Istanbul: Faltenfreie Fassaden

Istanbul Faltenfreie Fassaden
Istanbul Faltenfreie FassadenReuters
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Die Kunst ist Thema, der Konsum boomt. Städteschönheit Istanbul im Vorfeld der Design Biennale.

TIPPS

Natürlich will der Besucher zuerst einmal sie gesehen haben, die altehrwürdigen Symbole von Istanbul. Blaue Moschee, Hagia Sophia, Topkapi Palast oder Galata-Turm fallen weithin sichtbar ins Auge, doch der Blick vieler Bewohner ist längst nicht rückwärts, Richtung Geschichte, Tradition und Vergangenheit gerichtet. Die modernen Türken sehen nach vorne, in eine Zukunft mit Esprit und Ästhetik. Das zeigt sich auch an kleinen Dingen. Wer heute einen Schnauzer trägt, wird als konservativ deklariert. Schlimmstenfalls muss er seine Haarpracht opfern, um weiterhin seine Brötchen zu verdienen. Die Metro-Turizm, eine der größten türkischen Transportgesellschaften, hat ihre 7000 Angestellten sogar vor die haarige Wahl „Bart ab – oder Kündigung“ gestellt. Eine der Bastionen türkischer Männlichkeit geht seitdem den Bosporus hinunter.

Im zeitgeistigen Istanbul zwischen Taksim-Platz und Marmara-Meer scheint kein Platz für antiquierte An- und Aussichten, sieht man von der nostalgischen Tram einmal ab. Glatt rasierte Galeristen, kopftuchlose Stylistinnen, hippe Designerteams und Millionen an modisch Gekleideten tummeln sich in den Straßen. Alles pulsiert, nur der Verkehr steht staunend still.

Galerienmarathon. „Just go to Beyoglu, Galata or Karaköy,“ meint nun auch Ahmed, der stoische Taxifahrerer. „There you can see the real heart of Istanbul.“ Das echte Herz der Stadt schlägt demnach vor allem für Kunst und Kreativität. Bereits auf der Istiklal Caddesi (Straße der Unabhängigkeit), der historischen Flaniermeile und heutigen Schlagader der Lebenslust, drängen sich zwischen die Boutiquen, Cafés, neobyzantinischen Kirchen, Passagen, Bars und Meyhanes (traditionelle Lokale) auffallend viele Galerien. Zu viele, als dass es Zufall sein könnte. Noch vor 20 Jahren gab es gerade einmal 20 Kunstsammlungen, mittlerweile sind es an die 300. Und die Dunkelziffer liegt angesichts der Fülle an Ateliers, Schauräumen und Werkausstellungen bestimmt noch höher. Kutlug Ataman steht da etwa auf einer verspiegelten Jugendstilfassade, die eher zur Notenbank passen würde. Wer den Eingang ums Eck findet, wird mit den sozialkritischen Werken des bekannten türkischen Filmemachers und Künstlers belohnt. Drei Etagen hat die Galerie „Arter“, der Eintritt ist wie bei den meisten ihrer Art kostenlos. Tasche und Fotoapparat darf man behalten.

Großveranstaltung. Gleich in der Nähe vom Arter, das 1969 von der ersten türkischen Foundation für Social Projects gegründet wurde, liegt der Showroom „Salt“. Unterstützt von einem Bankhaus sind hier tatsächlich Vermögenswerte verborgen. Allerdings an Kunst, weniger an Kohle. „Becoming Istanbul“ entpuppt sich jedenfalls als ebenso spannend wie die Stadt selbst. Und direkt am Taksim-Platz, dem großen runden Verteiler von hektischem Verkehr und beschaulicherem Fußgängertum, hat schräg gegenüber des grauen wie etwas gräulichem Denkmals der Republik gerade erst „collectorspace“ eröffnet. Was aussieht wie ein spartanscher Interieurdesign-Laden, entpuppt sich als Location für Contemporary Art aus New York.

Aus dem Schauen kommt man auf den engen und teilweise extrem steilen Gassen, die hinunter nach Karaköy und zur Galata-Brücke führen, ohnedies nicht heraus. Selbst der kleinwinzige Schneidertempel in einer ehemaligen Synagoge öffnet unaufgefordert seine schmiedeeisernen Pforten. „Please, come in“, meint der schmächtige Mann lakonisch, der gerade sein Mittagessen verspeist. Und schon steht man staunend vor teuflischen Kreationen. Da wundert es kaum, dass nach der bereits international etablierten Kunstbiennale 2012 erstmals auch eine Istanbul Design Biennale stattfinden wird. „Imperfection“ wird sie heißen – und doch bestimmt nicht unvollkommen sein. Denn schon heute haben Architektur und Industrial Design, Mode und Grafik der Stadt ein neues, schillerndes, faltenfreies Antlitz verliehen. Studios wie Autoban oder Superpool genießen weltweite Anerkennung, Namen wie Alev Ebuzziya oder Burcu Büyükünal kann man vielleicht nicht auf ersten Anhieb gut aussprechen, aber auch sie können sich sehen lassen.

Gentrifizierungsziel. Was sich nicht mehr sehen lassen kann, riskiert allerdings die substanzielle Zerstörung im Zuge der Stadterneuerung. Altersschwäche und Andersartigkeit kratzen zu sehr an der jugendlich urbanen Fassade, Gestrige stehen der prosperierenden Zukunft im Wege. Schuhputzer, Teeträger, Çiftetelli-Musiker oder Transvestiten werden mitsamt den Gehsteigen hochgeklappt. Das älteste Roma-Viertel der Welt, Sulukule, verewigt sogar von James Bond in den „Liebesgrüßen aus Moskau“, hat die Stadt in großen Bereichen planiert. Heute hängt das Damoklesschwert der Gentrifizierung über dem alten Tarlabasi, der direkt an das boomende Beyoglu grenzt. Strategisch abgetrennt durch eine vierspurige Autobahn, tummeln sich hinter dem Taksim-Platz alte Handwerker und junge Prostituierte, Kurden und Armenier, Muschelverkäufer und Kleinkriminelle. Die vom Einsturz bedrohten, denkmalgeschützten Häuser verströmen einen reizvoll-morbiden Charme. So wie Venedig oder Havanna. Von den levantinischen Erkerhäusern und osmanischen Prunkgebäuden bröckelt der vorwiegend ockergelbe Verputz. An einer dunklen Ecke sitzt ein Streetfood-Verkäufer auf einem klapprigen Sessel. Als Streetfood gilt hier alles, was sich auf der Straße essen lässt. Miesmuscheln mit Zitrone, Sesamkringel, Hammelleber, Teigtaschen mit fleischigen Innereien oder süße Desserts zu später Stunde. Aber lange werden sie nicht mehr in ihren engen Gassen sitzen, wo vor lauter Wäscheleinen, Kinderwägen und Müllbergen alles im Schatten zu liegen scheint. Auch in Tarlabasi, das selbst Nobelpreisträger Orhan Pamuk zu seinen melancholischen Betrachtungen inspiriert hat, ist kompromissloses Sanieren angesagt.

Bulldozer her, Altbauten weg. „They will destroy everything“, empört sich die wasserstoffblondierte Fatma, während sie ihren ebenso blässlichen Bulgur rührt. „But we won’t go.“ Der alte Mann mit dem Sesamkringeln nickt zustimmend. Denn wo sollen sie schon hin in dieser Millionenstadt, die jährlich um weitere 500.000 Seelen wächst? Am Bosporus kann niemand unter Brücken leben. Auf einmal fallen einem die Worte Orhan Durus ein, der vor gar nicht langer Zeit über Istanbul schrieb: „Nicht unsere Träume, unsere Alpträume sind Wirklichkeit geworden.“ Es ist zu hoffen dass nicht er, sondern Paul Bonatz, ein deutscher Architekt, recht behält. Der hat in den 1950ern festgestellt: „Seit hundert Jahren geben sich Industrien, Spekulanten, Behörden und Private alle Mühe, die Schönheit (von Istanbul) zu zerstören, es ist ihnen bis jetzt nicht gelungen.“  

Gesichter. Doch selbst, wenn die wirtschaftliche Potenz dieser Stadt so manchen Kleinstgewerbler in die geschäftliche Impotenz drängt, das Treiben der Stadt wirkt dennoch bunter als früher. Was auch an den Frauen und Engeln liegt, die nun unverhüllt ihr Gesicht zeigen. Vom immanenten Fundamentalismus droht keine sichtbare Gefahr.

Im hochpreisigen Einkaufsviertel Nisantası geht es weltläufig zu. Abgasschwaden hängen in der Luft, hier und dort ragt ein tapferes Bäumchen aus dem Asphalt und Frauen mit viel Beinfreiheit spiegeln sich in den endlosen Schaufensterfronten. Im Szenenviertel Cihangir südlich von Taksim, wo das „Museum der Unschuld“ von Orhan Pamuk steht, erliegt man(n) beinahe einer optischen Reizüberflutung. „Eine Frau, die heute allein in eine Bar geht, ist keine Seltenheit mehr,“ meint Burak, ein eloquenter Reiseführer und Mitgiftberater. Als lebensfroher Beweis dieser These lässt sich gerade ein Schwarm lärmender Weiblichkeit auf den alten Ohrensesseln des Café Susam nieder. „Immerhin dürfen Frauen heute sogar Moscheen bauen.“ Ob ihn das freut oder entrüstet, bleibt unklar. Aber es stimmt.

Gipsschichten. Die Innenarchitektin Zeynep Fadillioglu hat vor einigen Jahren die Sakiri Camii entworfen, eine Moschee, in der auch dem weiblichen Geschlecht genügend Platz eingeräumt wurde. Ein Tabubruch, der niemanden mehr so richtig aufzuregen scheint.
Ebenso unskandalös ging im Vorjahr auch die Enthüllung des ersten Seraphen der Hagia Sophia vor sich. Hoch oben an der Wand darf diese heilige Gestalt nun endlich ihr sorgenvolles Antlitz zeigen. „Hätte es früher nie gegeben“, ist Burak überzeugt, „göttliche Abbilder waren in der islamischen Zeit streng verboten“. Und so hatte Gottes Schutzengel 160 lange Jahre unter einer Gipsschicht ausharren müssen. Heute genießt er wieder freien Blick auf das Menschenmeer unter sich und wird sich wundern, wie sehr sich die Zeiten geändert haben.

Manche Besucher strömen so freizügig durch diese einstmals heiligen Hallen, als wären sie im großen Bazar. Im Übrigen der einzige Ort, vor dem mich Burak ausdrücklich warnt. „Es ist nicht alles Gold, was glänzt,“ schärft er mir ein. Über 4000 Geschäfte und Läden beherbergt der Kapalı Çarsı. „But be careful. Nur in 23 davon kann man wirklich gute Geschäfte machen.“ Als einer der weltweit sieben Mitgiftberater kennt Burak sich da aus. Dass er von seinem Beruf aber noch leben kann, wirft doch wieder einen kleinen Schatten auf diese so nachdrücklich proklamierte, großstädtische Fortschrittlichkeit.

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Susam Café Tel.: +90/212/251 59 95

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Orhan Pamuks „Museum der Unschuld“www.masumiyetmuzesi.org

Istanbul Design Biennale 13. Oktober bis 16. Dezember http://tasarimbienali.iksv.org

Istanbul Fashion Week 10. Oktober bis 13. Oktober www.ifw.com.tr/en

Autoban Gallerywww.autoban212.com

Gallery Arterwww.arter.org.tr

Gallery Salt Beyogluhttp://saltonline.org/tr/anasayfa

Schneidertempel Sanat Merkeziwww.schneidertempel.com

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