Antarktis: Endstation Weddell-Meer

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Den Kurs des Expeditionsschiffs MS Fram in der Antarktis bestimmen der Wind, die Wellen und vor allem das Eis.

Geräuschlos läuft das Schiff aus. Links und rechts erheben sich die baumlosen Berge Feuerlands. In der Panoramabar auf dem obersten Deck füllen sich die Gläser. Ushuaia verschwindet am Horizont. Die Stimmung ist erwartungsfroh: Alle haben sich lang auf diese Reise gefreut.

Die Passagiere in Fleecejacken und Funktionskleidung könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Weinprinzessin aus Rheinland-Pfalz, die seit Jahren von der Antarktis träumt und hier ihren 30. Geburtstag feiert; der IT-Experte aus München, der schon als Kind den Spuren der großen Entdecker folgen wollte; die Hamburgerin, die beruflich oft nach Asien reist und hier ihre Sehnsucht nach Kälte auslebt; die Amerikanerin, der nur noch dieser eine Kontinent fehlt in ihrer Reisebilanz; eine 86-jährige Brasilianerin mit ihrer Enkelin  – sie alle eint nur der Wunsch, die entlegenste Gegend der Erde zu besuchen. Die Expedition ins Weddell-Meer soll es sein, weil sie länger dauert als die klassische Route entlang der Antarktischen Halbinsel und zudem in ein noch ursprünglicheres Stück der Welt führt: unberührt, wenig besucht, magisch.

Auf Shackletons Spuren. Wie immer haben die spannendsten Reisen trotzdem schon andere gemacht. Henryk Wolski gehört zu dem Kader der Vortragenden, die den Passagieren die zwei Seetage verkürzen, bis die Fram die Drakestraße durchquert. Sie trennt Südamerika von den Süd-Shetland-Inseln. Wolski, der als sechster Mensch überhaupt das Nordpolarmeer umsegelt hat, berichtet von den Entbehrungen der historischen Expeditionen, aber auch von den Mühen seiner eigenen Erfahrungen: Im Jahr 2000 segelte er mit Arved Fuchs und zwei weiteren Mitstreitern in einer sieben mal zwei Meter großen Nussschale auf den Spuren Ernest Shackletons von der Antarktischen Halbinsel über Elephant Island bis nach Südgeorgien.

Dagegen ist die Fahrt auf der Fram, die die Besatzung so tröstlich wie konsequent als Expedition bezeichnet, eine Art betreutes Reisen für Senioren. Viel mehr, als am Buffet auszuwählen, müssen die Passagiere nicht leisten. Dennoch vergehen die beiden Seetage in emsiger Betriebsamkeit. Alle Oberbekleidung samt Accessoires von Mütze bis Schal ist mit Staubsaugern von Keimen und Staub zu befreien. Zudem gilt es, Gummistiefel anzuprobieren – auch sie sind Pflicht, um den Boden bei Landgängen nicht mit Zivilisationsschmutz zu belasten.
Besonders trittfest sind sie außerdem. Wer dem eineinhalbstündigen Vortrag über den Schutz des siebten Kontinents fernbleibt, darf gar nicht erst an Land gehen.
Wir sollen keine Tiere stören oder anfassen, nichts mitnehmen und auch nichts dalassen, erklärt Karin Strand, die Expeditionsleiterin aus Norwegen. Eigentlich eh klar, gibt sie zu. Aber sie weiß auch, dass Graffiti an den Wänden historischer Walfangstationen vom Wunsch des Menschen nach Unsterblichkeit zeugen. Nur eine festgelegte Zahl an Personen darf zugleich an Land sein, weshalb die 143 Passagiere in Gruppen geteilt und diese einzeln zur Anlandung aufgerufen werden. Schließlich erwähnt Karin Strand ein wichtiges Detail: „Alles hängt vom Wetter ab. Aber wenn wir eine Sache nicht machen können, dann finden wir eine andere.“ Und wenn Plan B auch nicht funktioniert, gebe es immer noch einen Plan C.

Endlich geht es los. Vor den Fenstern liegen die Süd-Shetland-Inseln, genauer: Half Moon Island, wo eine große Kolonie von Zügelpinguinen lebt. Nun beginnt der Prozess, der bald Routine wird: wollene Wäsche anlegen, dann Hose und Pullover, gefolgt von wasserdichter Regenhose (Pflicht) und wetterfester Jacke, plus Rettungsweste (ebenfalls Pflicht), Mütze, Handschuhe, Kamera. Mit der Beweglichkeit einer Mumie stapft man auf Deck zwei, wo die Gummistiefel lagern. Irgendwie in die Dinger schlüpfen, zum Ausgang wanken. Die deutschsprachige Gruppe ist – natürlich – überpünktlich.

Schweißüberströmt und untätig stehen wir im Weg, lang bevor wir aufgerufen wurden. Von Crew-Mitgliedern gestützt, braucht es nun nur noch einen beherzten Schritt ins Tenderboot. An Land sind alle verzaubert vom Charme der Pinguine – und wie erschlagen von den milden Temperaturen. Beim Stolpern über Geröll, durch Schlamm und Pinguinexkremente wird es ernsthaft warm.

Von nun an geht es zweimal am Tag an Land. Das Wetter spielt mit, alles läuft nach Plan. Buckelwale umschnaufen das Schiff, Eisberge gleiten vorbei. Abends wird es nicht dunkel. Die Tage verstreichen mit An- und Ausziehen und den Spaziergängen an Land blitzschnell. Bald wissen wir: Die Gruppe, die als Erste ausgebootet wird, darf sich am ehesten als Entdecker fühlen. Dann haben nur die vorausgefahrenen Mitglieder des Expeditionsteams schon Spuren in den Schnee getreten, und außer dem Schnattern der Pinguine ist nicht viel zu hören – bis auf die Stimmen jener Reisenden, die alles mit anderen teilen müssen – auch Informationen über die Temperaturen ihrer Hände und der Nasenspitze und die Beschaffenheit ihres Unterzeugs.

Gebären verboten. Ein Seeleopard sonnt sich auf einer Eisscholle vor der Hope Bay, wo die Station Esperanza den argentinischen Wunsch nach Präsenz am Ende der Welt manifestiert. Um ihn noch zu deutlicher zu machen, brachte man 1978 schwangere Frauen her; folgerichtig war der erste Bürger der Antarktis ein Argentinier. „Das ist heute nicht mehr erlaubt“, erklärt der junge Arzt, der den Besuchern den Weg zur Poststation weist: „Es ist zu riskant.“ Auch sein zweijähriger Sohn wurde in Argentinien geboren. Die Hälfte der 50 Bewohner der Station ist derzeit auf Sommerurlaub daheim in Südamerika. Eine Schule gibt es, eine sehr kleine Kapelle, ungezählte Esels- und Adéliepinguine und eine steinerne Hütte. Sie erinnert an die drei Schweden, die 1903 hier überwintern mussten – bei einer Diät aus Robben- und Pinguinfleisch sowie mit einer Flasche Aquavit.

Lebhaft wie auf dem Wochenmarkt. Durch den Antarktis-Sund und die Straße der Eisberge nähert sich die Fram dem Weddell-Meer. In Brown Bluff, das auf der Tabarin-Halbinsel am Sund liegt, brodelt das Wasser förmlich von jagenden und springenden Pinguinen; an Land vibriert die Luft von ihrem Geschnatter. Es ist schön, die Tiere zu beobachten, die vor Steilklippen und schneebedeckten Hängen erstaunliche Aktivität entfalten. Dank ihrer Geschäftigkeit geht es so lebhaft zu wie auf dem Wochenmarkt.

Eisberge funkeln im Sonnenschein, als wir am Abend die Zufahrt zum Weddell-Meer erreichen: Packeis, das sich bis zum Horizont erstreckt. Kapitän Arild Hårvik denkt indessen nicht daran, so dicht vorm Ziel aufzugeben, und will im Verlauf der Nacht weitere Zufahrten ansteuern. Beim Briefing nach dem Diner dämpft Karin Strand dennoch unseren Optimismus: Das Eis, das ein von der Nasa übermitteltes Bild im Weddell-Meer zeigt, sehe ziemlich massiv aus. „Was wir morgen machen? Ich weiß es nicht“, sagt sie. Später nimmt es der Kapitän mit dem Eis auf. Eisschollen schieben sich übereinander, Wasser gurgelt, knirschende Geräusche lassen unwillkürlich an das Schicksal der Titanic denken.

Nach dem Frühstück ist es Gewissheit: Die Expedition ins Weddell-Meer endet vor dem Golf von Erebus und Terror. Der Fritjof-Sund und die Zufahrt bei Rosamel Island liegen voller gewaltiger Eisberge. Das Weddell-Meer blockiert abgebrochenes Gletschereis. „Eis im Jänner habe ich hier in zehn Jahren nicht gesehen“, sagt Karin Strand und schüttelt den Kopf. Die Klimaerwärmung beträgt auf der Antarktischen Halbinsel im Schnitt ein Grad – doppelt so viel wie im Rest der Welt, und die Folgen sind leicht zu erkennen. Nun greift Plan B: Es geht an der Westküste der Antarktischen Halbinsel durch den Crystal-Sund in Richtung Süden, bis über den Polarkreis. Die Passagiere nehmen die Nachricht mit der Fassung von Entdeckern auf. Kapitän Hårvik verspricht, 14 Knoten vorzulegen, damit wir schnell nach Süden gelangen und dort mehr Zeit haben.

Im südlichsten Souvenirshop. Bei strahlendem Sonnenschein, tiefblauem Himmel und angenehmen zwei Grad Celsius erreichen wir Petermann Island. Adélie- und Eselspinguine, Blauaugenkormorane und Skuas, braune Raubmöwen, die Pinguinküken gefährlich werden können, leben hier auf 65 Grad Süd vor schneebedeckten Bergen. Nicht weit von hier liegt die Station Vernadsky. 1947 von Engländern gegründet, wurde sie 1954 auf die Galindez-Insel verlegt und 1996 an die Ukraine übergeben. Hier wurde das Ozonloch über der Antarktis entdeckt, aber auch die südlichste Bar der Welt und das südlichste Souvenirgeschäft begründet. Fotos an den Wänden erzählen von durchreisenden Expeditionen und königlichen Besuchern. Derzeit leben nur Männer hier, die alle vor Beginn des Winters abgezogen werden. „Besonders glücklich sind wir darüber nicht, denn wir alle lieben die Antarktis“, erklärt Sascha, der Meteorologe, der an diesem herrlichen Sommertag ohne Jacke umherläuft. An Deck ist Klirren und Kreischen zu hören: Polartaufe. Zur Feier der Querung des Polarkreises schütten der Kapitän und ein Helfer im Neptun-Kostüm Freiwilligen Eis in den Nacken. Von einer Scholle schaut eine Krabbenfresser-Robbe zu. Südlich von Detaille Island ist die Welt wieder zu Ende: Vor uns liegt Packeis.

Wie Eisenstangen. Nach Schneetreiben im Crystal-Sund und eisigem Wind auf Deception Island, einer ringförmigen Insel, die eine vulkanische Caldera umschließt, steuert Kapitän Hårvik die Fram zurück in die Drake Passage. Hier hört der Spaß auf. Windstärke neun bis zehn meldet der Kapitän, sechs Meter hohe Wellen. „Sorgen Sie sich nicht, sondern genießen Sie die Kraft der Natur“, sagt er aufmunternd und fügt hinzu: „Sollten Sie irgendwo festsitzen, zögern Sie nicht, um Hilfe zu rufen.“ Auch die Kabine bietet keine Ruhe: Es klingt, als schlügen schwere Eisenstangen an die Schiffswände. Doch das sind nur die Wellen. Im Lauf der lauten Nacht fliegt alles durch die Kabine. Am Morgen ist die Lage unverändert. Henryks Vortrag ist dünn besucht. Er spricht über Kap Hoorn und die Schwierigkeiten, diesen Felsen im Meer zu umschiffen. Im größten Ozean der Welt rasen die Stürme völlig ungebremst rund um die Antarktis. Henryk betont, wie komfortabel es da sei, an Bord eines soliden Schiffs zu reisen. Seine Zuhörer lächeln schwach und umklammern ihre Teetassen. Erst nach weiteren zwölf Stunden schwerer See liegt die Fram wieder ruhig im Wasser, Delfine springen, und wir erreichen Ushuaia.

Tipp

Ratsam. Pflegende Après-Soleil-Maske von Sensai, um 102 Euro im gehobenen Fachhandel.

Pfleglich. Lippenbalsam gegen Kälte und Fahrtwind auf dem Schiff. avena.at

Robust. Stiefel fürs Aussichtsdeck. Hier aus der Winterkollektion von Asics. www.asics.com


Antarktis-Kreuzfahrten. Von Wien fliegt etwa Iberia über Madrid nach Buenos Aires (fast 18 Stunden, Preis ab 813 Euro, iberia.com), Lufthansa fliegt ab Frankfurt (lufhansa.com). Von dort geht es mit LAN weiter nach Ushuaia (3,5 Stunden). 

Hurtigruten bietet diverse Schiffsreisen in die Antarktis an; die kürzeste, 13-zehntägige Expedition Antarktis (17. 11.–30. 11. 15) in einer Innenkabine kostet inkl. Vollpension und allen Anlandungen ab 8397 Euro pro Person. Online zu buchen bei Ruefa unter www.ruefa.at/onlinebuchen/kreuzfahrten. Der Katalog „Expeditions Seereisen“ von Hurtigruten ist ebenfalls bei Ruefa erhältlich. ruefa.at

Die Autorin wurde von Hurtigruten und Lufthansa eingeladen.

Reisezeit: Der antarktische Sommer ist kurz; die Reisezeit dauert von Ende November bis Ende Februar.

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