Venedig: Kanäle des Grauens

(c) Sascha Rettig
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Ein Venezianer sammelte Gruselgeschichten aus seiner Heimatstadt und zeigt auf einer „Geistertour“ die unscheinbaren Spuren des Schreckens im Stadtbild.

(c) Sascha Rettig

Plötzlich beginnt es, heftig zu schütten. Blitze zucken. Der Donner grollt am dunkelgrau verhangenen Himmel über Venedig. Ausgerechnet jetzt! Wenn man es nicht besser wüsste, würde man es sofort für eine Inszenierung aus einem Gruselfilm halten. Oder für einen billigen Spezialeffekt. Heute jedoch, als Alberto Toso Fei unter dem Regenschirm mit seiner Tour beginnt, ist die ungemütlich aufgeladene Wetterlage reiner Zufall. Sie passt aber nur zu gut zu den Legenden, übernatürlichen Begebenheiten, ja sogar Geistern, von denen der Autor bei einem abendlichen Spaziergang durch die Lagunenstadt erzählen will.

So wie die Geschichte eines Levantiners, von der er gleich zu Beginn am Eingangsportal der Scuola Grande di San Marco am Campo Santi Giovanni e Paolo berichtet. Anfang des 16. Jahrhunderts lebte der junge Mann, der sich türkisch kleidete und einen Turban trug, mit seinem Vater, einem jüdischen Kaufmann, auf der Insel Giudecca. „Er kam aber häufiger in diese Gegend, weil seine Mutter, eine christliche Venezianerin, hier lebte“, erzählt Toso Fei. „Allerdings wurde er weder von der jüdischen noch der venezianischen Gemeinschaft akzeptiert und war daher voller Wut.“

Und die entlud sich eines Nachts bei der einzigen Person, die er liebte: seiner Mutter. Völlig außer sich stach er mit einem Messer auf sie ein und riss ihr das Herz heraus, mit dem er nach der Tat tränen- und blutverschmiert durch das Viertel bis zur Ponte Cavallo rannte. Dort, an den Treppen, fiel er zu Boden und hörte ein letztes Mal die Stimme seiner Mutter. „Hast du dich verletzt, mein Sohn?“, fragte sie besorgt. „Und dann stürzte sich der verzweifelte Levantiner in die Lagune“, erzählt Toso Fei, während ein Blitz die Wand am Eingang der Scuola Grande erhellt. Darauf ist ein junger Mann mit Turban zu erkennen, der ein Herz in einer Hand hält – eingeritzt von einem Bettler und Steinmetz, der den Vorfall einst an dieser Stelle beobachtete. „An kalten Wintertagen soll sein leises Klagen zu hören sein, weil er sich nach der einzigen Sache sehnt, die ihn wärmen kann: das Herz seiner Mutter.“

Retter der Legenden. Mit solch grausigen Geschichten beschäftigt sich Toso Fei seit vielen Jahren – und Venedig ist dafür der ideale Ort. Die schmalen Gassen, das schummrige Licht, das samtig-schwarze Wasser der Kanäle, die so manch dunkles Geheimnis in sich tragen – diese Atmosphäre befeuert seit jeher intensiv die Vorstellungskraft. Irgendwann stellte Toso Fei jedoch fest, dass diese Geschichten mit der älteren Generation verloren gehen würden, weil sie niemand aufgezeichnet hatte. „In meiner Kindheit ist es noch ganz normal gewesen, den alten Leuten länger zuzuhören. Heute macht das niemand mehr“, klagt der Autor, der aus einer alteingesessenen Familie traditioneller Glasbläser von der Insel Murano stammt. Also begann er, alte Venezianer und Venezianerinnen aufzusuchen, bat sie um Geschichten, hörte ihren Erzählungen zu, schrieb sie auf und sammelte sie. Dass er zum Retter der Legenden und aus seinen Gesprächen ein Buch werden würde, wurde ihm jedoch erst klar, als er schon fast ein Jahrzehnt lang Geschichten gesammelt hatte. Inzwischen hat Toso Fei mehrere Bücher veröffentlicht. „Ich gebe sie dem Ort zurück, an dem sie entstanden sind, und schaffe so einen literarischen Pfad durch die Stadt“, erklärt der 47-Jährige. „Man läuft oft unversehens an Steinen vorbei, die voller Geschichte und reich an Geschichten sind, die einem zurufen. Man kann ihnen zuhören, wenn man die Ohren dafür hat.“

Auf seinem Rundgang Richtung jüdisches Ghetto und durch einige ruhige Gassen abseits von Markusplatz, Rialto-Brücke und den Touristenströmen kann er nur einen Bruchteil seines Wissens preisgeben. Mehrere hundert Geschichten, in denen es um Träume und übernatürliche Erscheinungen geht, schlummern inzwischen in seinem Archiv. Da ist der Rabbi zur Zeit der Pest, der Visionen der toten Kinder seiner Gemeinde hatte. Oder das bis heute mitternächtlich quicklebendige Skelett eines Mannes, der seine Seele verkaufte.

Wahre Begebenheiten. Oft liegen diesen Erzählungen Tatsachen zugrunde. So wie bei der Geschichte, die er an einer ehemaligen Gondelstation erzählt und die zurückführt in den November des Jahres 1904. Es war ein äußerst nebeliger Abend, an dem eine Bootsfahrt durch die Lagune eigentlich viel zu riskant war. Francesco Quintavalle, der Kapitän eines Vaporettos, soll auf Drängen einiger Arsenale-Arbeiter, die nach Hause auf die Insel Burano wollten, trotzdem abgelegt haben. Weil die Sicht so schlecht war, setzte er nach kurzer Zeit aber wieder zurück – und rammte eine voll besetzte Gondel. „Zwar konnten einige Passagiere gerettet werden“, sagt Toso Fei. Doch fünf Frauen kamen zu Tode, zwei Mädchen blieben vermisst: die 16-jährige Teresa Sandon und die sechs Jahre alte Giuseppina Gabriel Carmelo. Die Suche ging einige Tage weiter, erfolglos. Zehn Monate später erschien Teresa ihrerer Schwester im Traum. „Bete für mich und meine Seele, dann wird mein Körper von den Fesseln befreit werden, die ihn am Boden des Kanals halten“, soll sie gesagt haben. Die Schwester betete für sie – und zehn Tage nach dem Traum wurde Teresas Leiche gefunden. Guiseppinas Körper hingegen blieb auf dem Grund der Lagune. Ihre Seele soll aber Frieden gefunden haben in einem schwebenden Sarg, der an besonders nebeligen Tagen an der Fondamente Nove erscheinen soll – von Kerzen beleuchtet, damit er von den Bootsfahrern gesehen wird. „Als Kind habe ich mir immer die Nase am Vaporetto-Fenster platt gedrückt, um den Sarg zu sehen. Bis heute halte ich Ausschau danach“, sagt Toso Fei am Ende der Geschichte, die wie manch andere durch diese düsteren Schicksale fasziniert und auf unheimliche, anrührende Weise eine Gänsehaut bereitet.

Toso Feis Geistertour hat inzwischen Nachahmer gefunden. Persönlich führt er nur noch hin und wieder diese Stadtspaziergänge, bei denen er eine Atmosphäre erzeugt, die an die Zeit erinnert, als man als Kind den Märchen und Geschichten der Großeltern zuhörte. Oft sind Details im Stadtbild die Spuren der Legenden, in Wände eingeritzte Zeichen oder kleine Figuren an Häuserwänden wie etwa die Herkulesstatue an der Wand des Hauses, in dem einst Tintoretto gelebt hatte. Der Maler soll sie als Warnung angebracht haben, nachdem er eine Hexe in die Flucht geschlagen hatte. Es sind solche Dinge, die man sonst übersieht, die Venedig nach der Tour aber in einem anderen, etwas gedämpften Licht erstrahlen lassen.

Tipp

Düster. Karnevalsmaske aus Venedig.

Morbid. Schädel-Schal von Alexander McQueen, zBsp. über www.net-a-porter.com

Ortstypisch. Bunte Murano-Gläser, hier von Nason Moretti. www.nasonmoretti.com


Schlafen: Bei der Mitwohnzentrale
(mwz-online.com) hat man die Ferienwohnungen,
anders als der Name sagt, ganz für sich allein. Individuelle Angebote für Appartements in unterschiedlichen Größen und über die ganze Hauptinsel
Venedig verteilt. Wen es etwas abseits der Touristenströme zieht, findet auf derInsel Certosa ein modernes Mittelklassehotel: ruhig und trotzdem nur zehn Minuten mit dem Vaporetto zur Hauptinsel oder zum Lido.
ventodivenezia.it

Essen: Etwas versteckt in einer Gasse in San Polo
stößt man auf das Al Ponte Storto, ein familiäres
Restaurant, in dem Meeresfrüchte und Fisch auf den
Tisch kommen. Mit etwas Glück gibt’s zum Schluss hausgemachten Limoncello. alpontestorto.com

Im La Zucca in Santa Croce 1762 stehen auch viele köstliche vegetarische Gerichte auf der täglich wechselnden Karte, ohne die Fleischfresser zu
vernachlässigen. Reservieren! lazucca.it

Einen Pizzahimmel findet man an ungeahnter Stelle beim Take-away Fabio’sPizza et Gelato auf dem Lido in der Gran Viale und nur fünf Minuten vom Strand entfernt.
(Tel. +39/(0)412760065)

Eine große Auswahl an süchtig machenden Ei kreationen
gibt es in der Seitengasse Calle del Fabbri. gelatofantasy.com


Geistertour: Die von Alberto Toso Fei autorisierte „Secret & Ghost Tour“ wird von der Agentur Passeggiate Italiano angeboten. secretvenice.it
Alberto Toso Feis Website: albertotosofei.it.
Seine Bücher gibt es nur auf Englisch: „Venetian Legends and Ghost Stories – A Guide to Places of Mystery in Venice“, Editrice Elzeviro.

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