Korsika in einem Zug

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Ziegenfrischkäse, das älteste Geschäftslokal Europas und Bier mit dem Geschmack der Macchia: eine kulinarische Bahnreise über die „Insel der Schönheit“ im Mittelmeer.

Antik. Jean-Marie Chionga in seinem Feinkostladen, den es seit dem Jahr 1800 gibt.
Antik. Jean-Marie Chionga in seinem Feinkostladen, den es seit dem Jahr 1800 gibt. (c) Dagmar Krappe
Einladend. Feinkost mit korsischen Köstlichkeiten. 9, Rue Vieux Marché, Corte.
Einladend. Feinkost mit korsischen Köstlichkeiten. 9, Rue Vieux Marché, Corte. (c) Dagmar Krappe

Mit quietschenden Bremsen kommt das silberfarbene Cabrio auf dem Grünstreifen entlang der Nationalstraße 193 zum Stehen. „Kommt dort ein Zug?“, ruft der Festland-Franzose den Trainspottern zu, deren Zeigefinger nervös darauf warten, den Auslöser an der Kamera zu betätigen. „In drei Minuten“, antwortet einer der beiden ein wenig unwirsch, da er ausgerechnet jetzt vom Objekt der Begierde abgelenkt wird. Der Festland-Franzose greift zum Smartphone und positioniert sich ebenfalls am Rand der alten Bogenbrücke bei Venaco. Schon rast er heran, der Trinighellu, der die Hauptstadt Ajaccio im Westen Korsikas mit der Hafenstadt Bastia im Nordosten verbindet. „Das ist ja gar kein alter Zug“, murmelt der Festland-Franzose enttäuscht. Steigt kopfschüttelnd ins Auto und braust davon.

„U Trinighellu, der Zitternde, ist längst Geschichte“, erklärt Mechaniker Antoine Vitali später im Ausbesserungswerk in Casamozza, 20 Kilometer südlich von Bastia: „Die zwölf neuen grauweißen Dieseltriebwagen mit roten Türen und getönten Panoramascheiben, die seit 2009 im Einsatz sind, sind wie ein TGV auf schmaler Spur, da zittert nichts mehr. Am Anfang gab es Probleme in engen Kurven, aber mittlerweile sind wir sehr zufrieden.“ Die korsische Eisenbahn stand schon mehrmals vor dem Aus. 1894 war das heutige Netz fertiggestellt. Bis zum Zweiten Weltkrieg tuckerte der Zug auch von Bastia nach Porto-Vecchio. Doch 1943 ging ein deutscher Bombenhagel auf die Schienen nieder, woraufhin die Strecke entlang der Ostküste aufgegeben wurde. Irgendwann waren Schienennetz und Rollmaterial komplett veraltet. Nur der geharnischte Protest der Korsen konnte die Verantwortlichen in Paris dazu bewegen, den Zug im Département im Mittelmeer nicht einzustellen. Vor zehn Jahren begann man schließlich damit, kontinuierlich Gleise und Waggons zu erneuern.

Napoleons Geburtsort. Von Bastia fahren die „Chemins de Fer de la Corse“ mehrmals am Tag knapp 160 Kilometer über Corte nach Ajaccio, Napoleon Bonapartes Geburtsort. Dafür benötigt die Bahn dreieinhalb Stunden. Hinter Bastia zuckelt sie zunächst am Meer entlang und durchs Industriegebiet, wo korsisches Bier gebraut wird. „Die Idee kam unserem Chef, Dominique Sialelli, vor über 20 Jahren nach einem Konzertbesuch in Corte“, berichtet Stéphanie Muzy, Marketingassistentin in der Brauerei Pietra. „Er wollte seinen Durst mit einem korsischen Bier löschen, aber es gab keines.“ Dominique Sialelli hängte seinen Managerjob bei France Telecom in Paris an den Nagel, kehrte auf seine Heimatinsel zurück und wurde Bierbrauer in Furiani bei Bastia. Heute hat seine Fabrik 45 Mitarbeiter. Damit das Bier auch echt korsisch schmeckt, enthält es neben Wasser, Malz, Hopfen und Hefe auch Kastanienmehl oder Maquis. Ein Aroma, das aus Korsikas Macchia gewonnen wird, den wilden Sträuchern wie Heidekraut, Ginster, Rosmarin, Lavendel, Myrte, Farnen und Zistrosen. „Unsere verschiedenen untergärigen Biere gibt es auf der Insel in Restaurants und Supermärkten“, sagt Stéphanie: „Aber wir exportieren auch. Vor allem nach Amerika, Großbritannien, Italien und Japan. Dort sind sie in Spezialgeschäften erhältlich.“

Ab Ponte Leccia schnurrt die Bahn einmal neben der Nationalstraße 193, einmal entlang steilerer Hänge. In Corte treffen sich der nach Norden und der nach Süden fahrende Zug. Entsprechend voll ist der Bahnhof mit Wanderern und Rucksacktouristen. Viele von ihnen fahren bis zum höchsten Punkt in Vizzavona. Hier kreuzt der 170 Kilometer lange GR 20, der Grande Randonnée, Korsikas Königswanderweg, der viele Zweitausender streift. Nichts für Spaziergänger, sondern nur für Wanderprofis. Hinter Corte wird die Landschaft langsam steiler. Im Zug wird es schaukeliger, da er sich zwischen engen Felswänden hinaufarbeitet. Den spektakulärsten Ausblick ins Flusstal des Vecchio bietet die von Gustave Eiffel errichtete 94 Meter hohe Ponte Vecchio kurz vor Vivario. Insgesamt ist das korsische Schienennetz 230 Kilometer lang, hat 59 Brücken und Viadukte und 57 Tunnel. Der längste misst vier Kilometer und folgt hinter Vizzavona. Dort bezwingt die Bahn den gleichnamigen Pass in über 1000 Metern Höhe.

Kastanienhonig. Die meisten Einheimischen, die in Corte zugestiegen sind, schleppen schwere Einkaufstaschen. Vielleicht haben sie Jean-Marie Chionga in der Rue Vieux Marché Nummer 9 einen Besuch abgestattet, unweit des Place Paoli, wo General Pascal Paoli ein Denkmal gesetzt wurde. Er regierte die Insel während ihrer kurzen Unabhängigkeit von 1755 bis 1769 und führte demokratische Rechte ein. Zwar ist Napoleon der bekannteste Korse, für die meisten Insulaner aber blieb Paoli der bedeutendere. „Ich führe das älteste Geschäft Europas“, sagt Jean-Marie stolz, während der 61-Jährige ein paar Gramm Brocciu, Ziegenmilchfrischkäse, für eine Kundin abwiegt. „Seit 1800 gibt es den Laden.“ Eine Fundgrube für korsische Produkte. Die Regale sind vollgepfropft mit Wein, Likör, Bier, Olivenöl, Kastanienhonig, Marmeladen, Nougat. Von der Decke hängen Paprika, Knoblauch und Wurstwaren von halbwilden Schweinen wie Lonzu (geräuchertes Filet), Coppa (gepökelter Rollschinken), Figatellu (Leberwurst) und Prisuttu (Räucherschinken).

Wurstwaren dieser Art produziert Alain Ceccaldi in seiner Charcuterie in Pietralba. Dorthin gelangt man zweimal am Tag mit dem neuen Trinighellu auf einer weiteren Trasse der korsischen Bahn, die von Ponte Leccia über Ile Rousse bis Calvi in der Balagne führt. Hoch in den Bergen hält Alain 300 Hausschweine, die zum Fressen in den Wald laufen. Sich von Kastanien und Sträuchern der duftenden Macchia ernähren. Deshalb schmecke das Fleisch wesentlich würziger als beim normalen Hausschwein. „Von November bis April schlachte ich zehn Tiere pro Woche“, sagt Alain. „Zum Räuchern meiner Produkte verwende ich das Holz von Kastanien, das den würzigen Geschmack noch einmal intensiviert.“

Weine und Olivenöle bezieht Jean-Marie Chionga für sein Geschäft in Corte aus der Balagne, dem Garten Korsikas im Norden der Insel. Hier,  zwischen den Küstenstädtchen Calvi und Ile Rousse, zuckelt noch ein alter blau-weißer Triebwagen, die Tramway de la Balagne, direkt am Meer entlang, um Touristen zwischen den Stränden und Badeorten hin und her zu transportieren. Überragt wird Calvi mit seinem fünf Kilometer langen feinsandigen Strand von der genuesischen Zitadelle aus dem 15. Jahrhundert. Die Promenade ist mit Cafés und Restaurants gespickt. Im Hafenbecken dümpeln millionenschwere Luxusjachten. Das Hinterland ist von Olivenbäumen und Weinreben geprägt. Zwölf Weinbauern gibt es im Raum Calvi. Versteckt im Vallée du Reginu liegt das Weingut Domaine Maestracci. Camille-Anais Raoust führt es in fünfter Generation. Die 30-Jährige studierte Landwirtschaft und Marketing in Toulouse und Önologie in Montpellier. „Das Hauptgebäude ist eine ehemalige Ölmühle“, erzählt sie: „Aber wir ernten Oliven nur noch für den familiären Gebrauch.“ 1893 wurde das Weingut gegründet, von deren Trauben Camille-Anais feinste Rot-, Rosé- und Weißweine komponiert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Olivenölproduktion auf Korsika lange brach. Die Bäume wurden nicht mehr gepflegt. Am Ortseingang von Lunghignano steht seit 1850 eine Ölmühle. Auch sie wurde viele Jahre nicht mehr bewirtschaftet. Erst seit 1995 ist sie wieder in Betrieb. Frédérique D’Oriano ist die Besitzerin: „Mein Vater stammt aus diesem kleinen Bergdorf. Er wanderte irgendwann aufs Festland aus, um besser bezahlte Arbeit zu finden. Ich wurde in der Nähe von Marseille geboren. Die Ferien habe ich aber fast jeden Sommer mit den Eltern in Lunghignano verbracht.“ Schon damals war Frédérique von der Mühle fasziniert. Schließlich kehrte sie mit ihrem Mann Nicolas auf die Insel ihrer Vorfahren zurück und erwarb Anfang der 1990er-Jahre die Mühle in Erbpacht. Selbst besitzt Familie D’Oriano nur 20 Bäume. „Es gibt inzwischen wieder genügend Nachbarn, die mich mit den Früchten beliefern können“, so Frédérique. In ihrem Mühlenshop bietet sie von April bis Oktober neben diversen Speiseölen auch Seifen, Duschgels und andere Hautpflegeprodukte auf Olivenölbasis an. Selbst gemachte Marmeladen und Kekse gehören ebenfalls zur Produktpalette der Hobbyköchin. Nur alle zwei Jahre tragen die knorrigen Bäume Früchte. Dann hat Esel Kixi seinen großen Auftritt, der sonst auf einer Wiese neben der Mühle auf Streicheleinheiten von Besuchern wartet. Zur Erntezeit trottet er einige Stunden am Tag im Kreis, damit sich die Mahlsteine in Bewegung setzen können, um die Oliven zu einem Brei zu zerreiben, aus dem Frédérique das „korsische Gold“ gewinnt.

Punkt 20 Uhr trifft der letzte neue Zug aus Ponte Leccia mit Rucksacktouristen in Calvi ein. Bremsen quietschen. Lautes Stimmengewirr schallt über den Bahnsteig. Lokführer Pierre schaltet die Scheinwerfer aus. Und schon ist nur noch das sanfte Plätschern des Mittelmeeres zu hören.

Tipp

Bekömmlich. Korsischer Brotaufstrich aus Clementinen und Kastanien.

Köstlich. Halbfester Schnittkäse aus Ziegenmilch.
Würzig. Prisuttu von frei laufenden Schweinen, geräuchert mit Kastanienholz. Fleischhauerei Alain Ceccaldi in Pietralba.
Obligatorisch. Großartige Charaktere in einem der besten Asterixe: Allestrix, Apathix, Austerlix, Azurix, Galgenstrix, Habenix, Knackerix, Maccaronix, Paläontologix, Panschnix, Pathologix, Psychotherapix, Salamix.

Spezialist für Korsika: Rhomberg-Reisen, 05572/224200, rhomberg-reisen.com
Rundreisen mit dem Zug: mit „Korsika à la carte“. Man legt seine Route individuell fest und erhält Hotelgutscheine. Buchbar ab zwei Nächten.
Zugpreise und Fahrpläne:train-corse.com; cf-corse.fr
corsicabus.org/Train_services.html

Echt korsische Produkte:
Brasserie Pietra: korsisches Bier mit Kastanienmehl- oder Maquis-Zusatz. Route de la Marana, 20600 Furiani (bei Bastia), brasseriepietra.com
Produits Corses: Lebensmittelgeschäft von 1800 mit korsichen Produkten; Jean-Marie Chionga; Rue Vieux Marché, No. 9, Corte
Charcuterie Ceccaldi A Casana: Fleischerei mit Produkten von halbwilden Schweinen, Lieu dit Badella, Pietralba, +33/495/32 14 14
Domaine Maestracci: Weingut in der Balagne, „E Prove”, Feliceto, +33/495/61 72 11 domaine-maestracci.com
Moulin à Huile U Fragnu: Ölmühle in der Balagne, Lunghignano, Calinzana. +33/495/62 75 51, April–Oktober. ufragnu.com

Schlafen
Hotel les Voyageurs: 9, Avenue Maréchal Sebastiani, Bastia, +33/495/34 90 80 hotel-lesvoyageurs.com (deutschsprachige Internetseite). Preise: DZ ab 90 Euro, EZ ab 75 Euro exkl. Frühstück (9,50 Euro pro Person). Zentral, aber ruhig gelegen. 100 Meter vom Bahnhof entfernt. Kleine, aber freundlich und individuell eingerichtete Zimmer.

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