Arktis: Weißer Schmelz und Tundraboden

Gerettet. Robben stehen auf dem Speiseplan der  Eisbären. Manche entkommt.
Gerettet. Robben stehen auf dem Speiseplan der Eisbären. Manche entkommt.(c) imago stock&people
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Ein Stück der legendären Nordwestpassage: Die „Akademik Ioffe“ steuert durch die kanadische Arktis, vorbei an Eisbären, Ringelrobben – und Baffin Island.

Eisbäralarm! Irgendjemand an Bord hat im bläulichen Weiß der vorübertreibenden Eisschollen einen elfenbeinfarbenen Fleck ausgemacht. Gerade ist der erfolgreiche Jäger dabei, eine Robbe zu vertilgen. Blut hat den Schlachtplatz tiefrot gefärbt, bedächtig reißt der Bär Stücke aus dem dampfenden Körper und wittert zwischendurch in die Luft. An Bord hämmern die Kameras wie Maschinengewehre. Dieser Bär hat ordentlich was auf den Knochen, sagt der Biologe Nicholas Pilfold. Dass in diesem Jahr noch ziemlich viel Eis unterwegs ist, erleichtert den Königen der Arktis das Jagen. Grundsätzlich aber lässt der Klimawandel den nördlichen Eispanzer dramatisch schmelzen. Die Bären müssen weitere Strecken schwimmen und finden trotzdem immer weniger Nahrung. Denn die Algen, die sich am Eis bilden, sind das erste Glied der arktischen Nahrungskette. Da sie mit dem Eis abnehmen, werden auch Krebse, Polardorsch und Robben weniger – und die Zahl der heute noch 25.000 Jäger im weißen Pelz wird sich drastisch reduzieren.

Gletscher, Fjorde, Schluchten. Die „Akademik Ioffe“ wurde in Finnland als Forschungsschiff für russische Ozeanografen gebaut und bringt im Sommer Passagiere in Arktis und Antarktis. In diesen Wochen ist sie im Norden Kanadas an der Ostküste der Insel Baffin unterwegs, die mit 500.000 Quadratkilometern mehr als fünfmal so groß ist wie Österreich. Fjorde und Schluchten schneiden in das zerklüftete Ufer, Gletscher reichen oft bis ans Meer. Zwölf Tage dauert die Reise, rund 4000 Kilometer werden zurückgelegt.

Zersplitterte Platten, wachsfarbene Spindeln und tropfende Riesenamöben aus Eis treiben vorbei, das Schiff zieht durch ein weißes Trümmerland. Eine Gruppe von Narwalen mit gezwirbeltem Horn kommt in Sicht und verschwindet wieder, nachts geht die Sonne jetzt nur noch ganz kurz unter, die Temperatur fällt nie unter null Grad. Bei der Einfahrt in den Fjord „Icy Arm“ hebt sich der Morgennebel. Wie die abgeschabten Backenzähne von Riesen reihen sich grau-silberne Tafelberge anei­nander, bedeckt von weißem Schmelz, gräuliche Zungen lecken dazwischen herunter. Bei der Wanderung über den federnden Tundraboden ist Biologe Franco Mariotti ganz in seinem Element. Überall entdeckt er arktische Wunder: Der gelbe Mohn dreht seine Blüten 24 Stunden der Sonne zu, um keinen einzigen Wärmestrahl zu verpassen. Auf manchen Felsen haben sich auf den Spritzern von Vogelkot orange-goldene Flechten angesiedelt. Und der Stamm der gerade einmal zehn Zentimeter hohen Arktischen Weide braucht 100 Jahre, um einen Zentimeter dick zu werden.

Anti-Bären-Spray, Kehlkopfgesang

Irgendwann nach so viel Natur giert man sozusagen nach Spuren menschlicher Anwesenheit. Am neunten Tag rasselt der Anker vor Pond Inlet ins Meer. In der 1500-Seelen-Ansiedlung wirkt alles ein wenig provisorisch: Die staubige Schotterstraße, der Müll im Bach, die ausgedienten Autos und Schneemobile, die als Ersatzteillager herumstehen. Im weitläufigen Coop-Supermarkt gibt es vom Waffeleisen über Stricknadeln und Tiefkühlpizza bis zum Anti-Bären-Spray alles, was das Überleben erträglich macht. Mittags bei der Folklorevorführung in der Bibliothek sind Profis am Werk. Das Tununiq-Miut-Theater reist schon seit einigen Jahren durch die Welt. Eine Tranlampe brennt, beim Throat Singing treten zwei Frauen mit tierähnlichen Kehllauten in einen Gesangswettkampf, und zwei Neffen versuchen Wange an Wange, Finger im Mundwinkel des anderen, das Gesicht des Gegners breit zu ziehen, bis er aufgibt. Onkel Lamech Kadloo, der wettergegerbte alte Vorzeigejäger, grinst zum Abschied: „Wenn du mich googelst“, sagt er, „findest du die neun Filme, in denen ich mitgespielt hab“. Jeder Tag bringt eine neue Entdeckung: Im Lancaster Sound kocht plötzlich die vorher so glatte See. Glänzende schwarze Köpfe, spitze Schnauzen und hellgraue Walzen brechen aus dem Wasser, schauen sich kurz neugierig um und verschwinden wieder. Tausende von Ringelrobben sind es, die Natur begegnet der Lebensfeindlichkeit mit Masse. In den Vogelfelsen von Prince Leopold Island wiederum sind es Zehntausende Lummen und Möwen, die sich an die Kanten und Schrägen der fast 300 Meter hohen Felsen klammern und die Luft mit Geschrei erfüllen.

Verschollen, gefunden

Der letzte Tag steht ganz im Zeichen der Geschichte. Eisiger Wind pfeift über den kiesigen Strand von Beechey Island, fünf Grabsteine ragen einsam empor. Männer der berühmten John-Franklin-Expedition von 1845 liegen darunter. Auf der Suche nach der Nordwestpassage zwischen Europa und Asien hatte der Brite seine beiden Schiffe für den ersten Winter einfrieren lassen, 128 Mann an Bord. Im Frühling brachen sie auf – und verschwanden spurlos. Viele Suchexpeditionen versuchten in den Jahren danach, das Rätsel zu lösen. Immer genauer entzifferten sie dabei die Geografie des Nordens – Franklins Schiffe und Männer fanden sie nicht. Erst am 7. September 2014 stießen mehrere kanadische Organisationen gemeinsam vor King William Island auf das Wrack der „HMS Erebus“.

Am Ufer gibt es jetzt Whisky für alle. Und die Historikerin Katie Murray bringt einen Toast aus: auf John Davis, William Baffin, John Franklin, auf die westlichen Pfadfinder der Arktis, die versuchten, sich im Gewirr der Inseln, Kanäle und Buchten zurechtzufinden, auf ihren Mut, Größenwahn, Durchhaltewillen. So endet die moderne Reise ins Eis in einem großen, stillen Moment der Erinnerung an die mühsamen Fahrten von einst.

Tipps

Baffin Island beziehungsweise Inuktitut Qikiqtaaluk ist die fünftgrößte Insel der Erde und gehört zum ­Territorium Nunavut in der kanadischen Arktis. Gerade einmal 12.000 Menschen leben in wenigen Siedlungen auf der zum Teil vergletscherten, stark zerklüfteten Insel auf der Route der Nordwestpassage.

Anreise: zum Beispiel mit Air Canada von Frankfurt nach Ottawa, von dort mit First Air nach Iqaluit. Rückflug von Resolute über Calgary oder Edmonton nach Frankfurt. Ab circa 2500 Euro. Bei der Einreise brauchen österreichische Staatsbürger eine elektronische Einreisegenehmigung. Diese kostet sieben Kanadische Dollar (circa fünf Euro) und wird im Internet beantragt.

Das Schiff: Da die „Akademik Ioffe“ als Forschungsschiff gebaut wurde, ist der Luxus an Bord überschaubar: Bar, Bibliothek, Sauna, und für die kalten Nächte ein heißer Pool auf Deck sechs. Ganz unkompliziert dürfen Gäste die Brücke betreten und der russischen Crew beim Navigieren zusehen. Das Essen ist gelungen und abwechslungsreich, aber keine exzeptionelle Sterneküche. An Bord ist Platz für 100 Passagiere. Der eigentliche Luxus sind die wissenschaftlichen Begleiter: zwei Biologen, ein Ornithologe, eine Kunsthistorikerin mit Schwerpunkt Inuit-Kunst, eine Polarhistorikerin, ein Inuit-Guide etc. Alle sind ausgewiesene Spezialisten ihres Fachs und ausgeprägte Charaktere, jeder eine sprudelnde Informationsquelle und meist ein Showtalent dazu.

Die Reise:Die Reise wird veranstaltet von One Ocean Expeditions:
www.oneoceanexpeditions.com. Die Bordsprache ist Englisch. Im deutschsprachigen Raum wird die Tour von Diamir Erlebnisreisen angeboten. 13 Tage kosten ohne Flug ab 4890 Euro. Die Benutzung der Kajaks kostet extra. Diamir Erlebnisreisen,
www.diamir.de

Kanada-Infos:
kanadavisum.com


Nunavut-Info:
www.nunavuttourism.com

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