Land der Esser

Schweinstattoos, Raritätenwildwuchs, "Michelin"-Sterne-Flut und das vielleicht beste Brot der Welt: Nach Flandern reist man, um zu essen.

Im Gemüsefeld bewegt sich etwas. Ein Mann richtet sich auf, man erkennt eine weiße Plastikschüssel in seiner linken Hand. Er blickt sich noch kurz um, betrachtet das spektakuläre Wolkenspiel in der Ferne und kommt dann auf die riesigen Glasscheiben des Restaurants zu. Es ist Gert De Mangeleer, mit drei "Michelin"-Sternen ausgezeichneter Küchenchef des Hertog Jan in der Nähe von Brügge, der sich zwischen den Gängen des Mittagsgeschäfts noch schnell Blüten für das Dessert geholt hat. Auf drei Hektar Feldern, die direkt an das weitläufige, matt-dunkel möblierte Restaurant anschließen, pflanzen zwei Vollzeitgärtner rund 650 Sorten Gemüse, Beeren und Kräuter.

Auf der Speisekarte des Hertog Jan steht der Satz "Einfachheit ist nicht einfach." Verdeutlicht wird dieser von jenem Gericht, auf das Gert de Mangeleer besonders stolz ist: dem Paradeisersalat aus unzähligen Sorten mit weißem Paradeiserjus und Kardamom. "Heuer hatten wir 102Varietäten." Ein Rundgang durch den Gemüsegarten ist für jeden Gast Teil des Programms. Der Architekt, der das Restaurant als Ausbau einer denkmalgeschützten alten Scheune entworfen hat, habe darauf bestanden, auch den Garten mitzuplanen, erklärt der zweite Chef und Sommelier, Joachim Boudens, zwischen Gewürztagetes und Amaranth. "Die Linien haben System."

(c) Photographer:Piet De Kersgieter

Das kann man von den Feldern von Dries Delanote nicht behaupten falsch: man sieht es nur nicht. Das System von Le Monde des Mille Couleurs, so nennt Delanote sein wild wucherndes Raritätenschlaraffenland nahe der Grenze zu Frankreich, erschließt sich wohl nur dem Bauern selbst. Dries Delanote, Prototyp des studierten Naturburschen, beliefert ausschließlich flämische und französische Topköche mit seinen fast vergessenen Gemüsesorten, völlig unbekannten Kräutern und fälschlicherweise für giftig gehaltenen Beeren "nein, das sind keine Tollkirschen". Er steht weder auf Märkten noch verkauft er an Privatkunden ab Hof.

"In the middle of nowhere". Wer hier hingegen sehr wohl ab Hof kauft, ist Kobe Desramaults. Um dreiviertel zwölf bremst der Koch mit seinem militärgrünen Geländewagen vor den Toren, springt heraus, grüßt knapp und lädt
mit seinen tätowierten Armen zwei Kisten ins Auto, die Dries Delanote vorbereitet hat: mit  violettem, wildverzweigtem Brokkoli und feinsäuberlich unter Folie gebannten, nach Größe geordneten Kapuzinerkresseblättern. Das Restaurant von Kobe Desramaults, die sagenumwobene Avantgarde-Adresse In de Wulf, liegt so nah an den Feldern seines wichtigen Lieferanten, dass er, der Küchenchef, schnell noch persönlich vorbeikommen kann. Wo genau das mit einem "Michelin"-Stern bedachte In de Wulf liegt (das er mit Ende 2016 schließen wird, wie er kürzlich bekannt gab), ist schwer zu erklären, will man die Wörter Pampa, Einöde und "middle of nowhere" vermeiden. "Nach dem elften kaum vorhandenen Hügel biegen Sie hinter der zwölften Kuh links ab" solche Kalauer, die die Gegend doch ganz gut beschreiben, kursieren in Gourmet-Onlineforen. Das In de Wulf, neben den Dreisternern Hof van Cleve, De Karmeliet und Hertog Jan sowie dem The Jane das international bekannteste flämische Restaurant, ist wie das Hertog Jan aus einem Bauernhaus hervorgegangen. Und das Rurale ist hier überall Thema. Im Gastraum roter Ziegelboden, weiße Ziegelwände, Holzdecke liegt ein riesiger Rinderschädel als Dekoration, der geschmorte Nacken vom Duroc-Schwein aus dem nahen französischen Ort Borre wird auf einem Schafsschädel serviert, die servierende Köchin hat ein Schweinstattoo auf dem Arm. In der Küche warten Schafsschädel zum Servieren, Sanddorn (den man hier oft entlang der Straßen sieht), eingelegter Meerfenchel und sattgelbe selbstgemachte Butter.

Almdudler und Mannerschnitten

Diese Butter kommt auch in Desramaults Zweitrestaurant Superette in Gent, in einem ehemaligen Minisupermarkt, auf den Tisch. Zum vielleicht besten Sauerteigbrot der Welt, das hier in Regalen verkauft wird. Ebenfalls sehr beliebt in Flanderns Szenelokalen ist derzeit übrigens Almdudler. Kobe Desramaults führt neben dem Superette noch das De Vitrine, ebenfalls in Gent. Der Name Vitrine rührt gleichermaßen vom Vorgänger her, einem Fleischhauer, wie von den Rotlichtdamen in der Auslage der einschlägig bekannten Passage ums Eck. Desramaults sieht wöchentlich im Zweit- und im Drittlokal nach dem Rechten. Hier wie dort frönt man der Fermentation, setzt Rhabarberwein an, experimentiert mit Gemüse in Gärbottichen.

Anna Burghardt

Sterne-Dichte. Keine Frage: Flandern ist ein Land für Esser. Das zeigen nicht nur die vielen Food-Festivals, die sogar teilweise jeweils mehrere Ausgaben pro
Jahr haben am 15.November etwa das Flemish Food Bash in Gent. Hier hantierte Anfang dieses Jahres auch der Österreicher Philip Rachinger vom Mühltalhof als Gastkoch mit 100 Kilo Saibling, Anis und Kirschen. Vorreiter in Sachen fleischloser Küche ist Gent, das schon 2009 einen offiziellen Veggie-Tag eingeführt hat: Donnerstags wird in vielen Restaurants der Stadt fleischlos gekocht, ebenso in Schulkantinen. Auf die dichte vegetarische Szene Flanderns reagierte auch der "Gault Millau": mit dem international einzigen "Grünen Gault Millau". Apropos Auszeichnungen: Neben den unzähligen Szenelokalen auf hohem Niveau in Städten wie Antwerpen, Gent, Brügge und Löwen gibt es außergewöhnlich  viele "Michelin"-Sterne-Lokale. Auf rund 6,3 Millionen Einwohner kommen in Flandern 95 Restaurants mit einem, zwei oder drei Sternen eine ziemliche Dichte. Die Nähe zu Frankreich ist oft auf dem Teller zu spüren, auch wenn nun das Faible für Saucen und Geflügel Klischees bemüht. Und man spürt die Nähe zum Meer selbst im Landesinneren von Flandern im nördlichen Teil Belgiens ist die Küste dank der insgesamt mäßigen Fläche nah.

Aal in grüner Sauce

Wie derzeit überall werden auch  in Flandern Küchenklassiker wiederbelebt. Die Dame blanche etwa, ein Dessert aus Vanilleeis, geschmolzener Schokolade und Schlagobers wer hier an Coup Danmark denkt, liegt richtig. Eine moderne Variation des Paling in t groen, Aal in grüner Sauce, ist indes im Ein-Stern-Restaurant Bistro Margaux unweit Brüssels das Signature Dish. Früher bereiteten Fischer den Aal, den sie im Fluss Scheldt zwischen Dendermonde und Antwerpen gefangen hatten, mit jenen Kräutern zu, die sie entlang der Küste gefunden hatten. Heute wird die Sauce üblicherweise mit einer Mischung aus Petersilie, Bachkresse, Sauerampfer, Basilikum und Kerbel gemacht; die Kräuter dürfen zwecks Beibehaltung der frischen Farbe erst im letzten Moment beigegeben werden.

Für flämische Tourismusmarketingmenschen sind
freilich weniger Aale wichtig als die breitenwirksamen kulinarischen Themen Bier und Schokolade. Daran kommt man in Flandern nicht vorbei, auch wenn der Schokoladetester Georg Bernardini unlängst belgischer Schokolade im Allgemeinen kein gutes Zeugnis ausgestellt hat: "Liebe Belgier, jetzt müssen Sie alle stark und mutig sein, um diese Zeilen zu lesen. (...) Belgien hat seine Schokoladekultur fast gänzlich verloren."

(c) Photographer:Piet De Kersgieter

Generelle Infos:

Bier und Obacht! High-End-Schokolade führt seit September ein neues Gourmet-Kompetenzzentrum zusammen: Die Antwerp City Brewery, eine renovierte Brauerei, ist eine Art Cluster für Foodies. Nicht nur ein Foodlab mit Kochbuchschwerpunkt, eine Fleischhauerei und ein Restaurant sind hier zu finden; auch der Hausherr, die Brauerei De Koninck, führt ein Verkostungslokal und ein Biermuseum. Der junge Chocolatier Jitsk Heyninck, mit seinen unaufgeregten, aromatischen Pralinen eine gute Ergänzung zu Schokoladestars wie Dominique Persoone, hat auf dem Gelände sein hübsch gekacheltes Geschäft. Er hat zwei Pralinensorten speziell zu bestimmten Bieren entworfen, "nicht umgekehrt, wie üblich". Auch eine Käsepraline schwebt Jitsk Heyninck vor: aus Keksbruch und gereiftem Käse, überzogen von Milchschokolade: "Weil: Milch Käse." Für den Käse muss er nicht weit gehen: Käseaffineur Michel Van Tricht, für Flamen eine lebende Legende, lässt in der City Brewery seine Käsebabys erwachsen werden und lädt zu Verkostungen natürlich mit Bier-Pairing.  www.visitflanders.com Die Autorin reiste auf Einladung von Vistitflanders.

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