Island I: Es war der Troll und nicht der Gletscher

Einsam und archaisch ist das Leben an den Westfjorden.
Einsam und archaisch ist das Leben an den Westfjorden.(c) Sascha Rettig
  • Drucken

Abgeschieden ist der Nordwesten der Insel, und im Winter besonders einsam und ruhig. Selten laufen einem an den Westfjorden Menschen über den Weg. Doch die Begegnungen sind originell.

Der direkte Weg zum Bad in der heißen Quelle ist ein kleines Abenteuer. Zuletzt hat es in den isländischen Westfjorden stark geregnet, und viel Schnee ist geschmolzen. Der Weg voller Islandpferde, die neugierig durch ihre adretten Ponys blicken, ist reichlich matschig. Auch die Steine, die sonst eine mühelose Überquerung des Flusses ermöglichen, werden nun überströmt vom eiskalten Wasser. Wie eisig das ist, wird spätestens ab Stein Nummer vier klar: In den Füßen setzt das Gefühl von Tausenden Stecknadeln ein. Doch auf halbem Weg gibt es kein Zurück, schon gar nicht mit der heißen Quelle am anderen Ufer im Blick. Daher heißt es: Zähne zusammenbeißen, noch ein paar Meter über die Schneereste tänzeln, schnell ausziehen und dann selig ins angenehm heiße Wasser der kleinen Badestelle eintauchen. Die existiert angeblich schon seit dem Mittelalter und bietet einen grandiosen Ausblick auf das kleine Landhotel im isländischen Nirgendwo und die menschenleere Landschaft bis hinunter zum Fjord.

Polarfuchs von links

„Wer im Winter hierherkommt, der mag Einsamkeit und Stille, die Natur und die Dunkelheit“, erklärt Stella Gudmundsdottir. Die ältere Dame hat mit ihren Söhnen vor 16 Jahren den alten Bauernhof gekauft und dort ihr uriges Landhotel Heydalur eröffnet. Wie abgeschieden, wie weit weg das von allem ist, dafür bekommt man noch ein stärkeres Gefühl, wenn man die Tour fortsetzt und tiefer in die Westfjorde fährt. Es kommen einem auf dem Weg nur wenige andere Autos entgegen. Einmal kreuzt in der Felslandschaft ein kleiner, durch sein dickes Fell geradezu pummelig wirkender Polarfuchs die Straße, als sei er empört darüber, aufgeschreckt worden zu sein. Die Natur hier ist rau, das Wetter unberechenbar. Und es fühlt sich ein bisschen mehr nach Abenteuer an in dieser von der Eiszeit geformten Landschaft, die wie ein Organismus brodelt, schwitzt und dampft und fließt.

Fantasiewesen formen Gelände

Entlang der Meeresarme steigen die Berge wie baumlose Brocken auf, die weiß befleckt oder ganz bedeckt sind vom Schnee. Immer wieder schieben sie sich für den Betrachter neu ins Blickfeld, ganz wie mächtige Finger, die sich ins Meer legen und in denen die Lavaschichten die Millionen Jahre zurückliegenden Ausbrüche herauslesen lassen. Im Westen, am äußersten Zipfel der Halbinsel, findet sich das älteste Stück Erde Islands: Vor etwa 16 Millionen Jahren soll es aus dem vulkanischen Hotspot herausgesprudelt sein.

Diese abgeschiedene, geheimnisvolle Landschaft mit ihren langen, dunklen Wintern befeuert natürlich den Glauben an Legenden und geheimnisvolle Wesen, an Trolle, Elfen – und den Winterbullen. „,Zieh dich im Winter warm an, oder der Winterbulle frisst deinen Penis‘ – wenn dir deine Oma das sagt, die unter harschen Bedingungen die ersten Jahrzehnte ihres Lebens in einem Torfhaus gewohnt hat, dann hast du daran keinen Zweifel“, erklärt Gulli Disco, ein bäriger Bilderbuch-Isländer mit Vollbart, bei einer gemeinsamen Schneeschuhwanderung auf einem dieser Fjordberge.

Straßen würden in Island bis heute umgeleitet wegen Elfen und Trollen. Es gäbe sogar eine Expertin, die man engagieren kann, um mit den Elfen zu verhandeln, erzählt Gulli. Auch, dass es sich bei den Westfjorden um eine Halbinsel handelt, sei die Schuld dreier Nachttrolle. Die wollten der Legende zufolge eigentlich eine Insel daraus machen und gruben dafür einen Kanal. Allerdings wurden sie nicht rechtzeitig fertig und erstarrten im Sonnenlicht zu Stein. „Und seht ihr das dort drüben?“, fragt Gulli und deutet auf den Berg gegenüber. Das sei ein Trollsitz, sprich der Troll wollte sich die Füße im Wasser kühlen und hinterließ die tiefe Mulde im Gelände. „Es gibt natürlich auch eine wissenschaftliche Erklärung mit Endmoränen, deren Tauwasser nach und nach das Gestein ausgewaschen hat – doch wer will diese Geschichte schon hören“, meint er und wandert weiter über den kargen Boden. Sieht man einmal von den Überresten eines alten Skilifts ab, geraten die letzten Anzeichen der Zivilisation beim Blick nach vorn sehr schnell außer Sichtweite. Beim Blick zurück allerdings eröffnet sich ein schönes Panorama der Bucht von Ísafjördur, der Hauptstadt der Westfjorde.

Geschichte mit der Fisch-Frau

In Ísafjördur kommt bei gerade einmal 2600 Einwohnern fast schon Großstadtgefühl auf. Hier gibt es sogar ein halbes Dutzend Restaurants und Cafés, eine Einkaufsstraße, etwas Industrie und einen Fischereihafen, der nach großen Veränderungen in den 1980ern wieder an Bedeutung gewonnen hat. Im Sommer fallen die Tagestouristen der Kreuzfahrtschiffe ein. Im Winter ist es in den Straßen ungleich ruhiger.

„Die Westfjorde waren nicht immer so fern ab von allem. Ísafjördur war lange Zeit eines der wichtigsten Handelszentren“, schildert Helga Hausner, eine Berlinerin, die es vor vielen Jahren zu einem Neuanfang in die Westfjorde verschlug. Bei ihrer Stadtführung verwandelt sie sich dank ihres historischen Kostüms zur Fisch-Frau Sigrun. Ende des 19. Jahrhunderts lebte diese in Ísafjördur und arbeitete an einem Stand, wo sie vor allem Kabeljau säuberte und einsalzte. Heute aber berichtet Helga alias Sigrun von der bewegten Geschichte dieser Inselgegend: von den vier ältesten Siedlungshäusern Islands, die noch immer erhalten sind. Von den Norwegern, die Walfangstationen errichteten, und der Kolonialzeit mit dem Handelsmonopol unter den Dänen. Dabei macht sie deutlich, unter welch harten Bedingungen die Menschen hier überlebten.

Über die Berge

Heutzutage ist die kleine Stadt ein guter Ausgangpunkt für Exkursionen in die Natur der Westfjorde: Für Bootstouren hinüber zum Naturreservat Hornstrandir zum Beispiel, um dort zu wandern, Ski zu fahren oder Polarfüchse zu beobachten. Oder um ganz bequem in Gudmundur Valdimarssons Superjeep zu steigen und sich mit dem PS-starken Ungetüm offroad in die verschneiten Berge kutschieren zu lassen.

Nach Ísafjördur sind die nächstgrößeren Städte Patreksfjördur und Bolungarvík, sie zählen nur mehr unter 1000 Einwohner. Meist handelt es sich bei den wenigen Orten um Fischerdörfer. Im Winter herrscht in diesen Siedlungen, die vor der spektakulären Naturszenerie mikroskopisch klein wirken, große Stille. Nur dort und da spielen ein paar Kinder auf der Straße. Doch viele Restaurants und Geschäfte haben geschlossen.

Und noch ein Badestopp

Auch Drangsnes ist eines dieser winterschlafenden Dörfer, eine eher unscheinbare Gemeinde mit kleinem Hafen, einer Fischfabrik – und direkt an der Straße mit drei öffentlichen Mini-Pools in drei Temperaturen: kalt, warm und heiß. Diesmal funktioniert der Weg zum Bad ganz ohne Eiswasser-Manöver. Für den Badestopp in Drangsnes kann man sich gegenüber umziehen, kurz abduschen, und muss dann nur noch schnell über die Straße laufen, um schließlich entspannt ins warme Wasser zu sinken.

Vorne treiben derweil die Möwen auf dem Wasser, wegen ihrer schwarzen Flecksilhouetten könnte man sie für kleine Felsen im Wasser halten. Sie entlarven sich jedoch durch ihre Schreie beim Warten auf die Fischabfälle, die am Hafen im Meer landen. Was für ein fantastischer, majestätischer Ausblick auf den Fjord, denkt man im Wasser liegend bei sich: Die Wolken öffnen sich einen Spalt weit und fluten einen Teil des eisigen Meeres mit weichem Licht.

Compliance-Hinweis:
Die Reisen wurden unterstützt von SKR Reisen, Visit Iceland, Iceland Farmholidays, WOW Air, Icelandair und Inspired by Iceland.

(Print-Ausgabe, 31.12.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Für die Stadtführung schlüpft die Berlinerin Helga in die Rolle von Fisch-Frau Sigrun.
Reise

Island II: Die starken Frauen am Fjord

Seit 2009 führt das kleine Land den „Gender Gap Report“ des Weltwirtschaftsforums an, Frauen sind hier aber auch den Herausforderungen in der Natur gewachsen.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.