Paris: Im Reich der Triebe

(c) Jo Pesendorfer
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Paris wandelt sich vom vegetarischen Entwicklungsland zu einem Experimentierfeld für fleischlose Küche, die sogar hartgesottene Karnivoren überzeugt.

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(c) Jo Pesendorfer

Das Gerstenfeld steht auf der Theke und ist nicht größer als ein Küchenhandtuch. Fingerlange Triebe sollen aber nicht zum vollen Korn reifen, sondern werden auf Bestellung abgesäbelt und wandern in einen Kaltsaft-Extruder (was es alles gibt). Heraus kommt ein Stamperl Kräutersaft, dessen Grün mindestens so intensiv ist wie sein Geschmack. Laurence Aboucaya schüttelt ihre roten Locken aus dem Gesicht und schaut uns erwartungsvoll an. Für Neulinge gebe es auch einen Saft aus Roter Rübe, Ingwer und Karotte, aber die Entgiftungswirkung sei bei Gerste höher. Unsere Geschmacksnerven bestätigen das gerne – selten haben wir uns so entgiftet gefühlt.

Laurence ist Gründerin von Pousse-Pousse, einem kleinen vegetarischen Restaurant im Faubourg Montmartre, das sich der rohen Küche verschrieben hat. Ein veritables Reich der Triebe! Nicht weniger als vierzig Körnersorten werden hier zum Keimen gebracht und verspeist. Im Rohen liegt die Vitalität, sagt Laurence, und so werden die Gerichte stets mit einem rohen Element kombiniert. Zur Gemüsesuppe bekommen wir „lebende“ Cracker aus allerlei gekeimten Körnern, der Kaviar besteht aus Kichererbsen mit Trieben und als Abschluss empfehlen wir einen rohen, veganen Schokoladekuchen.

Vital ist auch die Dekoration. Unter einem ausladenden Luster sind wir umgeben von hellem Holz und barock umrahmten Spiegeln. „Vegetarisch muss nicht asketisch sein, sondern experimentierfreudig und lebensfroh“, fasst Laurence präzise zusammen, was in der Veggie-Restaurant-Szene von Paris in den vergangenen Jahren abgeht.

Angemahnte Strukturreformen.
Die Stadt galt lange als Albtraum für Vegetarier, zu sehr hing die französische Küche an Fleisch und Fisch und reagierte unwirsch auf jede Form weltanschaulich motivierter Einschränkung. Im besten Fall fanden sich vegetarierfreundliche Gaststätten mit ein paar fleischlosen Gerichten – so wie hundefreundliche Beiseln ein Schüsserl Wasser unter den Tisch stellen. Solche Etablissements sind aber nichts für zarte Vegetarierseelen: Man kann zwar eine Gemüseplatte auf der Karte entdecken, mag’s aber nicht, dass am Nebentisch ein Côte de Bœuf serviert wird, ein gutes Kilo brutzelndes Rindfleisch am Knochen, oder ein Kalbskopf im Wurzelsud mit Zunge und Hirn.

Aber Frankreich bewegt sich! Die angemahnten Strukturreformen werden umgesetzt. Vegetarisches wächst in allen Vierteln, von der alternativen Drei-Sessel-Kantine bis zur Gemüsekarte im etablierten Dreisternetempel. Immerhin drei Dutzend der 10.000 Restaurants bezeichnen sich heute als vegetarisch. In diesem kleinen Kreis wird wild experimentiert, die Pioniere gewinnen an Selbstbewusstsein, Sinnsucher feilen an ihren liebevoll komponierten gastronomischen Kunstwerken.

Jean-François Hämmerle verkörpert all das. Er ging seinen peruanischen Wurzeln nach und entdeckte dabei die „super alimentos“ für sich: uraltes pflanzliches Kulturgut der Andenbewohner, das ernährungstechnisch wahre Wunder wirkt. Die naturbelassene Vielfalt von Klamath, Urucum, Acai, Lucuma, Aguaymanto, um nur ein paar zu nennen, wurde zunächst auf Pariser Märkten verkauft und schließlich gastronomisch genutzt.

Die Gerichte sind südamerikanisch inspiriert und stets mit einem „super alimento“ veredelt; so finden wir ein Chili sin Carne mit Maca-Wurzeln oder ein Super-Guacamole mit Nopal-Kaktus und Spirulina-Algen. Besonders angetan hat es uns der Xoco-Wok: eine Zwiebel-Sesam-Soße mit sonnengetrockneten Criolo-Bohnen, einer alten Kakaosorte, je nach Saison mit Gemüse und gedämpftem Getreide kombiniert. Seit ein paar Jahren sind Restaurant und Kontor in die Bar des Artisans, eines einstigen Arbeiterbeisls im Szenebezirk am Canal Saint Martin, integriert – moderne Elemente verbinden sich dort stimmig mit gusseisernen Säulen und abgetretenen Schachbrettfliesen.

I’m a Barmaid. Diese Spannung zwischen Tradition und Neuerung kennzeichnet auch My Kitch’n. Das Lokal liegt in der Batignolles-Markthalle, die so vintage ist, als wäre sie vor 50 Jahren eingemottet worden, einer Zeit, in der es sicher noch keine Veganer in Paris gab. Zwischen Resopaltischen und alten Schulbänken werkelt Jennifer – als Gründerin, Köchin und Bedienung in einem. Über zehn Jahre lang hat die energische Schwedin in der strahlenden Welt der Nightclubs von Dubai bis Ibiza gearbeitet, bevor sie sich an ihr eigenes Restaurantprojekt machte. „Ich war Barmaid. Das Mixen bin ich gewohnt“, meint sie und leitet nahtlos zur hundertprozentig veganen Speisekarte über: zum Wachwerden einen Green-Machine-Smoothie aus Spinat, Sellerie, Ingwer und Leinsamen und zur Hauptspeise einen Veggie-Burger aus weißen Bohnen, Linsen und Karotten, mit Ketchup aus getrockneten Tomaten und Chia-Samen. Ein „Graswurzelunternehmen“ sei My Kitch’n, transparent einem frequentierten Ort, am besten einem Fleischhauer gegenüber, platziert – die Schwelle zur veganen Essenswelt soll ja möglichst niedrig sein. Und ist sie erst einmal überschritten, lassen wir uns einen rohen Brownie mit Kokosöl und Nüssen auf der Zunge zergehen. 

Gesamtkunstwerke. Diese Mischung aus Sinnsuche und Selbstverwirklichung begegnet uns immer wieder auf unserer vegetarischen Paris-Tour – die jungen Betriebe sind selten reines Business, pure Gastronomie. Den schlichten Raum des Café Ginger dekorierte Daniela, eine chilenische Künstlerin, mit bunten Gemälden. Die Salatschüsseln in schillernder Raku-Technik töpferte sie gleich selbst. Ihr Partner Edward verleiht den Speisen seinen britischen Akzent. Das auf den Pariser Speisekarten schmerzlich vermisste Gemüse steht hier im Mittelpunkt: als Crumble oder Curry verarbeitet, mit Coleslaw, Hummus oder Linsensalat umgeben – alles am Morgen von den Gründern frisch zubereitet.

Eine andere Geschichte erzählt Agathe Audouze: Ausgebrannt kehrte sie der Modebranche den Rücken, beschäftigte sich leidenschaftlich mit gesunder Küche und möchte heute im Café Pinson ihre Erfahrungen mit einem breiten Publikum teilen. Was sehr ernsthaft klingt, sieht ausgesprochen trendig aus und schmeckt überhaupt nicht „gesund“. Nach einem Risotto aus schwarzem Reis und frischen Pilzen verweilt man gern in der gediegenen Wohnzimmeratmosphäre und genießt einen veganen Cheesecake aus Cashewnüssen.

Eastend-Laboratorien.
Nicht weit vom Café Pinson beginnt der Pariser Osten. Das Eastend war einst das Kleine-Leute-Viertel und wird heute zum Experimentierfeld für die Szene. So hat sich Soya Cantine Bio in einer ehemaligen Armaturenfabrik niedergelassen – die industrielle Vergangenheit wurde dabei von Überflüssigem befreit und mit ein wenig Sichtbeton, Glas und rohen Holztischen ergänzt. Das Fusion Food auf der Karte ist so authentisch wie der Ort: Zwölf Jahre lang hat sich die Gründerin durch die Welt gekocht und Anregungen gesammelt. So werden ihre Meze zu einer kulinarischen Reise von Italien über den Libanon bis nach Japan: Gemüsekaviar, Hummus und in Miso marinierte Pilze.

Die Eröffnung des vegetarischen Fast Foods wurde von einem Medienecho auf allen Kanälen begleitet. Dabei ist das Konzept denkbar einfach: ein ansprechendes Grafikdesign, das nach weiteren Filialen geradezu schreit, vier Sorten Veggieburger – Käse, Pilze, Spinat und Paprika – dazu hausgemachte Pommes und ein Kaltgetränk.
Abwechslung bringen die Special Burger in limitierter Auflage: So gab’s zur Fête de la Musique einen NYHC-Pizza-Burger mit Mozzarella, selbst gemachter Tomatensauce und Basilikum. An solchen Tagen stehen die hungrigen Kunden Schlange, und man könnte meinen, vegetarisches Essen sei eine Normalität geworden in dieser Stadt. Wer davon noch nicht überzeugt ist, dem sei versichert: Paris ist nicht nur die Hauptstadt von Charollais-Rindern, Bresse-Hühnern oder Kutteln aus Caen, sondern auch Schmelztiegel für Foodies aus aller Welt. Deshalb bleibt der ultimative Vegetarier-Tipp von Rashmi Uday Singh, der Autorin des ersten vegetarischen Paris-Führers: Esst libanesisch, indisch und am besten tibetisch!

Tipps

Reich der Triebe: Pousse-Pousse, 7 rue Notre-Dame-de-Lorette, 9. Arrondissement. poussepousse.eu

Superalimentos! Bar des Artisans – Sol Semilla, 23 rue des Vinaigriers, 10. Arrondissement. sol-semilla.fr

The Barmaid: My Kitch’n im Marché Couvert des Batignolles, 24 rue Brochant, 17. Arrondissement mykitchn.fr

Sinnsucher mit Akzent: Café Ginger, 9 rue Jacques Coeur, 4. Arrondissement; cafe-ginger.fr

Eastend Laboratorium: Mamie Green, 25 rue de la Forge Royale, 11. Arrondissement; +33/1/43 72 36 68

Grüne Burger für alle Bürger:East Side Burgers, 60, Boulevard Voltaire, 11. Arrondissement. eastsideburgers.fr

Und außerdem:
Soya Cantine Bio & Loft , 20 rue de la Pierre Levée , 11. Arrondissement.

Loving Hut, 92 Boulevard Beaumarchais, 11. Arrondissement www.paris.lovinghut.fr

M.O.B - LES DOCKS 34 Quai d‘Austerlitz, 13. Arrondissement www.mob-usa.com

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