Pitcairn: Neustart als Öko-Paradies

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Pitcairn Reuters
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Vor einer Dekade wurde Pitcairn von einem Skandal erschüttert. Die meisten Männer wurden als Sexualverbrecher verurteilt.

„Heute ruht alles bei uns“, sagt Steve Christian. „Es geht nur ums Schiff.“ Er sitzt in seinem Quad, dem inseltypischen Fortbewegungsmittel, und ist von Kreuzfahrern auf Landgang umringt. Sie fotografieren den Insulaner, der ein frisch gebügeltes Khaki-Hemd mit der Aufschrift „Meuterer der Bounty“ trägt.
Er sei Pitcairner in der siebten Generation, erzählt er. Sein Name weist ihn als direkten Nachkommen Fletcher Christians aus, eines der berühmtesten Straffälligen in der Geschichte der englischen Handelsmarine. Vier erwachsene Kinder hat er, sagt der Vierundsechzigjährige, einer seiner Söhne ist der Bürgermeister Pitcairns. Er selbst ist Projektmanager beim Bau des neuen Hafens, der zwar ein paar Kilometer vom Dorf entfernt ist, wo die See aber ruhiger sei als hier.

Als Nachfahren von acht Meuterern der „Bounty“ und ihrer tahitianischen Frauen sind die Bewohner der winzigen Insel im Pazifik berühmt. Nur 45 Menschen leben hier. Die Männer in tatkräftigem Alter lassen sich an zwei Händen abzählen. Fast alle sind miteinander verwandt oder verschwägert, fast jeder hat ein Amt oder eine Aufgabe, die ihn unentbehrlich macht. Ihre Nachnamen sind meist Christian, Warren, Young oder Brown. Viele von ihnen haben einen Wikipedia-Eintrag; sechs von ihnen, auch Steve Christian, als pädophile Sexualstraftäter.

Auf hoher Welle reiten

Die Urlauber auf Landgang sind aufgeregt wie Kinder am Weihnachtsabend. Ängstlich hatten sie den Meldungen des Käptns gelauscht, der stets betonte, eine Landung auf Pitcairn könne er nicht garantieren. Der Felsen liegt so exponiert im größten Ozean der Welt, dass die Seeverhältnisse auch bei gutem Wetter schwierig sind. Nun hat es doch geklappt, alle haben die Insel erreicht. Mit Vollgas auf einer hohen Welle reitend, glitten die Zodiacs einer nach dem anderen hinter die kurze, schützende Kaimauer der „Bounty Bay“. Jetzt stehen die Fremden im Hafen, einer Plattform aus Beton, hinter der sich der Steilhang erhebt. Die Karte Pitcairns in der Hand, betrachten sie die üppig Vegetation der Insel und ihre Bewohner: die Nachfahren der Meuterer.

Die auf halber Strecke zwischen Neuseeland und Chile gelegene Insel ist Mythos und reale Verbindung zur „Bounty“ des glücklosen Kapitäns William Bligh. Ihr Schiff verbrannten die Meuterer hier in der Bounty Bay und besiegelten so eine Flucht ohne Wiederkehr. Lange galt Pitcairn als Sinnbild der paradiesischen Insel, die keine Kriminalität kennt; ein Garten Eden, in dem die Menschen in Frieden miteinander leben. Dabei hatten die Meuterer und die sechs polynesischen Männer, die sie neben zwölf Frauen aus Tahiti herbrachten, einander alsbald umgebracht. Nur zwei Meuterer starben eines natürlichen Todes, Ned Young und John Adams, der der Hauptstadt Adamstown seinen Namen und den übrigen Insulanern die Bibel der „Bounty“ hinterließ.

Missbrauchsprozess 2014

Steve Christian war lange der einzige Mann auf der Insel, der die Longboats auch durch schwere Dünung steuern konnte und sie zu reparieren verstand. Die Barkassen sind die Nabelschnur der Insulaner; mit ihnen fahren sie zum Fischen und zum Versorgungsschiff, das alle drei Monate aus Neuseeland kommt. Als Kapitän, Cheftechniker und Bürgermeister war Steve Christian unangreifbar. Er stand auch im Mittelpunkt des Missbrauchsprozesses, der 2004 auf Pitcairn stattfand. Ermittler, Anwälte und Richter waren dazu aus England und Neuseeland angereist. Weitere Angeklagte waren ein Sohn Stevens, sein Schwager und sein Schwiegervater sowie zwei weitere Abkömmlinge der Meuterer Young und Christian – und sechs im Ausland lebende Pitcairner, denen in Auckland der Prozess gemacht wurde.

Die Nachfahren der Meuterer genießen seit jeher besonderen Status auf Pitcaitn. Als Führungselite organisierten sie das Zusammenleben auf dem Felsen. Der Prozess brachte an den Tag, dass die tonangebende Clicque ihre Macht und die Abgeschiedenheit der Insel auch dazu nutzte, ihre eigenen Gesetze zu schaffen. Die Kreuzfahrer schwitzen den „Hill of Difficulties“ zum Dorf zu Fuß hinauf oder sausen auf den Rücksitzen der Quads bergan. Am Wegrand sind Stände aufgebaut. Die Insulaner verkaufen aus dem Holz des Tulpenbaums geschnitzte Spazierstöcke mit Vogelköpfen als Knauf, T-Shirts mit dem Schriftzug „Pitcairn“ und der rare Pitcairn-Honig, den auch Queen Elizabeth II. schätzt. Es wird geplaudert und gekauft, gescherzt und fotografiert.

Ein Stückchen weiter erhebt sich links die schlichte Kirche der Gemeinde der Adventisten des Siebenten Tags. Seit dem überaus erfolgreichen Besuch eines Missionars im 19. Jahrhundert gehören die Insulaner der Glaubensgemeinschaft an, die Verzicht auf Tanz, diverse Fleischsorten, Alkohol und andere aufputschende Getränke empfiehlt. Gleich daneben liegt der von der Versammlungshalle, dem Postamt und dem dahinter gelegenen Museum eingefasste Hauptplatz. Wenn ein Schiff vor Pitcairn vor Anker geht und die Landung in Zodiacs möglich ist, verwandelt sich der Platz von Adamstown in einen Markt. Briefmarken, Schnitzarbeiten, aber auch Magnete und Postkarten sind Verkaufsschlager. Die Händler akzeptieren neuseeländische, australische und US- Dollar, Pfund und Euro.

Dennis Christian, Jahrgang 1957, leitet das Postamt wie sein Vater vor ihm. Es ist eines der wichtigsten Ämter auf der Insel; Philatelisten aus aller Welt lieben die aufwendig gestalteten Briefmarken der britischen Überseebesitzung. Eine Folge der Serie „Bedeutende Pitcairner“ ist seinem 1992 gestorbenen Vater Ben gewidmet; eine der Marken zeigt Vater Ben mit seiner Frau Irma und drei Kindern, darunter Dennis als Knirps. Irma, eine schlanke, weißhaarige Dame, sitzt draußen vor dem Postamt und verkauft Souvenirs. Es ist dieses unmittelbare Nebeneinander von Mythos und Realität, das seit jeher dafür sorgte, dass die Insel viele Besucheranträge erreichten. Die meisten lehnte der Inselrat ab.

Dennis ist ein freundlicher Mann, dem man seine Postkarten ohne Zögern anvertraut. Gerne plaudert er mit den Fremden. Am 23. Januar feiern sie die Verbrennung der Bounty, erzählt er, indem sie ein Schiff aus Papier in Flammen aufgehen lassen. Sie sind stolz auf ihre Herkunft. Auf den Prozess mag ihn niemand ansprechen. Auch der freundliche Dennis wurde verurteilt. Weil er sich vergleichsweise wenig zuschulden kommen ließ, sich als einziger schuldig bekannte und Reue zeigte, kam er mit 300 Stunden gemeinnütziger Arbeit davon.

Würgefeigen, Fächerpalmen

Alle Türen stehen offen, die zur Versammlungshalle ebenso wie die zur Schule, die hinter einem dichten Wald aus Würgefeigen, Bananenbäumen, Fächer- und Kokospalmen idyllisch über einer Wiese mit Blick auf den Ozean liegt. Die fünf Kinder, die auf Pitcairn leben, werden hier von einem Lehrer aus Neuseeland unterrichtet. Niemand will sie fragen, wie es ist, auf dieser Insel Kind zu sein. Die Besucher mussten vor dem Landgang eine Erklärung unterzeichnen, in der sie versichern, Kinder weder uneingeladen zu fotografieren noch anderweitig Kontakt zu ihnen aufzunehmen, ohne dass eine erwachsene Vertrauensperson dies gestatte.

Auch in der Versammlungshalle sind die Nachwirkungen des Prozesses sichtbar. Ein Aushang mahnt die Insulaner, keine Differenzen in der Öffentlichkeit auszutragen. Jeder sei auf Pitcairn willkommen, jeder mit Respekt und Würde zu behandeln. Alle müssten Einstellungen der Vergangenheit hinter sich lassen und danach streben, eine bessere Zukunft für künftige Generationen zu schaffen. Viele Pitcairner, die sich stets als Briten bezeichnet hatten, behaupteten während des Prozesses, sexuelle Beziehungen zwischen Männern und Kindern seien Teil polynesischer Kultur. Was außer Polynesiern auch eine Pitcairnerin entschieden zurückwies.

Auf Pitcairn geht das Leben weiter. 2009 wurde der letzte Häftling aus dem Insel-Gefängnis entlassen. Die Verurteilten hatten es in Ermangelung anderer Arbeitskräfte selbst bauen müssen. Sie erhielten Freigang, wenn der Versorgungsfrachter kam oder nach einem Sturm eine Straße zu reparieren war. Das Gefängnis dient heute als Gästehaus. Pitcairn will mit Öko-Tourismus Geld verdienen und Blicke von außen nicht mehr scheuen; fast alle Insulaner nehmen zahlende Gäste in ihren Häusern auf. Dass sie diese Möglichkeit überhaupt in Betracht ziehen, beweist, dass sie den Magnetismus von Bounty und Briefmarken für stärker halten als das Unbehagen, dass Fremde bei dem Gedanken an den Aufenthalt auf einer kleinen, entlegenen Insel in Gesellschaft verurteilter Vergewaltiger verspüren mögen.

Die Opfer, die per Videoübertragung im Prozess aussagten, leben seit langem im Ausland. Shawn Christian, der 2007 in Auckland verurteilte zweite Sohn Steve Christians, wurde 2013 zum Bürgermeister Pitcairns gewählt. In einer Stichwahl setzte er sich gegen Simon Young durch, einen Engländer, der im Jahr 2000 mit seiner amerikanischen Frau Shirley nach Pitcairn zog. Als unbescholtener Bürger repräsentiert Simon die Insel nach außen. Wenn ein Kreuzfahrtschiff vor der Bounty Bay ankert, kommt er an Bord und hält einen einführenden Vortrag. Doch auf der Insel haben andere das Sagen. Auf Pitcairn bleibt der Fremde immer fremd.

Mit dem Kreuzfahrtschiff nach Pitcairn

Anreise: Flug via Los Angeles nach Tahiti (z. B. mit Air France) und weiter mit Air Tahiti Nui nach Rikitea auf Mangareva. Von dort können Urlauber im Charter-Boot oder mit dem Frachter Claymore II die 400 Kilometer nach Pitcairn zurücklegen. Die Claymore II fährt alle drei Monate von Neuseeland und bringt außerdem regelmäßig Passagiere von Mangareva nach Pitcairn. Sie bietet Platz für zwölf Passagiere und verkehrt in Abstimmung mit den Flügen von Tahiti nach Mangareva. Reisende können vier oder elf Tage auf Pitcairn bleiben. Eine Alternative ist eine Fahrt mit einem Kreuzfahrtschiff, von denen zwischen fünf und fünfzehn im Jahr die Insel ansteuern.

Einreise: Bei einem Aufenthalt von maximal 14 Tagen ist kein Visum erforderlich.

Währung: Offizielles Zahlungsmittel ist der neuseeländische Dollar.

Unterkunft: Eine Übernachtung mit Vollpension kostet ab 70 US-Dollar pro Person.

Weitere Informationen:www.visitpitcairn.pn

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2016)

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