercado Borbón, einer dem Straßenniveau folgend steil ansteigenden Halle, findet man die Gemüse- und Obstabteilung, mit Bananen in einem Reifezustand, den sie in Europa nie erreichen oder längst überschritten haben. Die Josefinos – man nennt sie so, weil San Joséer komisch daherkommt – lieben frisch eingelegte Himbeeren und die orangefarbene, kastanienartige Frucht der Pfirsichpalme, genannt Pejivaye, in gekochtem Zustand. Daheim wird sie mit Mayonnaise gefüllt – ein Fall für Öfter-Probieren. Ein erstaunlicher Käse heißt Palmito, man zieht ihn in Fäden von einem Knäuel und isst ihn als Snack mit trockenen Maiskeksen. Die Ceviche schmeckt hier fast wie in Lima und zum Arroz con Pollo gibt es USChips aus der Knisterpackung. Die Vielfalt und die Konzentration auf den lokalen Kleinhandel würde in das Bild eines mittelamerikanischen Landes passen, wäre da nicht diese auffällige Hygienebesessenheit. Niemand würde Obst oder Brot anfassen, das einem gereicht wird – und alles wird ständig mit Chlor geputzt. „Den Zentralmarkt findest du sauber? Määäh“, kommentiert Jean- Pierre, der alte Travnicek. „Und das stinkende Chaos auf den Straßen?“ Ist nicht mehr ganz so dramatisch.

Ende des letzten Jahrhunderts war das Eisenbahnnetz des Landes stillgelegt worden. Die Explosion des Autoverkehrs hat das Incofer (Instituto Costarricense de Ferrocarriles) zur Wiedereinführung einer Schmalspurstrecke gebracht, die Schnellbahndienste verrichtet. Will man nicht gleich bis in die Vororte, ist die Fahrt von der Estación del Atlántico bis zur Estación del Pacífico eines der urbanen Eisenbahnabenteuer von Amerika. Der Reiz liegt in der Tatsache, dass solche Menschentransporte einer absoluten Notwendigkeit entsprechen. Die Strecke ist in einem dramatischen Zustand, an vielen Stellen verlegt sich der Gleiskörper auf die reguläre Autostraße, der Gleiskörper flach, ungesichert, jede Kurve lädt zur Entgleisung ein, und doch kennen die Fahrer ihre Maximalgeschwindigkeit. Die Einheimischen waren an Züge schon nicht mehr gewohnt, deshalb stieg zunächst die Unfallrate an den nicht gesicherten Übergängen, bis sich das Volk daran gewöhnte.

Kaffeehauskultur. „Die Züge? Welche Züge? Hab keine Züge gesehen“, sagt Jean-Pierre, „jetzt erzähl mir nur noch von der tollen Kaffeehauskultur.“ Zugegebenermaßen ist sie nicht chic, aber die Originalität der Locations lässt über den einen oder anderen Plastikuntersatz hinwegsehen. Nehmen wir das einfache Schild „Desayunos Almuerzos Cafetaria“ an der Ecke Avenida 2 und Calle 2, mitten im Zentrum: Was sich als Kantine verkleidet, ist in Wirklichkeit ein kleines Loft mit herrlichen Industrielampen und zwei Wurlitzerboxen, die längst nicht mehr 100 Colón aufnehmen. „Cafés? Waaah! Genau das wird es sein, die Cafés!“, höhnt Jean-Pierre, der Reiseprofi, denn das Lob für eine Drecksstadt geht ihm gegen den Strich. „Und Militär haben diese weltbekannten Pazifisten sicher auch eines, wenn man genauer nachbohrt, oder?“ Hier hat er ein bisschen recht. Neben dem Slogan „Pura Vida“, dem Friedensnobelpreisträger Arias und dem Fußballnationalteam – Viertelfinalist der letzten WM, nur im Elferschießen gegen Holland ausgeschieden – ist die Tatsache, laut Verfassung von 1949 keine Armee zu unterhalten, der große Nationalstolz Costa Ricas. Schließlich gibt es ja auch keine direkten Feinde. Etwas fragwürdig ist dieses Friedensfanal sowieso, wenn man an die Schutzmacht USA denkt, die im Rahmen des Drogenkriegs ganz offiziell eine Menge Truppen in das Land mit der offiziell immerwährenden Neutralität geschwindelt hat. Abgesehen davon stolziert anstelle des regulären Heers ein Heer an privaten Sicherheitsdiensten durch das Stadtgebiet, in einer Buntheit uniformiert, die an die gelben Schmetterlinge über ihren Köpfen erinnert.

Das hat auch mit einem neuen Sicherheitsproblem zu tun. Im Zentrum kommt es kaum zu Vorfällen, aber San José hat, wie jede Millionenstadt, seine Problemzonen. Escazú gilt als reiches Ausländerviertel, und hier wird eine gesellschaftliche Spaltlinie deutlich. Intellektuelle und Linke verachten die besseren Leute bekanntlich, gleichzeitig wollen sie, wenn sie es sich leisten können, ebenfalls dort wohnen. Vor 15 Jahren nahmen die Gewaltund Einbruchsdelikte in Escazú deutlich zu, was die Begeisterung spürbar dämpfte. Als alternative Stadtviertel entwickelten sich Sabanilla, nördlich des lebendigen Uni-Distrikts, San Ramon oder Curridabat, wo es aber mehr regnet: Eine Wetterscheide teilt die Stadt, sie verläuft genau durch das Zentrum. Nun verlagerten sich die Überfälle dorthin, in den Regen, und einige Josefinos zogen zurück nach Escazú, auf die Seite des ewigen Frühlings.

Täglich Unwetter. Die Mobilität der Ticos – so heißen die Costaricaner, weil Costaricaner oder Costarricenses ein Zungenbrecher ist – ist legendär, sie wechseln Wohnungen wie Regenschirme. Ihre Lockerheit nennt sich pura vida, das reine Leben: Jene Lieblingsphrase, die seit den Neunzigern den lokalen Sprachschatz bereichert, findet in unzähligen Alltagssituationen Anwendung, ob nun als Gruß oder als Anfeuerung. Pura vida steht für die lächelnde Gelassenheit, auch wenn kein Tico weiß, ob es diese tatsächlich gibt. „Pura vida?“, räsoniert Jean-Pierre. „Pfffff. Diese Stadt ist pure Zeitverschwendung. Und dann noch diese Hitze!“ Und wirklich, in der Regenzeit gibt es zwei Stunden täglich ein prasselndes Unwetter, das wichtigste Utensil ist der Regenschirm. Die Menschen nehmen es leicht, da gibt es kein hektisches Rennen, wer durchnässt wird, lässt es geschehen. San José ist wohl die größte Kurzhosenstadt der Welt. Lange Hosen stehen hier kaum zum Verkauf, nur für formelle Anlässe gräbt man sie aus. Nur der verrückte Prediger, der vor der Catedral Metropolitana im Namen der Maria Muttergottes die Passanten anbrüllt, auf dass sie endlich zur Besinnung kommen, trägt Langhose. In der Kirche, einer niedrigen, extrem lang gezogenen Konstruktion von gigantischen Dimensionen, beten nicht nur alte Leute, auch Männer in Arbeitskluft drücken die Hände an das Vitrinenglas der Heiligenfigur. Draußen beginnt die Rushhour, erhebt sich ein Hupkonzert, torkeln gelbe Schmetterlinge durch die schwüle Luft.

„Was für eine Luft“, bilanziert Jean-Pierre, „und da sprechen sie von einer grünen Stadt . . .“ Nun, da ist La Sabana, genauer gesagt der 72 Hektar große Parque Metropolitano La Sabana, den die Einheimischen dem Priester Manuel Antonio Chapuí de Torres verdanken. Er vermachte 1783 die Ländereien der Stadtverwaltung. Ab 1940 wurde darauf der erste internationale Flughafen gebaut, der in den 1970er-Jahren abgetragen wurde. Ab 1924 stand hier das alte Estadio Nacional, auch das wurde 2008 wieder abgetragen und 2011 neu eröffnet, damit Paul McCartney und Elton John ins Land kommen – die Rechnung ging auf. Auch das Museo de Arte Costarricense – hier doch das Zungenbrecherwort – steht in diesem Park mit künstlicher Lagune, der sich seit den Sechzigerjahren als die grüne Lunge der Stadt etabliert hat. Aus dieser Biodiversität steigen wohl die Schmetterlinge hoch, und hier quakt auch der eine oder andere Rotaugenlaubfrosch. „Fades Grünzeug“, sagt Jean-Pierre. „Soll ich dir eine richtige Stadt zeigen? Mit Märkten, Zügen und Cafés?“ Ja sicher, Jean-Pierre. Paris, Jean- Pierre!

Tipp

Schlafen. Im Hotel Europa, zentral gelegen, aber etwas laut, gibt es auch ein Spielcasino. Aloft Hotel San José: Mischung aus Business und Boutique. Forum 2, Business Park, Lindora, Radial a Santa Ana, Santa Ana, San José, aloftsanjosecostarica.com; Mi Casa Hostel: zentrales, altmodisches Individualhotel.in Sabana Norte, beim ICE Sabana. Hemingway Inn, Avenida 9 und Calle 9, micasahostel.com

Essen. Mit Fleisch, Käse oder anderen Zutaten gefüllte und in Pflanzenblätter eingehüllte gedämpfte Tamales kannten schon Azteken und Mayas. Keine Mahlzeit ohne Gallo Pinto, einem weißen Reis mit schwarzen Bohnen, zu dem man Maistortillas isst. Morgens kommt er mit Ei, mittags mit Fleisch und abends in seiner pursten Form, denn traditionell sind die Tagesmahlzeiten wichtiger. Viele Leute können sich kein Fleisch leisten – aber Gallo Pinto geht immer. Man isst es mit Chimichurri (Tomaten, Paprika, Koriander, Zitrone und Kochbananen) und der unvermeidlichen Salsa Lizano, einer Sauce nach Worcester-Art.

Telefonieren. Kölbi, der Telekommunikationriese des Landes, wird Kolbi ausgesprochen. Wenn man nachfragt, was denn die Punkte über dem O bedeuten, halten es die Ticos für Design, das die Augäpfel des emblematischsten Tiers des Landes nachbildet, des kleinen Rotaugenlaubfroschs. Er kann seine Augen einziehen, wodurch die Punkte verschwinden wie das Ö des Handyanbieters.

Der Autor war eingeladen von der Central America Tourism Agency und den Fremdenverkehrsämtern von Costa Rica (ICT) und Nicaragua (INTUR).

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