Kathmandu: Das Leben danach

Beschädigt. Die Boudhanath-Stupa in Kathmandu wird wiederhergestellt.
Beschädigt. Die Boudhanath-Stupa in Kathmandu wird wiederhergestellt.(c) APA/AFP/PRAKASH MATHEMA
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Kathmandu einmal anders: nicht als Durchzugsstation oder als Visit-all-temples-Sammlung. Wie ist das Leben in der staubigen Metropole, 18 Monate nach den großen Erdbeben?

Leider gibt es keine Nepal-Geschichte ohne Erdbeben. Aber wenn heute die Erde wackelt, jüngst immerhin in der Stärke 5,6 (ein Toter durch eine Lawine, das 475. Nachbeben von einer Stärke von über 4,0 seit 18 Monaten), ist es meist nur eine Art tektonische Korrektur, hervorgerufen durch die beiden massiven Erschütterungen im April und Mai 2015. Diese haben neben 9000 Todesopfern vor allem um Kathmandu Wunden hinterlassen. Vor Augen liegen nur die materiellen. Nicht im quirligen Marktviertel Asan oder im Touristendistrikt Thamel, wo ein Haus das andere stützte, sondern vorwiegend dort, wo Häuser einzeln standen. Viele stehen noch, erhielten aber rote Punkte: Risse in der Substanz, „Betreten verboten“. Neben einer Million Häuser fielen 860 nepalesische Monumente, unter anderem in der Tempelinnenstadt um den Durbar Square, in sich zusammen oder trugen schwerste Schäden davon. Die berühmte Boudhanath-Stupa ist seit 22. November 2016 nach einer dreitägigen Reinigungszeremonie wieder zugänglich. Die Einweihung war ein Sieg im Kampf gegen das nationale Trauma. Der emblematische Dharahara-Turm, schon 1934 bei einem Erdbeben umgefallen, mit 62 Metern höchstes Gebäude des Landes, stürzte wieder einmal als Ganzer zusammen. Sechzig Leichen lagen in den Trümmern. Wie eine Hand ohne Finger ragt die Ruine zehn Meter empor. Der Turm wird wieder aufgebaut, „erdbebensicher“. Im löchrigen Gebiss Kathmandu boomt die Bauwirtschaft, Ingenieure sind gefragt wie nie zuvor. Paradoxerweise ist eine Aufbruchstimmung bis in die lehmigen Nebenstraßen hinein greifbar.

Rituell. Pilger haben aus dem Bagmati-Fluss in Kathmandu heiliges Wasser geschöpft.
Rituell. Pilger haben aus dem Bagmati-Fluss in Kathmandu heiliges Wasser geschöpft. (c) REUTERS (NAVESH CHITRAKAR)

Vielleicht ist das Körpergefühl der Nepalesen seitdem einfach ein anderes, vielleicht war es immer so: Wer sich bei jedem entschuldigt, der ihn anrempelt, macht sich in Kathmandu zum Esel. Nicht, dass die Bewohner so unhöflich wären . . . Das ist die erste Lektion. Die zweite entfaltet sich langsamer: Die Straßen stehen zwar irgendwie in rechten Winkel zueinander, die Gassen absolut nicht. Von Schildern ist wenig zu sehen, die Himmelsrichtung rasch verloren. Lost in Kathmandu, einer Metropole mit mehr als einer Million Einwohner, einem Zehntel des von Größe und Bevölkerung her mit Österreich vergleichbaren Landes. Kathmandu, das die Einheimischen auf der vorletzten Silbe betonen: bunt, staubig, verwirrend. Roger Willemsen bezeichnete die Mischung aus Newari- und moderner Architektur als eine Art Neuschwanstein mit „Spitzendeckchen aus Giebeln, Säulen, Erkern, Friesen, Gittern, Lünetten und Verzierungen“.

Männer, Frauen, Affen, Hunde. In einer Marktgegend trägt ein Mann auf dem Rücken einen drei Meter hohen Holzschrank. Dann eine Menschentraube: Selbstverteidigungsunterricht für Frauen. Unter dem Gelächter der Umstehenden schlägt eine Frau einem Stuntman ins Gesicht. Gleich daneben singt ein Mann leise, fast unbemerkt in ein Mikrofon. Die Musik aus dem Verstärker übertönt kaum das Geschachere um die frischen Fische neben einer fantastischen Vielfalt an Wanderanoraks. Am nächsten Eck hat sich ein Affe einem ambulanten Orangenstand genähert und stibitzt sich eine Frucht, die er auf einem Elektrizitätsmasten verspeist, von wo er die Schalen den Passanten auf den Kopf wirft. Niemand stört sich daran. Ja, niemand stört sich hier an nichts. Westliche Besucher spazieren zwar durch, doch die Nepali ignorieren sie angenehmerweise – sie sind seit Sir Edmund Hillary, Reinhold Messner & Co. der normalste Anblick.

Noch normaler sind Straßenhunde. Man könnte ihnen zum Beispiel auf dem Rückweg vom Dinner – einem nepalesischen Dhali oder den gefüllten Momos (Teigtaschen) – begegnen. Habituell mit Steinen verjagt, tagsüber unterwürfig, lungern sie in Rudeln um Müllsäcke und rammen ihre scharfen Zähne durch das Plastik, um die Leckerbissen zu ergattern, ein Köter dem nächststehenden der schlimmste Feind. Im Halbkreis um die schmatzenden Alphaexemplare stehen die dünneren, jüngeren oder im Wachstum Zurückgebliebenen, letztlich verurteilt zum langsamen Tod. Nähert sich jemand, so beginnen die nicht fressenden Plünderer zu knurren. Um diese Uhrzeit sind sie in der Gruppe stark.

Gereinigt. Rauchopfer anlässlich der Wiedereröffnung der Boudhanath-Stupa.
Gereinigt. Rauchopfer anlässlich der Wiedereröffnung der Boudhanath-Stupa.(c) REUTERS (NAVESH CHITRAKAR)

Royal massacre. Der Zeitunterschied zu Mitteleuropa beträgt 4 ¾ Stunden, die Dreiviertelstunde ist wohl auch auf das dringende Bedürfnis zurückzuführen, sich vom indischen großen Bruder zu unterscheiden. Die Nepali haben einen schweren Stand zwischen zwei Riesenmächten. „Wir sind wie ein Sandwich“, hört man vielerorts, „aber wir sind dabei leider das Fleisch, das jeder verschlingen will.“ Die Nachbarn mischen in der Politik mit. Jüngst machte sich Indien mit einer umstrittenen Blockade unbeliebt. China agiert hingegen undurchsichtig. Die Dualität führt zu einer Art buddhistisch-hinduistischer Schicksalsergebenheit, die einerseits die sprichwörtliche Freundlichkeit generiert – Namaste! –, die gesellschaftspolitisch gesehen manchmal überkocht. In der Bevölkerung herrschen einige Narrative vor, die an Verschwörungstheorien grenzen.

Am 1. Juni 2001 lief der nepalesische Thronfolger Dipendra bei einem Dinner Amok und rottete mit dem König, seinem Vater Birendra, neun weitere Mitglieder der Königsfamilie aus und verletzte vier schwer („nepalese royal massacre“). Ein lokaler Romanautor schuf jedoch die These, dass Mörder mit Dipendra-Masken das Massaker begangen hätten. Das halten viele Politikenttäuschte inzwischen für möglich. Tatsächlich wurde Dipendra, noch schwer verletzt im Koma liegend, vom 2. bis 4. Juni zum Kurzzeitkönig, bevor er ablebte.

Sein Onkel Gyanendra, der beim Amoklauf – wie manche glauben – „zufällig“ abwesend war, übernahm den Thron. 2008 dankte auch er ab, die nepalesische Monarchie war Geschichte. Zur Zeit regiert der achte nachmonarchistische Premier, Prachanda, ein Parteigänger der maoistischen Kommunisten, nicht zu verwechseln mit der ebenfalls einflussreichen marxistisch-leninistischen Partei.

Schmuck. Zinnoberrot und Blumengirlanden für einen Polzeihund beim Tihar-Fest.
Schmuck. Zinnoberrot und Blumengirlanden für einen Polzeihund beim Tihar-Fest. (c) APA/AFP/PRAKASH MATHEMA

Ein Theater. Das Shilpee Theatre Nepal liegt im Stadtteil Battisputali. Nichts weniger als der Befreiungskampf des Menschen ist das Thema von „The Bruised Evenings“, eines Stücks von Abhi Subedi. Eine Prinzessin wird täglich verheiratet, nach der Hochzeitsnacht findet sie den Bräutigam tot im Bett vor. Totgebissen von Schlangen, die aus ihren eigenen Nasenlöchern kriechen. Die Götterfiguren Bhairab und Bhadrakali müssen jedoch letztlich Macht und Stärke des Menschen zur Kenntnis nehmen. Schon zu Beginn gibt es eine Überraschung: die vollständige, totale Theaterdunkelheit, wie es sie anderswo nie geben kann. Die feuerpolizeilichen Standards sind hier eher niedrig.

Das Stück über Menschen und Götter im Kreuzverhör – auf Nepali – ist tanz- und turnaffin, die lokale Musik klingt in unseren Ohren chinesisch. Aus Sicht eines Nichtverstehenden scheint das Spiel traditionelle Rollenbilder eher zu verfestigen – aber vielleicht denken das Besucher aus Nepal im Burgtheater auch. Jedenfalls wird eine Menge Menschliches „verhandelt“. Gegen Ende sticht der Prinz endlich mit dem Plastikschwert zu. Das Publikum atmet auf.

Ein Krankenhaus. Ausflug nach Dhulikel. Die 10.000-Einwohner-Stadt liegt an der Route nach Tibet. Hier wird mit chinesischen Waren gehandelt und floriert das Geschäft mit dem Wasser aus dem Himalaja. Die Bergkette, in Kathmandu nur fühlbar, klebt wie eine Wandtapete hoch im Himmel, zu sehen in den monsunlosen Monaten Oktober bis April, u. a. der Langtang Lirung (7227 Meter) und ganz weit hinten sogar der Everest und Makalu.

Dhulikel betreibt ein erstaunliches Krankenhaus. Chirurg und Uni-Rektor Prof. Dr. Ram Shresta freut sich, wieder einmal Österreichisch zu reden. 15 Jahre seines Lebens hat er bei uns verbracht, 1986 in Wien promoviert, lang in Feldkirch gearbeitet, „euer Land hat mir viel gegeben“. Spricht er Vorarlbergisch? „Es gooht so“, lacht der Professor.

1996 ist es ihm gelungen, dieses Spital mit sechs Ärzten zu eröffnen, in seiner Heimatstadt, in der er als Kind hilflos den Tod seiner medizinisch unterversorgten Mutter miterleben musste. Inzwischen wurde aus dem Start-up- ein Medizinvorzeigeprojekt mit einer halben Million Patienten und 20.000 Eingriffen pro Jahr. „Wir haben eigentlich alles außer einer Neurochirurgie.“ Shresta bildete eine Generation heimischer Ärzte aus und lädt regelmäßig Austauschärzte und Gastprofessoren ein. „Das ist wichtig, um die Qualität zu erhalten, es soll nachhaltig sein.“ Die Einheimischen zahlen im Dhulikel Hospital nur einen symbolischen Betrag für Untersuchungen und Operationen. Professor Shresta schickt Grüße in westösterreichischem Stil: „Wien ist für mich zweite Heimat, odr?“

Illuminiert. Öllampen auf dem Bagmati-Fluss.
Illuminiert. Öllampen auf dem Bagmati-Fluss. (c) REUTERS (NAVESH CHITRAKAR)

Erdbebenhilfe. Das Campo Esperança oder Camp of Hope hat 350 Bewohner aus 14 Dörfern aus der zu Tibet hin ansteigenden Sherpa-Region Sindhupalchok im Langtang-Nationalpark aufgenommen, dem Epizentrum im stets in Bewegung befindlichen, fragilen Himalajamassiv. Ihre Felder wurden durch das Beben zerrissen und zerschnitten, als wären Pflüge von Riesen darübergefahren. Zurzeit unterstützen die Chefinnen des Hotel Dwarika’s gemeinsam mit portugiesischen Freiwilligen die Bauern dabei, mit Perspektiven in ihre Heimat zurückzukehren. Einige Erwachsene konnten bereits rückgeführt werden, während die Schulkinder im Camp bleiben, bis die zerstörte Schule aus privaten Geldern aufgebaut sein wird. Alles ohne staatliche Unterstützung. „Die Regierung ist unfähig“, hört man ringsum oft, „sie regieren, aber ohne Plan.“ Hört man ja in manchen Ländern.

Info

Anreise: Flug mit Qatar Airways über Doha.

Unterkünfte. Dwarika‘s Hotel Kathmandu, einzigartig im Nepal-Heritage-Stil erbaut, Fenster und Türen aus Newari-Schnitzereien, die Gründer Dwarika Shresta (1925-92) rettete und restaurieren ließ. Erstklassiges Service, gute Lokale, Nachhaltigkeitsanspruch; Battisputali Rd, Kathmandu. dwarikas.com;

Dwarika‘s Resort Dhulikel: Spa- und Meditationshotel der Luxusklasse mit Panoramablick auf den Himalaja, einer hauseigenen Farm und einem Fernrohr für Himalaja-Betrachtungen. dwarikas-dhulikhel.com

Pauschalreise. Studiosus Reisen bietet 2017 die 14-tägige Reise „Nepal – am Thron der Götter“ (6 Termine). studiosus.com

Erdbeben. Im April und Mai 2015 erschütterten zwei Erdstöße der Stärken 7,8 und 7,2 das Kathmandu-Tal. 9000 Menschen fielen ihnen zum Opfer. Die Schäden sind noch immer sichtbar.

Geldkrise. Das komplizierte Verhältnis zu Indien äußerte sich z. B. in einer mehrwöchigen Treibstoffblockade. Dazu kommt, dass viele Nepalesen in den Grenzregionen Indische statt Nepalesische Rupien auf ihren Konten horteten, ehe Indien beschloss, die geldwäscheanfälligen 5000- und 10.000-Rupien-Scheine aus dem Verkehr zu ziehen. Die Info drang nicht nach Nepal durch. Nun sitzen sie auf ihren ersparten Rupien, die keine Bank mehr wechselt.

Tempos. Wenn kein Taxi in Kathmandu zu bekommen ist, nimmt man dreirädrige Minibusse namens Tempos, oder Safa Tempos (sauberere). Sie sind hinten offen und nehmen einige Personen oder Lasten auf feststehenden Routen auf, es gibt keine Stationen, alles ist verhandelbar.

Buch. In zehn Geschichten porträtiert der Österreicher Martin Zinggl das Land. Sehr lesenswert. „Lesereise Nepal – Im Land der stillen Helden“, Picus Verlag, 2016.

Museum. Der österreichische Filmemacher und Architekt Götz Hagmüller hat sich bei der Renovierung und Umwidmung des königlichen Palasts von Patan (von 1734)verdient gemacht und ein Buch dazu verfasst: „Patan Museum – The transformation of a Royal Palace in Nepal“. Seine Maßnahmen erwiesen sich als erdbebensicher. Das an den Palast angeschlossene Patan-Museum trägt auch seine Handschrift. Hagmüller, 76, lebt in der alten Hauptstadt Bhaktapur. patanmuseum.gov.np

Compliance-Hinweis: Der Autor war Gast von Studiosus Reisen.

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