Belém do Pará: Dschungelkochbuch

Carimbo Tänzer in Belém do Pará
Carimbo Tänzer in Belém do Pará Reuters (Paulo Santos)
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Der Norden Brasiliens ist ein Ziel für Genießer. Hier ist die ursprünglichste brasilianische Küche daheim: die indigene, die auf den Regenwald zurückgreift.

Zwischen Haarwuchsmitteln, Fischgeruch und Bergen von frischen Paranüssen gibt Gina Lobrista ihre Show zum Besten. Wie jeden Tag steht die 34-Jährige in der tropischen Mittagshitze und singt. Als Begleitung nur eine Verstärkerbox. In einer Hand hält sie das Mikrophon, in der anderen zeigt sie die eigenen CDs. Ab und zu unterbricht sie ihren Gesang und präsentiert sich ganz als Geschäftsfrau. „Fünf Real das Stück, nimm!“ Und gleich wechselt sie wieder in ihre Rolle als Sängerin zurück. Obwohl bei der brütenden Hitze kaum Passanten stehen bleiben, singt sie mitten im Verkehrslärm entschlossen weiter. Brasilien ist ein wenig wie der Markt Ver o Peso, an dem Gina ihre Kunst verkauft: ein tropisches Chaos von Gerüchen, Geräuschen und Hautfarben. Menschen aus drei äußerst unterschiedlichen Kulturen haben das Land geformt: die einheimischen Indigenen, die portugiesischen Kolonisatoren und die afrikanischen Sklaven. Fast überall im Land ist die Küche eine perfekte Mischung aus diesen drei Kulturen.

Geheimtipp. Nicht so im Norden, nicht in Belém. Die indianische Küche hat hier kaum Platz übriggelassen für die anderen Kulturen, was die Gastronomie des Bundesstaats Pará zur wohl ursprünglichsten unter den brasilianischen Küchen macht. Belém ist nach Manaus die zweitwichtigste Stadt des brasilianischen Amazonasgebietes. Unter Foodies gilt sie als Geheimtipp für exotische Gastronomie. Ihren wirtschaftlichen Höhepunkt erlebte das brasilianische Betlehem, wie der Name übersetzt heißt, aber bereits Ende des 19. Jahrhunderts zur Zeit des Kautschukbooms. Zahlreiche Europäer, die sich am Kautschukexport bereichert hatten, ließen sich hier nieder und entfalteten eine rege Bautätigkeit. Viele der „Casarões“, wie die eleganten Villen genannt werden, bestehen bis heute. Für das Teatro da Paz, das Theater des Friedens, importierte man Spiegel aus Venezien, glasierte Fliesen aus Frankreich, Steinplatten und Treppen aus Lissabon. Um den Lärm der Pferdekutschen abzudämmen, wurde die Straße rund um das Theater mit Kautschuk überzogen. Die lokale Elite schickte sogar ihre schmutzige Wäsche zur Reinigung nach Portugal.

Die bankrotte Stadt. Die Phase des Reichtums fand ein plötzliches Ende, als das brasilianische Kautschukmonopol gebrochen wurde und der Preis für den extrem wertvollen Rohstoff innerhalb kürzester Zeit ins Bodenlose stürzte. Die gesamte Stadt ging bankrott. Die Schiffe nach Europa waren überfüllt, ganze Familien verließen Belém fluchtartig. Geblieben sind leere Villen, die heute vereinzelt als nationales Kulturerbe verwahrlost herumstehen. Für gut erhaltene Häuser gewährt die Gemeinde zwar jährlich satte Grundsteuerrabatte, das reicht aber nicht für ordentliche Renovierungen, denn das nötige private und öffentliche Kapital fehlt.

Heute erlebt Belém eine zweite, wenn auch äußerst bescheidene wirtschaftliche Renaissance. Deren Grundlage ist Açaí – die Superbeere aus der „Grünen Hölle“, dem Amazonasdschungel, die von hier in die ganze Welt exportiert wird. Jô Alves und Fernanda Stefani können das bestätigen. Die beiden lernten sich in Wien kennen, wo Fernanda an der Wirtschaftsuni studiert hat. Zurück in Brasilien entschieden sie sich, mit Açaí zu handeln. Ihre Firma „100% Amazônia“ exportiert das tiefgefrorene Fruchtfleisch der Obstsorte in über 50 Länder der Welt.

„Die Açaí erzielt das beste Ergebnis, wenn sie wild im Wald wächst“, erklärt Alves, „auf diese Art leistet sie auch einen Beitrag für den Schutz der Wälder, weil die Bäume für die nächste Ernte erhalten bleiben müssen.“ Wegen ihres hohen Gehalts an Antioxidantien soll Açaí den Alterungsprozess verlangsamen und beim Abnehmen helfen. Seit den 90er-Jahren wird die Frucht täglich in ganz Brasilien als Zwischenmahlzeit oder zum Frühstück zusammen mit Bananen und Joghurt gegessen. In Belém, wo die gastronomische Kolonisierung durch die Portugiesen weniger gegriffen hat und der Weizen weniger verbreitet ist, ist es anders – hier ist Açaí nicht nur eine Beilage, sondern Hauptnahrungsmittel.

Pirarucú, Taperebá und Tucupi. Aber nicht nur Açaí macht die Pará-Küche so einzigartig. Die zahlreichen Flussfische – der bekannteste ist der Pirarucú – werden frisch oder eingesalzen gekauft und mit Bananen und Maniokmehl zubereitet. Exotische Obstsorten, die nur in dieser Gegend zu finden sind – wie etwa die Taperebá mit ihrem süß-säuerlichen Geschmack – verwendet man für Saucen. Aus wilden Maniokblättern gewinnt man einen Saft, der stundenlang gekocht werden muss, um ihn zu entgiften. In dieser gelblichen Flüssigkeit, genannt Tucupi, werden Wildenten gekocht und das Ganze zum Schluss mit Jambu angereichert, einem spinatähnlichen Gemüse, das Mund und Lippen leicht betäubt. Und schon ist das berühmteste Gericht Beléms fertig: Pato no Tucupi.

Zwei Chefköche haben wesentlich zu Beléms gastronomischem Höhenflug beigetragen. Einer von ihnen, Paulo Martins, war bekannt als Botschafter der Amazonasregion. „Paulo war der größte Förderer der Amazonasküche, er war und ist mein Vorbild“, sagt darum auch Alex Atala, der Superstar unter den brasilianischen Köchen. Martins hat zahlreiche Reisen unternommen, um der Küche des Bundesstaats Pará Aufmerksamkeit zu verschaffen. Im Jahr 2000 beschloss er, dass von nun an die Chefköche auch einmal zu ihm kommen sollen. So entstand das erste bedeutende gastronomische Event der Stadt, das „Festival Ver-o-Peso“, benannt nach dem Mercado Ver o Peso – wörtlich: das Gewicht sehen, denn auf dem Markt gab es öffentliche Waagen.

Hier findet man köstliche Süßwasserfische, Paranüsse, frisches exotisches Obst, Hängematten und Medizin gegen alle möglichen Übel. Dazwischen bieten die Boieiras, wie die Speiseverkäuferinnen genannt werden, Hausgemachtes an. Bereits am Vormittag genießen die Paraenser, auf Steinstufen hockend, frisch zubereitete Fische mit Açaí aus ihren Papptellern oder Pupunha, gekochte Pfirsichpalme mit Butter.

„Brazilian Food.“ Der zweite wichtige Gastronom der Stadt ist Thiago Castanho. Der begeisterte junge Küchenchef hat ein erfolgreiches Buch auf Englisch über die Pará-Küche geschrieben. In „Brazilian Food“ stellt er zudem seine bevorzugten Lieferanten vor. Eine davon ist Nena, die eine nachhaltige Wildkakaoplantage besitzt und auf der Ilha do Combo (Combo Insel) Kakao in bester Bioqualität erzeugt. Die Fahrt mit dem Autobus zu ihrer Plantage führt durch bitterarme Gegenden, wo Kinder auf nicht-asphaltierten Straßen zwischen schwarzen Geiern und Müll spielen und Kanalisation ein Fremdwort ist.

Nach einer viertelstündigen Bootsfahrt ist der unberührte Dschungel erreicht. Zwar herrscht hier ebenfalls noch Armut, doch empfindet man sie weniger brutal als auf dem Festland. Die Bäume spenden angenehmen Schatten, Nenas Freundlichkeit und ihr entspanntes Auftreten wirkt ansteckend. „In früheren Zeiten haben wir ausschließlich auf dem Biomarkt verkauft. Dann kamen Thiago Castanho und Joanna, Martins Tochter, und halfen uns, unseren Kakao auch in gehobenen Restaurants bekannt zu machen.“ Nena pflückt jede einzelne Frucht, bricht aus jeder circa 40 Kerne heraus und legt sie zum Trocknen in die Sonne.

Die getrockneten Kerne werden geröstet und geschält. Nena schiebt sie dann in den Fleischwolf, formt aus der Masse einen kleinen Ziegelstein, den sie schließlich in Kakaoblätter einwickelt. „So ähnlich haben das früher unsere Vorfahren hier gemacht. Mir ist es gelungen, diese Tradition wiederzubeleben“, sagt die Paraense zufrieden. „Der Regenwaldrhythmus ist anders als der Wirtschaftsrhythmus“, warnt Joanna Martins vor allzu viel Begeisterung über die Ressourcen aus der Regenwald. „Wir müssen den Urwald respektieren und ihm nur das entnehmen, was er hergibt. Nur so können wir ihn schützen, denn das oberste Gebot ist, die Regenwälder zu erhalten.“

Das Abendessen der Boieiras. Zum Festival Ver o Peso kommen Küchenchefs aus ganz Brasilien, allen voran Alex Atala, aber auch aus dem Ausland, wie etwa im Vorjahr der Peruaner Pedro Schiafino. Neben Workshops und Vorträgen ist das Hauptereignis die „Jantar das Boieiras“ – das Abendessen der Speiseverkäuferinnen. Gemeinsam mit den Kochstars bereiten lokale Köchinnen traditionelle Gerichte zu, die mit regionalen Zutaten und exotischen Komponenten neu interpretiert werden.

Zurück am Flughafen in Rio, zeigt sich nochmals der Beweis für die Qualität der Superbeeren. Beim Gepäckabholen wandern unzählige riesige Styroporschachteln über das Förderband. Auf die Frage, was da drinnen sein soll, antworten die Passagiere lächelnd: „Açaí, was sonst?“

Tipp

Getränkemuss. Cerveja Amazon Beer Stout mit Açaí. cervejastore.com.br

Pflichtlektüre. Thiago Castanho „Brazilian Food“.

Anreise
TAP fliegt aus Lissabon 3x pro Woche direkt nach Belém. flytap.com

Hotel Le Massilia: Option für kleine Geldbörsen, mitten im Zentrum. Der kleine Pool im Garten ist an heißen Tagen ein wahrer Segen. Rua Henrique Gurjão, 236 – Reduto.
massilia.com.br

Atrium Quintas de Pedra: früher ein Kloster, schöne Lage, gleich neben dem Ökopark Mangal das Garças. Rua Dr. Assis, 834 – Cidade Velha. atriumhoteis.com.br/hoteis/atrium-quinta-de-pedras-belem

Hotel Portas da Amazônia: restaurierte Villa aus dem 19. Jahrhundert, nah am Zentrum. Rua Dr. Malcher, 15 – Cidade Velha; portasdaamazoniabelempara.com.br

Essen
Remanso do bosque: Das Lokal befindet sich hinter einem kleinen Stück amazonischem Regenwald, mitten im Stadtgebiet. Geführt von dem renommierten Koch Thiago Castanho und dessen Bruder Felipe. Rua Vinte e Cinco de Setembro, 2.350 – Marco.
restauranteremanso.com.br

Manjar das Garças: mitten im dem ökologischen Park Mangal das Garças am Ufer des Flusses Guamá. Unbedingt sehenswert. Passagem Carneiro da Rocha, s/n° – Cidade Velha. manjardasgarcas.com.br

Lá em casa: berühmtes Restaurant im wunderschönen Hafen Estação das Docas; wird von Daniela, Paulo Martins‘ Tochter, geführt. Av. Boulevard Castilho França, Estação das Docas, Galpão 2, Loja 4. Campina. laemcasa.com

Point do Açaí: Paraensische Hausmannskost auf drei Etagen. Frische Zutaten, moderate Preise. Ganz nah an Mercado Ver o Peso und Estação das Docas. Berühmtestes Gericht: Peixe frito com Açaí (gebackener Fisch mit Açaí). Avenida Castilho Franca, 744 - Campina. pointdoacai.net

Festival Ver-o-peso 2016: 21.– 29. Mai. Renommierte In- und ausländische Chefköche geben Vorträge, Galadiners, Schaukochen.
Belém do Pará, veropesodacozinhaparaense.com.br

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