Fischen in Kanada: Hundert Lachse für den Winter

Kanadischer Rotlachs
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Wenn die First Nations der St'át'imc im Sommer von British Columbia die Heuschrecken hören, gehen sie Lachse fischen.

Sandra Terry sitzt auf der Bank und lässt die Beine baumeln. Sie ist 27 Jahre alt, klein und zierlich, ihre schwarzen Haare sind kurz geschnitten, um ihren Hals baumelt ein Fernglas. Vor ihr liegt der Fraser River, den alle hier nur den „mighty muddy Fraser“, den matschigen, majestätischen Fraser, nennen, weil er eine braune matschige Brühe ist. Er ist das Zuhause von Tausenden von Lachsen. Von Sandras Bank aus kann sie die Fische die Stromschnellen hochspringen sehen, als wollten sie die Hürden fliegend überwinden. Am steinigen Ufer stehen Zelte und kleine wackelige Hütten, notdürftig aus Holzstücken zusammengeschnürt, bedeckt mit blauen Plastikplanen.

In den Hütten hängen die Körper der Fische, ausgenommen, aufgeschnitten, den Leib ausgebreitet, das Fleisch leuchtend rot in der Sonne. Der Wind trocknet die Fische, das Klima ist hier meist trocken. Nur heute weiß die Sonne nicht, was sie will. Immer wieder fallen ein paar Tropfen Wasser aus den Wolken. Sandra wohnt in Lillooet, einem kleinen Ort im Landesinneren von British Columbia im Westen von Kanada, versteckt zwischen Hügelketten, 300 Kilometer entfernt von Vancouver. Der Ort ist für die meisten Touristen nur eine Durchgangsstation, ein Zwischenstopp für Wohnmobilisten auf ihrem Weg Richtung Osten, wo die Weinregionen und die Rocky Mountains liegen, oder zu den Ranches im Norden.

In Lillooet gibt es nicht viel, nur der Wind ist immer da. Der Ort besteht aus einer Main Street mit Liquor House, dem Reynolds Hotel, einem Gospel House und einer Bibliothek, an ihren Enden reihen sich Trailerhomes aneinander, es folgen Schilder, die zu Quäker-Treffen einladen, ein Haus mit der Aufschrift „Jesus is Lord“. In der Ortsmitte stehen ein Pub, das aussieht wie ein alter Saloon, ein Friseur, Tante-Emma-Läden, Shops für Werkzeuge, Motoren und Sägen.

Mighty muddy Fraser

Hardware-Stores sagen sie hier dazu, dort gibt es alles, was für das Leben wichtig ist: Messer, Fischnetze, Gasflaschen. An der Stelle, wo der „mighty muddy Fraser“ auf den Bridge River trifft, beginnt das Land der St'át'imc, der alten Einwohner dieser Landstriche. Indianer haben die ersten Siedler sie genannt, First Nations nennen sie sich heute. Sandra ist eine St'át'imc, man kann das erahnen, am dunklen Teint ihrer Haut, sie nimmt Touristen mit zu den Fischgründen im Reservat und zeigt ihnen, wie man angelt.

Seit drei Jahren macht sie diesen Job schon, immer dann, wenn die Lachse die Flüsse hinaufwandern, von Mai bis Oktober. Manchmal zeigt sie den Touristen auch die Reste der alten Grubenhäuser, die Archäologen unweit des Flusses freigelegt haben. In diesen höhlenartigen Häusern haben die St'át'imc früher, back in the days, die Winter verbracht, Xwisten nennen sie sie, während sie im Sommer dem Lauf der Natur und den Wegen der Tiere folgten.
Lachse sind seit jeher die wichtigsten Nahrungsmittel der First Nations. In British Columbia gab es sie lang im Überfluss, jetzt kommen mal mehr, mal weniger. Warum das so ist, weiß keiner: Klimawandel, Überfischung, natürliche Fluktuation. Je nachdem, wie viele Lachse erwartet werden, gibt es Angelbeschränkungen – nur für die First Nations gelten sie nicht. Sie dürfen ihre Traditionen pflegen, egal, wie viele Fische kommen.

„Aber auch wir haben unsere Regeln“, sagt Sandra. In diesem Jahr zum Beispiel ist das Fischen mit Angelruten verboten, nur Netze und Casher sind erlaubt. Es gibt zu wenige Lachse – und um ihre Anzahl nicht noch mehr zu dezimieren, macht man das Fischen schwerer. „Wir leben mit der Natur und von ihr, wir nehmen nur, was wir brauchen. Wenn die Fische sterben, werden auch wir bald sterben, oder?“, sagt Sandra. Hinter fast jeden Satz setzt sie „oder?“, als ob sie Bestätigung braucht für das Leben, das sie lebt.

Auf dem Weg zu den Fischgründen der St'át'imc überquert man eine Brücke über den Bridge River. Von oben sieht man die Lachse in einer ruhigen Biegung des kleineren Flusses ruhen. Ihre Körper drängen sich dicht an dicht. Sie sehen aus wie ein riesiger schwarzer Schatten. Die Tiere ruhen sich aus, bevor sie weiterschwimmen, hinein in den Fraser River, die Stromschnellen überwinden, zurück an den Ort, an dem sie geboren wurden, an dem sie laichen und sterben werden. „Den ersten Fisch, den ich fange, werfe ich zurück in den Fluss und spreche ein Gebet“, erzählt Sandra. Meist fängt sie Rotlachse, es gibt zwar auch Königslachse, aber viel weniger.

Kaviar für die Forellen

Ein Mann, eine Frau und zwei Kinder stapfen einen Pfad von den Fischgründen herauf, steigen über ein paar Felsen, bis sie an Sandras Bank ankommen. Es ist ihr Bruder, seine Frau und seine Kinder. „Wir haben heute 22 Fische“, jubeln die Kleinen – in ihren Händen hält jeder einen Trockenfisch. Die Frau trägt einen Plastikbeutel voller Kaviar. „Ich liebe Fischeier, besonders mit ein bisschen Zucker. Willst du auch welche?“, fragt sie Sandra, aber die schüttelt nur den Kopf. „Benutz sie lieber als Köder für die Forellen“, antwortet sie. Ihr Bruder nickt. Dann ziehen sie weiter Richtung Brücke.

Hundert Lachse braucht Sandra für sich und ihre beiden Kinder, um über den Winter zu kommen. Aber zum Fischen hat sie kaum noch Zeit, sie arbeitet in zwei Jobs, als Touristenführerin und als Sozialarbeiterin für Jugendliche mit Problemen. Davon gibt es viele hier oben unter den First Nations. „Man muss die Miete ja zahlen, oder?“ Hundert Fische klingt nicht nach viel. Aber das Trocknen dauert fünf bis sieben Tage. Die meisten Familien campen solange am Fluss, bewachen ihren kleinen Schatz. Um einige Hütten sind Drahtzäune gespannt, sie sollen die Bären fernhalten. Bären sind faul und holen sich das Essen, an das sie am leichtesten rankommen. Auch heute geht Sandra nicht hinunter ans Ufer, um die Netze zu kontrollieren. „Ich darf dich leider nicht mitnehmen“, sagt sie entschuldigend. Das Zeigen, wie man angelt, beschränkt sich tatsächlich auf die visuelle Wahrnehmung, es gibt keinen glitschigen Fischkörper in den Händen, keine abgeschlagenen Köpfe, keinen Geruch, den man tagelang nicht aus den Klamotten bekommt.

„Es ist wegen der Versicherung“, erklärt sie. Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Es gibt Menschen unter den St'át'imc, die es schon als Beleidigung empfinden, wenn Touristen von oben aus zuschauen. Aber Sandra nimmt sie trotzdem mit, sie fühlt sich wie eine Pocahontas der Neuzeit, eine Vermittlerin zwischen den Kulturen. Deshalb macht sie diesen Job, viel Geld verdient sie damit nicht, in den Sommermonaten macht er ein Viertel ihres Einkommens aus.

„Unsere Kultur ist nicht 1850 stehen geblieben, wir leben im Hier und Jetzt und so sieht es eben aus, da gibt's nichts zu verheimlichen“, sagt Sandra und schaut auf ihr Smartphone. Sie tippt eine Nachricht. Es stimmt nicht ganz, denn irgendwie leben sie genau dazwischen. An ihrem Bein prangt ein Tattoo, es sind Spuren, die Bärentatzen hinterlassen, sie tapsen die Wade hinauf. „Der Bär ist das Totemtier meiner Familie“, erklärt Sandra, „der Bär, das sind wir.“ Ein Totemtier ist ein heiliges Tier, ein Geist, der die Gruppe beschützt. Sieben Familienclans teilen sich diese Seite des Flusses, jeder hat seinen eigenen schützenden Geist.

Unten auf dem Felsen steht ein Mann in dreckiger Jeans, Karohemd und Kappe. Er hat gerade einen Königslachs aus dem Wasser geholt. Der Fisch ist so groß wie ein Kleinkind. Der Mann winkt Sandra und hebt ihn hoch. Sandra setzt ein gequältes Lächeln auf und winkt zurück. „Der Typ schenkt mir Fische“, sagt sie, „die brauche ich, aber er hört auch nicht auf, mir SMS zu schreiben.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Man kann seine Kinder ja nicht verhungern lassen, oder?“ Sie trocknet, räuchert und pökelt den Fisch, friert ihn ein und konserviert ihn in Dosen. Fisch, Fisch, Fisch.

Zwei Elche im Winter

Zwischendurch gibt es auch Elch. Einen oder zwei der sanften Riesen schießt Sandra im Winter. Das sei viel Arbeit, man muss sie vor Ort häuten, dann muss sie das Fleisch auf ihren Truck hieven, einen Tag braucht es, um auszubluten. Man traut es ihr gar nicht zu, mit ihrer kleinen Statur. Mit dem Fisch ist das einfacher. Man fährt mit dem Messer entlang der Gräten, dabei entsteht ein klickendes Geräusch. Es ist dasselbe Geräusche, das Heuschrecken machen, wenn sie im Sommer in den Feldern auftauchen.

„In den alten Zeiten zogen wir los zum Fischen, wenn wir die Heuschrecken hörten“, sagt Sandra. In den längst vergangenen Tagen falteten die First Nations den Körper auf und steckten ein Stock durch, so dass es aussah, als hätte er Flügel bekommen. Jetzt hänge sie einfach nur die Filets in den Wind. Sandra hätte uns gern gezeigt, wie man das macht, aber ihr Telefon klingelt. Sie muss los, ihre Tochter abholen. In den alten Zeiten hätte die Familie auf das Kind aufgepasst. Aber die alten Zeiten sind vorbei.

FISCHEN UND MEHR

Überall in British Columbia haben die First Nations kleine Tourismusventures aufgebaut. In Whistler gibt es das Squamish Lilwat Cultural Centre, eine Art lebendiges ethnologisches Museum, am Shuswap Lake haben die Secwepemc ein Golfresort eröffnet, in Vancouver kann man mit den Salish Kanu fahren gehen. Infos unter: www.aboriginalbc.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2016)

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