Neuseeland: Geschichten aus Nadelstichen

Abgeschliffen. Die wilde Tasmanische See brandet an die Küste des Kahurangi-Nationalparks.
Abgeschliffen. Die wilde Tasmanische See brandet an die Küste des Kahurangi-Nationalparks.(c) Win Schumacher
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Ta moko, die traditionelle Tätowierkunst der Māori in Neuseeland, erlebt seit Jahren eine Renaissance.

„Tätowierungen sind für mich wie Lebensgeschichten“, sagt Gordon Toi. „Wenn ich jemanden ohne Tattoo sehe, ist er für mich wie ein weißes Laken. Ich frage mich: Hat er keine Geschichte, die er mir erzählen kann?“ Der vom Unterschenkel bis zum Kinnbart tätowierte Māori streicht sich über den reich verzierten Oberarm. Gordon Tois Haut kann viele Geschichten erzählen. „Mein erstes Tattoo ließ ich mir mit 18 stechen“, sagt der 52-Jährige, „ein europäisches Tattoo: ein Adler mit einem Herz in den Klauen. Wie bescheuert! Inzwischen ist es unter dem Drachen hier verschwunden. Damals hat man bei den Tattoos der Māori noch die Nase gerümpft. Als ich klein war, kann ich mich nur an ein paar alte Frauen erinnern, die noch das traditionelle Kinntattoo hatten.“

Vor Tois Tätowierstudio, House of Natives, in Aucklands geschäftigem Vorort Mangere begrüßen sich zwei Buben mit dem Hongi, dem traditionellen Nasenkuss. Hier im Süden des größten Ballungszentrums Neuseelands leben überdurchschnittlich viele Māori, neu eingewanderte Polynesier und Asiaten. Drinnen im Studio lässt sich gerade eine brasilianische Mitarbeiterin eines Kreuzfahrtschiffs am Oberschenkel vom Knie bis unter den Stringtanga tätowieren. Sie hat sich für ein traditionelles Māori-Motiv mit mehreren ineinander rankenden Koru-Symbolen entschieden. Koru wird in Neuseeland der sich entrollende Silberfarnwedel genannt. In der Kunst der Māori steht die stilisierte Farnspirale für einen Neuanfang, für Frieden und Harmonie.

Geschäftig. Aucklands Skyline wächst und wächst, so wie die Wirtschaft des Landes.
Geschäftig. Aucklands Skyline wächst und wächst, so wie die Wirtschaft des Landes. (c) Win Schumacher

„Als ich Ende der 1980er-Jahre begonnen habe, Ta moko, die Körperkunst der Māori, zu lernen, war darüber kaum etwas bekannt“, sagt Toi. Seine Künstlerkarriere hatte er als Holzschnitzer begonnen. Am Māori-Kunstinstitut von Rotorua entstanden seine ersten Werke aus Holz und Stein. Bald begann er in den Depots verschiedener Museen die Relikte der Vorfahren zu studieren. „Ich erkannte, dass jede Skulptur eine individuelle Form und Maserung, ihr ganz eigenes Gesicht hat. Keine sieht der anderen gleich. Jede hat eine einzigartige Geschichte.“ Der Materialübergang von Holz zur Haut war für Toi ein natürlicher. „Für die Māori macht das kaum einen Unterschied. Wir sind ein kunstfertiges Volk. Beide Materialien haben eine Maserung, beide sind wie geschaffen dafür, eine Geschichte zu tragen.“

Kratzen und schaben. Ta moko unterscheidet sich von anderen Formen der Tätowierung dadurch, dass sie nicht mittels vieler kleiner Stiche aufgetragen wird, sondern mit Kratz- und Schabwerkzeugen, mit denen eine Art Hautrelief erzeugt wird. Heute werden allerdings verstärkt moderne Tätowiertechniken angewendet. Auch Toi arbeitet in erster Linie mit modernen Werkzeugen. Die Körperkunst der Māori aber ist die alte geblieben. Sie findet sich auch auf einigen anderen polynesischen Inseln wieder.

Traditionell. Jede Skulptur hat eine individuelle Form und Maserung, ihr eigenes Gesicht.
Traditionell. Jede Skulptur hat eine individuelle Form und Maserung, ihr eigenes Gesicht.(c) Tourism New Zealand Chad Case

Als Hawaiki bezeichnen die Māori das geheimnisvolle Land, aus dem ihre Ahnen einst in Kanus nach Neuseeland gekommen sind. Noch heute rätseln An­­­thropologen, Sprachwissenschaftler und Archäologen, ob es sich dabei um die Gesellschaftsinseln, um Savai’i, die Hauptinsel Samoas, oder gar um das Tausende Kilometer entfernte Hawaii handeln könnte. Fest steht: Aus Ostpolynesien kommend sind die Māori wahrscheinlich im 13. Jahrhundert nach Christus im damals unbewohnten Neuseeland gestrandet. Etwas mehr als 200 Jahre blieben sie allein – bis 1642 Abel Tasman die Inseln entdeckte und 1769 James Cook. „Jahrhundertelang wurde die Kultur der Māori von Kolonisierung und Religion unterdrückt“, sagt Toi. „Inzwischen erlebt die alte Kunst eine wahre Renaissance. Immer mehr Leute wollen ein Ta moko und werden so zu Botschaftern in aller Welt.“ Toi wirkte als Schauspieler und Künstler auch an den Filmen „Das Piano“ und „Whale Rider“ mit. Neben Holly Hunter ist er als grimmiger Einheimischer zu sehen.

Vor der Ankunft der Europäer trugen fast alle hochrangigen Māori Tattoos. Eindrückliche Beispiele von kunstvollen Gesichtstätowierungen finden sich beispielsweise in den Gemälden des böhmischen Malers Gottfried Lindauer, der 1874 nach Neuseeland auswanderte. Seine detailgetreuen Porträts von Māori-Oberhäuptern zeigen den Stolz und die außergewöhnliche Kunstfertigkeit der ersten Bewohner Neuseelands.

Filigran. Koru, der Silberfarn, ist zum Symbol des neuen Selbstbewusstseins Neuseelands geworden.
Filigran. Koru, der Silberfarn, ist zum Symbol des neuen Selbstbewusstseins Neuseelands geworden. (c) Win Schumacher

Koru, der Silberfarn. In der Auckland Art Gallery hängen heute nicht weit von Lindauers Kriegerporträts die Werke moderner neuseeländischer Künstler wie Gordon Walters, der in seinen Koru-Serien als einer der ersten Maler traditionelle Māori-Motive mit geometrischer Abstraktion verband und damit einen wesentlichen Beitrag zu einer eigenständigen neuseeländischen Moderne leistete.

Koru ist zum Symbol für das neue Selbstbewusstsein der Neuseeländer geworden. Ob als Spirale oder entfaltetes Blatt: Der Silberfarn ist mittlerweile in Neuseeland allgegenwärtig – längst nicht mehr nur als Motiv auf den Oberarmen und Waden der Māori und der hippen Aucklander Jugend. Mit der Pflanze identifizieren sich heute Neuseeländer ganz unterschiedlicher Herkunft und Gesellschaftsschichten. Der Farn wird auch als Logo der neuseeländischen Rugbymannschaft, der nationalen Fluglinie Air New Zealand, von Radio- und Fernsehsendern des Landes verwendet. „Pflanzen, Vögel, Fische, Wind, Regen, die Kraft des Ozeans – die Inspiration der Māori waren immer ihre natürliche Umgebung und ihre spirituelle Erfahrung“, sagt der Tätowierer Toi, „in der Körperkunst der Māori werden sie alle zu Symbolen auf einem Lebensweg.“ Auf seinen Oberarmen ragen Anspielungen an Fregattvögel, Hammerhaie und Hundezähne ineinander. Sie stehen für seine Herkunft und Veränderungen im Leben.

Andenken. Viele Touristen gönnen sich vor ihrer Abreise noch schnell ein Māori-Tattoo.
Andenken. Viele Touristen gönnen sich vor ihrer Abreise noch schnell ein Māori-Tattoo.(c) Beigestellt

Wer jenes Neuseeland kennen lernen möchte, das die Māori einst entdeckten, als sie mit ihren Kanus in Aotearoa, dem „Land der langen weißen Wolke“, strandeten, erkundet am besten die Südinsel. Im Kahurangi-Nationalpark im wilden Nordwesten hat sich der ursprüngliche Farnwald fast wie zur Zeit der ersten Eroberer erhalten. Wer es abenteuerlicher mag, steigt auf die schneebedeckten Gipfel in Fjordland oder im Mount-Aspiring-Nationalpark. Noch weltabgeschiedener erscheint das ungezähmte Stewart Island, die drittgrößte Insel ganz im Süden des Landes. Hier kann man tagelang an menschenleeren Küsten und durch einen der dichtesten Urwälder Neuseelands wandern. Nicht selten landen begeisterte Neuseeland-Touristen vor ihrer Rückreise noch schnell in einem der Tätowierstudios wie dem von Gordon Toi. Euphorisch von all den Eindrücken lassen sie sich vor ihrer Abreise zurück in den Alltag noch ein Stück neu entdeckter Lebensgeschichte in die Haut stechen. Es braucht längst keine Kanus mehr, um die Kunst der Māori bis ans Ende der Welt zu tragen.

Tipps

Traditionell. Den Hei Tiki gibt es in dieser Form nur bei den Māori.

Angenehm. Die Pflegeserie mit Manuka-Honig wird in Neuseeland produziert. kiriskincare.co.nz

Anreise: Zum Beispiel mit Air New Zealand, der nationalen Fluglinie, über London und Los Angeles nach Auckland. airnewzealand.com

Wanderungen: Neuseeland ist ein Wanderparadies und bekannt für seine Great Walks, neun bestens instand gehaltene und gut ausgeschilderte Wanderwege in den schönsten Naturlandschaften des Landes. Der Heaphy Track führt durch einen der ursprünglichsten Farnwälder des Landes und entlang der wilden Nordwestküste im Kahurangi-Nationalpark. greatwalks.co.nz

Wer den Proviant nicht selbst schleppen, aber mit bester regionaler Küche verwöhnt werden will, ist bei Southern Wilderness Guided Gourmet Walks richtig: southernwilderness.co.nz

Ta moko: Gordon Tois Māori-Tätowierstudio, House of Natives, im Aucklander Vorort Mangere steht auch Touristen offen. www.houseofnatives.
gpcsupport.com

Weitere Informationen: Tourism New Zealand, www.newzealand.com

Compliance-Hinweis: Der Autor wurde von Tourism New Zealand und Air New Zealand unterstützt.

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