Neapel: Die Kinder des Vulkans

(C) Von Oliver-Bonjoch - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0
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Auf thematischen Kultur-Rundgängen zeigt Neapel sich von seiner verborgenen Seite.

Leonardo Scotti hatte einen Traum, und er hat ihn verwirklicht. Der studierte Philosoph will die schönen Seiten der krisen- und gewaltgeplagten Gegend rund um Neapel mit Kultur beleben und herzeigen. Siti Reali – königliche Orte – heißt das Unternehmen, als dessen Präsident Scotti seine Vision umsetzt: „Wir sind eine Gruppe von jungen Leuten, die beschlossen haben, hier im Süden von Italien mit all seinen Schwierigkeiten ein Unternehmen zu führen.“ Siti Reali, kurz SiRe, organisieren außergewöhnliche Veranstaltungen und Touren, immer samstags, sonn- und feiertags. Im Rahmen dieser Touren führen vier bis sieben Events pro Tag, an denen insgesamt mehr als hundert Personen teilnehmen, an Orte, die die territoriale Identität bilden.

Als Paten holte sich Siti Reali die royalen Bourbonen, die aufgeklärtesten aller Herrscher am Golf. „Ihre Residenzen in Portici, Capodimonte, Caserta und Carditello sind architektonische Zeugen einer positiven und produktiven Einstellung des Königshauses“, sagt Leonardo Scotti, „große Architekten wie Vanvitelli und Fuga konnten hier ihre Talente entfalten.“ 

Ein Forschungsprojekt für eine Dissertation im Fach Kulturwirtschaften an der Universität Suor Orsola Benincasa stand im Jahr 2003 am Beginn der Idee von Siti Reali. Die Suche nach der verlorenen Erinnerung zeigt neue Identifikationsmöglichkeiten in Neapel auf. Das Schaffen von Arbeitsplätzen und soziales und gesellschaftliches Wachstum haben die Macher von Siti Reali dabei auch im Sinn. In Italien sind es sehr oft private Initiativen, die im sozialen und kulturellen Bereich Neues hervorbringen. Das klappt, wenn guter Wille, gute Ausbildung und Durchhaltevermögen zusammentreffen – der richtige Mix zieht auch das Publikum an. Plötzlich geht alles ganz selbstverständlich auf der sonst eher überbürokratisierten Apenninenhalbinsel. „Das Wichtigste, um weiterzukommen, ist die Zusammenarbeit. Wenn wir alle verbinden, dann wachsen wir auch gemeinsam“, sagt Leonardo Scotti. Die Happy Hour am Vesuv ist eine der Verabredungen, die Siti Reali anbieten – dieses Erlebnis läuft auch unter „Spaziergang im Höllental“. Das „Höllental“ von Neapel liegt zwischen Nebengipfel und Hauptkrater des Vesuv. Bei Sonnenuntergang, also zur Zeit der Happy Hour, serviert das Team von Siti Reali Weine und regionale Spezialitäten inmitten der Natur. Der Blick auf den Golf nach einer kurzen Wanderung über die dunkle Lava des Vulkans ist herzerwärmend. Für eine fachkundige Führung durch einen geprüften Natur- und Wanderführer ist gesorgt. 

Kloster der 33 Nonnen. Ein Mann wacht über das Kloster der dreiunddreißig Nonnen mitten in der Altstadt von Neapel. „Mein Urgroßvater, mein Großvater und mein Vater haben schon hier gearbeitet“, sagt der Klosterverwalter Francesco Galluccio, der als einziger Mann den Klausur-Bereich im Kloster der 33 Nonnen betreten darf. Leonardo Scotti und seine Siti Reali machen Neapolitaner und interessierte Reisende auch mit Francesco Galluccio bekannt. Der dunkelhaarige, gut gelaunte Galluccio muss Installateur, Elektriker, Gärtner und Tischler in einem sein. Alles, was die Nonnen, die ihr Kloster nie verlassen, an praktischer handwerklicher Hilfe brauchen, kann nur Francesco Galluccio liefern. Er ist begeistert von seinem Job und kennt auch schon seinen Nachfolger: „Mein Sohn ist jetzt sechs Jahre alt, und er wird sicher meinen Posten übernehmen.“

Die Nonnen im Kloster der 33 leben zwar hinter den dicken Mauer, über ihre Webseite kommunizieren sie aber mit der Öffentlichkeit. Ihr Ziel: eine bessere Welt. Ein weiterer Fixstarter im Programm von SiRe ist die Tour „Neapel im Film.“ Das romantische Panorama der Hauptstadt der Campagna bildet den pittoresken Hintergrund für einen Spaziergang zu den Drehorten legendärer Movies made in Naples. Die ästhetischen, historischen und topographischen Besonderheiten der Stadt werden anhand der Plots erläutert, was ein tiefes Eindringen in das Herz der Stadt am Golf erlaubt. „Gestern, heute, morgen“, „Das Gold von Neapel“, „Totò, Peppino und das leichte Mädchen“ sind einige der Neapel-Filme, und – man staune – auch „Tom & Jerry“ waren in Neapel unterwegs. Die Orte des Films werden mit der heutigen Wirklichkeit verglichen, und gerade in Neapel fragt man sich: „Wie wirklich ist eigentlich die Wirklichkeit?“

360 Grad Rundblick. Siti Reali geht es nicht nur um das Zentrum, die Stadt Neapel, sondern um die ganze Umgebung. „Wir wollen eine Reihe von Aktivitäten mit 360 Grad Rundblick anbieten, kulturelle und soziale Schwerpunkte zugänglich machen, denn unsere großen Sehenswürdigkeiten sind hinlänglich bekannt – Pompei, Caserta oder das archäologische Museum von Neapel. Da gehen wir auch hin, aber eben nicht nur.“ Rund um das Team von Leonardo Scotti hat sich inzwischen eine veritable Fangemeinde gebildet. Es sind Leute aller Altersgruppen aus der Region, die den Einsatz und das Fachwissen gern in Anspruch nehmen, um Neapel mit neuem, frischem Blick zu betrachten. 

Es ist Samstag früh, neun Uhr. Eine beträchtliche Gruppe gutsituierter Neapolitaner und Neapolitanerinnen hat sich vor der Agenzia delle Entrate eingefunden, im Hafen von Neapel. Siti Reali laden zur Besichtigung der Bourbonischen Reitschule, die heute ein Sitz des Finanzamts ist. Die Agenzia delle Entrate, so heißt diese Abteilung des Finanzamtes, ist als steuereinhebende Behörde üblicherweise ein eher angstbesetzter Ort. Doch an diesem Samstag soll sie sich von ihrer besten Seite zeigen, als ein Ort, wo kulturelles Erbe zum Angreifen nahe ist. Der Blick schweift von dem grau verbrämten weißen Gemäuer aus dem 16. Jahrhundert über die nahen Wohnblocks, wo Unterwäsche auf den Balkonen flattert, hin zu Containern und charmefreien Zweckbauten, die die typische Hafenlandschaft ausmachen.

Dann tritt der Pferde-Fan Giuseppe Maresca auf den Plan. Sein großes Ziel hat er erreicht, erzählt er stolz. Maresca wollte jenen neapolitanischen Rappen züchten, der auf Tizians Portrait Kaiser Karls V. im Prado zu sehen ist. „Ich war in Piber“, erzählt der drahtige, energiegeladene Giuseppe Maresca, „dort habe ich mit dem Direktor herausgefunden, wie das neapolitanische Pferd nachgezüchtet werden kann.“ Maresca wollte diesen besonderen tiefschwarzen Glanz des Fells erzielen, genau so, wie er auf dem Tizian-Gemälde zu sehen ist. Der Direktor des österreichischen Lipizzanergestüts in Piber war überzeugt, dass dieser Glanz durch die Gene eines blauen Neapolitaner-Rappen aus dem Eigentum des jugoslawischen Staatspräsidenten Tito hervorgerufen werden könne. Maresca importierte also ein Pferd aus der Zucht Titos. Schon nach fünfzehn Jahren war die historische Züchtung gelungen. Einen seiner blauschwarzen Neapolitaner-Rappen führt Maresca an diesem Samstagvormittag in der ehemaligen Bourbonischen Reitschule im Hafen von Neapel der begeisterten Gruppe von etwa hundert Besuchern vor. Es ist ein denkwürdiger Augenblick, als der Rappe, geleitet von einem Bereiter, durch die leer stehende Manege der italienischen Steuerbehörde galoppiert. Zwischen die Schreibtische und Aktenregale in dem prächtigen historischen Gebäude lud Leonardo Scotti auch eine Reihe Experten, die von der Geschichte der neapolitanischen Reitkunst und den historischen Ereignissen rund um diese berichten. Ein Ausflug in ein vergangenes Kapitel der neapolitanischen Geschichte, der beim Publikum spürbare Begeisterung erweckt. „Genau das ist unsere Besonderheit. Wir arbeiten mit den Institutionen vor Ort zusammen, im Bewusstsein, gemeinsam ein größeres Ziel zu erreichen."

Seit zehn Jahren sind Siti Reali schon am Werk und graben das historische Gedächtnis der Golflandschaft aus. „Wir gehen zurück zu jenem Moment in der Geschichte des Mezzogiorno, im 18. und 19. Jahrhundert, als unsere Gegend eine Vorreiterrolle einnahm“, schildert Scotti seine Idee. Orte wie die Bourbonische Reitschule, wo heute die Agenzia delle Entrate untergebracht ist, sind Zeugnisse eines Königreiches beider Sizilien, in dem Neapel bis Apulien ausstrahlte, bis Sizilien und Kalabrien, in die Basilikata, in die Abruzzen und ins Molise. Die Bourbonenkönige Karl und Ferdinand brachten die Gegend wieder zum Blühen, nach zwei Jahrhunderten aragonesischer Herrschaft und einem kurzen habsburgisch-österreichischen Intermezzo. Es ist die Zeit, als die Bourbonen-Residenzen Geburtsstätten der kulturellen und zivilisatorischen Neuerung wurden. Die Schlösser von Portici und Capodimonte waren die ersten Zentren des aufgeklärten Hofstaates am Golf, dann kamen die Reggia von Caserta dazu, das Belvedere von San Leucio und die Reggia von Carditello, auf Sizilien war es die Reggia von Ficuzza. Hier entstanden Initiativen, die dem armen Süden Arbeit und Entwicklung bringen sollten, erzählt Alessandro Marra, der Direktor von Siti Reali: „Wenn ich von aufgeklärtem Absolutismus mit positiven Neuerungen für die Region spreche, denke ich zum Beispiel an die Keramik von Capodimonte, an die Seidenproduktion von San Leucio, an den köstlichen Mozzarella von Carditello, die Korallen von Torre del Greco – das sind lauter bourbonische Manufakturen, Versuche der Herrscher, eine Politik des aufgeklärten Absolutismus zu verwirklichen, um die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung zu verbessern.“

Musterbetrieb. Eine ehemalige Bourbonen-Residenz haben Siti Reali bereits aus den Händen der Gegenspieler ihrer Idee, der mafiösen Malavita, die die Gegend in die negativen Schlagzeilen zerrt, gerettet. Es ist die Residenz von Carditello. Ende des 18. Jahrhunderts erbaut, war sie ein landwirtschaftlicher Musterbetrieb mit mehr als 2000 Hektar Größe. Nach dem Ende der Bourbonenherrschaft in Neapel folgten einige Besitzerwechsel und der Verfall. Das Gebäude wurde verwüstet, geplündert und all seiner Dekorationen beraubt. Die Fresken wurden zerstört, darunter auch jene von Goethes Freund, dem in Neapel lebenden Maler Philipp Hackert. „Am Beginn der 2000er-Jahre haben wir diesen Verfallsprozess gestoppt“, erzählt Alessandro Marra, „nach und nach wuchs eine Bewegung wie eine Welle an, zu unserem Unternehmen gesellten sich andere NGOs, erst waren wir fünf, dann zehn, bis die Koalition der gesamten Kulturgemeinschaft Neapels – private und öffentliche Vereinigungen – so groß war, dass Kulturminister Dario Franceschini schließlich auf Druck der Menschen vor Ort im Jahr 2014 die Residenz von Carditello für den Staat gekauft hat.“ Franceschinis Vorgänger als Kulturminister, Massimo Bray, hatte sogar Morddrohungen erhalten, als er die ersten Arbeiten am Gebäude in Auftrag gab. „Wir haben dann alle über die Medien, im Web und in den Social Networks einen Druck aufgebaut, so konnte die Reggia von Carditello schließlich wiederbelebt werden“, erzählt Alessandro Marra.

Und jetzt der Vesuv. Nun steht auch der Vesuv im Zentrum der Bemühungen von Siti Reali. Hier arbeiten Leonardo Scotti, Alessandro Marra und ihr Team mit Costa del Vesuvio zusammen, einer Vereinigung, die das vulkanische Territorium gemeinsam mit seinen Bewohnern wieder aufzuwerten sucht. „Die Restaurant- und Hotelbetreiber und Agrarier am Fuße des Vesuvs haben verstanden, dass diese wunderbare weltberühmte Kulturlandschaft, die sich bis zur Küste erstreckt, nicht brachliegen darf“, erklärt Alessandro Marra. SiRe initiiert nächtliche Wanderungen auf den Vesuv, die glitzernde Golflandschaft vor dunklem Sternenhimmel, und erschließt neue Perspektiven. Es gilt, das Image des Vesuvs, des großen europäischen Vulkans, zu retten. Jenes Bild, welches Reisende viele Jahrhunderte hindurch nach Neapel lockte, eine unvergleichliche Kulturlandschaft, ein europäisches Kulturgut ersten Ranges. „Auf unseren Vesuv-Wanderungen können die Besucher die Lavalandschaft betreten und berühren. Denn momentan kann es noch sein, dass jemand, der nur fünf Kilometer vom Vesuv entfernt wohnt, den Vulkan noch nie bestiegen hat“, sagt Leonardo Scotti mit vor Tatendrang blitzenden Augen. 

Tipp:

Original: Mozzarella vom Wasserbüffel. mozzarelladepaola.it

Buchtipp: „Amore al dente “, Katherine Wilson, Knaur HC. Herzerfrischend, die wahre Geschichte einer Amerikanerin, die nach Neapel kommt und bleibt.

Essen:
La Baccaleria: „alles Baccalà“, Stockfisch in allen möglichen Soßen und Zubereitungsarten, nicht zu billig und nicht zu teuer. Piazzetta di Porto, 4, baccalaria.it

Da Rosiello: Der Himmel geht ins Meer über. Aussicht wie Balsam für die Seele, feinste ­Fischgerichte, ­Familienbetrieb, schönste Location für stilvolles Schlemmen. Via S.  Strato, 10,
ristoranterosiello.it 50 Kalò di Ciro Salvo:

Pizzeria: im Stadtteil Mergellina, gut und stilvoll. Piazza Sannazzaro 201/B, www.50kalò.it

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