Mons: Vergessener Alltag

(c) Visitmons/Gregory Mathelot
  • Drucken

Ein eigenwilliges belgisches Städtchen ist Europas neue Kulturhauptstadt Mons. So richtig etwas los ist dort rund um Pfingsten: bei einem Stadtfest, das immaterielles Welterbe ist.

Moderne Kunst gedeiht in Mons auf ehemaligen Zechen, in verlassenen Fabriken und auf Baustellen: Stararchitekt Santiago Calatrava entwarf für die rund 90.000 Bewohner der Europäischen Kulturhauptstadt 2015 den neuen Bahnhof, kein Geringerer als Daniel Libeskind das Kongresszentrum. „Wir bauen keine weißen Elefanten“, versprach Kulturhauptstadtdirektor Yves Vasseur. Das 75 Millionen Euro teure Kulturhauptstadt-Programm sei auf Augenhöhe mit den Menschen geblieben. Mehr als 500 Projektvorschläge hatten die Bürger aus Mons und Umgebung an die Stiftung geschickt, die das Programm organisiert. 22 wählte sie aus. Emmanuel Vinchon kümmert sich um die, die abgewiesen wurden.

„Wir haben auf jede Beschwerde reagiert“, sagt er. „Wir haben die Leute gebeten, uns zu sich ins Viertel einzuladen, wir brachten Essen und Getränke mit und hörten zu.“ Dann halfen die Kulturhauptstadt-Manager den Bewohnern, eigene Projekte zu entwickeln. Rund 9000 der etwa 90.000 Montois hätten sie damit erreicht. „Kulturmacher müssen sich für die Leute interessieren, nicht umgekehrt“, findet Vinchon.

Wie ein Panzer. „Die Kulturhauptstadt-Stiftung war lange Zeit wie ein Panzer. Abgeschottet, undurchdringlich. Niemand wusste, was darin vorgeht und wohin sie fährt“, kritisiert Alexandre Seron. Begeistert zeigt er als ehrenamtlicher Stadtführer Besuchern seine Heimatstadt. Mons – das sind für ihn die vielen Freunde und die Möglichkeit, Ideen gemeinsam schnell umzusetzen. Alle paar Schritte begrüßen ihn Menschen mit Umarmungen, Küsschen links und Küsschen rechts. Die von außerhalb eingeflogenen Kulturhauptstadt-Mitarbeiter hätten lange nicht verstanden, wie die Leute hier ticken, sagt Seron. „Schau dir meinen Vater an“, nennt die 37-jährige Frohnatur ein Beispiel: „Mit sechzehn hat er die Schule verlassen und bis zur Pension bei der Eisenbahn gearbeitet. Bis zur Schließung der Zechen hat er Grubenzüge gefahren.“ Ins Theater gehe er nie. „Er versteht nicht, worum es bei der Kulturhauptstadt überhaupt geht.“ Die Stiftung Mons 2015 sei viel zu spät auf die Menschen in der Stadt zugegangen.

Umsonst war die Mühe nicht. Rund 1300 Montois haben sich inzwischen als ehrenamtliche Botschafter der Kulturhauptstadt bei der Stiftung gemeldet. „Wir haben hier andere Probleme“, schimpft der Graubärtige mit den zum Zopf gebundenen Haaren an seinem Stand in der Fußgängerzone. „Meine Frau war Lehrerin“, erzählt der stämmige End-Fünfziger: „Manche Schüler kommen barfuß in die Schule, weil sich die Eltern keine Kinderschuhe leisten können.“ In den Gemeinden rund um Mons, dem ehemaligen Kohlerevier Borinage, „kennen viele Kinder ihre Väter und Großväter nur in Trainingshose vor dem Fernseher – Arbeitslose in der dritten Generation.“

(c) Visitmons/Gregory Mathelot

An seinem Stand verkauft er Seile in den Stadtfarben Rot-Weiß, die sich die Montois und ihre Gäste zum Stadtfest Doudou um den Hals hängen, dunkelblaue T-Shirts mit der Aufschrift „Les Montois ne periront pas“ – die Montois werden nicht vergehen. Der Glockenturm, der die Hemden ziert, erinnert an den Machtkampf mit den Stiftsdamen der Heiligen Waltrudis, den Channoinesses de Saint-Waudru. Mit ihrem Kloster hatten die eigenwilligen Damen einst auf einem Hügel zwischen den Flüssen Haine (Hass) und Trouille (Furcht) den Grundstein der Stadt gelegt.

Der einflussreiche Orden mit besten Beziehungen zu Europas Königshäusern gehörte erst zu den Benediktinerinnen, dann zu den Augustinerinnen. Später gingen die Schwestern eigene Wege. Die Stiftsdamen wohnten in ihren eigenen Häusern. Sie durften heiraten und jederzeit den Orden verlassen. Aus ganz Europa zogen adelige Frauen in diese freie Gemeinschaft.

Die Bürger, mit Handel, Holzverarbeitung, Bier und Stoffen reich geworden, wollten mitbestimmen. Nach dem Einsturz des ersten Glockenturms stritten sie mit den Stiftsdamen jahrelang um die Zeiten, zu denen die Glocken eines neu zu bauenden Turms läuten sollten. Schließlich errichtete die Stadt im 17. Jahrhundert ihren eigenen Belfried. Teuer und weithin sichtbar zählt der einzige Barock-Glockenturm Belgiens inzwischen ebenso zum Weltkulturerbe wie das ehemalige Zechengelände Grand Hornu, die prähistorischen Steinbrüche in Spienne und das Stadtfest Ducasse, das die Einheimischen Doudou nennen.

Tanzen bis in die Nacht. Jedes Jahr nach Pfingsten feiern die Montois eine Woche durch. Am Mittwochabend sammeln sich hunderte im Wohnzimmer der Stadt, dem von Cafés, Kneipen und Bars gesäumten Großen Platz im Herzen der Altstadt. Man trifft Freunde, quatscht, trinkt und tanzt bis in die Nacht. Überall in der Innenstadt haben die Kneipenwirte Bierstände aufgebaut. Aus Boxentürmen dröhnen heimische Chansons, Technound Mainstream-Sound. Viele tanzen auf der Straße. „Vive nous, vive vous, vive le Doudou“, Hoch leben wir und ihr und das Doudou, singen sie, viele Arm in Arm. „Während des Doudou vergessen wir den Alltag“, schwärmt Alexandre Seron, „da sind wir eine klassenlose Gesellschaft.“ Der Unterschied zum Karneval: „Wir verkleiden uns nicht, weil wir erkannt werden wollen.“ Am Samstagabend strömen Honoratioren, Bürger und Geistliche in die Kirche Sainte-Waudru. Die Klänge der Orgel füllen das weite gotische Kirchenschiff. Behelmte Männer in mittelalterlichen, schwarz-gelben Uniformen stehen mit Hellebarden in der Hand Spalier.

„Diesem magischen Moment kann sich kaum jemand entziehen“, sagt der Pfarrer im gold-weißen Ornat, bevor er dem Bürgermeister symbolisch für ein Wochenende die Reliquie der Stiftsgründerin Waltrudis übergibt. Weil sie im 7. Jahrhundert Wunder vollbrachte und ein Kloster gründete, sprach die Kirche sie heilig. Drei Bauern, die zu Unrecht verhaftet worden waren, befreite Waudru der Legende nach mit Gebeten von ihren Ketten.

Zu Orgelklängen seilen kräftige Männer in grünen Gewändern den Schrein mit den Gebeinen der Heiligen Waudru bedächtig ab, hieven ihn im Weihrauchnebel auf eine Sänfte und tragen ihn durch die Kirche. Mit ernsten Gesichtern beobachten die Montois das jährliche Ritual.

„Wir halten zusammen.“ Geschmückt mit einer Schärpe in den Landesfarben, verfolgt Belgiens Ministerpräsident Elio Di Rupo – erster Bürgermeister der Stadt – mit anderen Ehrengästen das Geschehen. Der Kirchenchor singt zu den Klängen der Orgel, die Bach, Händel und heimische Lieder spielt. Als Organist und Chor das Doudou- Lied, die Hymne des Stadtfests, anstimmen, stehen manchen die Tränen in den Augen. Nach der „Descente de la Châsse“ genannten Aufbahrung der Reliquie auf ihrem gold-weißen Prunkwagen folgt am Sonntagmorgen die Prozession durch die Stadt. Zu tausenden drängen die Menschen auf die Grande-Place.

Vor der Kneipe No Maison hat ein junger Kellner seinen Kopf auf eine Biergartenbank gelegt. Kurz hebt er den Blick und dreht die Faust vor seiner Nase. „Gestern zu viel erwischt.“ Mühsam erhebt er sich, bringt einem Gast sein Bier. Auf dem Platz trinken Horden junger Kerle weiter und grölen Lieder, die nach Fußballstadion klingen. Zum Spaß schleifen sie sich gegenseitig durch die Arena, die Mitarbeiter der Stadt für den Höhepunkt des Festes auf der Grande- Place errichtet haben.

Kräftige Männerhände reichen ein weinendes Mädchen über die Köpfe die Menschen hinweg zu einer Tribüne, wo eine Zuschauerin die Kleine spontan in Empfang nimmt und tröstet. „Wir halten zusammen“, versichert Alexandre Seron. Trotz reichlich Bier und derber Späße bleibt das Fest friedlich. Wer im Gedränge Panik bekommt, wird sicher hinausgeleitet – zur Not, siehe oben, über die Köpfe der anderen hinweg.

In einem mit Sand aufgeschütteten Kreis in der Mitte des Platzes kämpft der Heilige Georg gegen den Drachen. Das Spektakel folgt einer 500 Jahre alten Choreografie: Teufel schlagen mit Gummikeulen auf die Helfer des Heiligen Georg ein. Sein Gegner, der von zwölf weiß gewandeten kräftigen Männern getragene Drache mit einem rund fünf Meter langen Schwanz, dreht sich gegen den Uhrzeigersinn. Sankt Georg, hoch zu Pferd, hält mit dem Schwert dagegen. Alle Figuren und jede Handlung hat ihre symbolische Bedeutung. Immer wieder drehen die Drachenträger den Schwanz des Ungeheuers in die johlende Menschenmenge – Dutzende Hände greifen nach dem schwarzen Büschel am Ende des Schweifs – ein Haar davon soll Glück bringen.

Schatztruhe. Vor 14 Jahren hat der Männerzirkel, der die Rollen im Lumeçon genannten Drachenkampf besetzt, Ursula Heinrichs als erste Frau in den Kreis der Schauspieler aufgenommen.

„Der Kampf“, sagt die 45-Jährige mit den dichten, roten Haaren, „spiegelt die Stadtgesellschaft und vereinigt die Gegensätze. Der Heilige Georg steht für Ordnung, für das Gute. Der Drache für das Böse und das Chaos. Deshalb dreht er sich gegen den Uhrzeigersinn.“ Die Rollen im Drachenkampf sind sehr begehrt, ohne einen Paten als Fürsprecher hat man keine Chance. Olivier Crépin trägt als Homme Blanc, als weißer Mann, eine Pfote des schweren Drachens. „Mit sechs wollte ich mitmachen, mit 18 durfte ich mich endlich bewerben, und nun bin ich seit 15 Jahren dabei“, erzählt der Muskelprotz mit den maßkrugdicken Oberarmen. Drei Mal die Woche trainiert Crépin, Leiter eines Supermarkts, im Fitnessstudio. Dazu kommen die Proben. Für ihn ist das Stadtfest „Identität, Heimat, die Nähe zu Freunden und der Stolz auf unsere Stadt“. Manche „weinen, wenn sie nach 25 Jahren wegen der Altersgrenze nicht mehr mitmachen dürfen“.

„Eine Truhe voller versteckter Schätze“ nennt Stadtführerin Catherine Stilmant Mons mit ihren versteckten Villen reicher Bürger und Ordensschwestern. Rund um die Grande-Place, den Marktplatz mit seinem gotischen Rathaus und den verzierten Fassaden aus fünf Jahrhunderten, sind zahlreiche historische Häuser erhalten geblieben – jedes genau fünf Meter breit. Bis ins 18. Jahrhundert bemaß sich die Steuer für die Besitzer nach der Breite des Gebäudes. So türmte man Stockwerk um Stockwerk auf schmale Fundamente. Innen führen schulterenge Holztreppen steil nach oben. Große Menschen müssen den Kopf einziehen, um sich nicht an den niedrigen Decken mit den dunklen Holzbalken zu stoßen. Draußen gehen sie dann wieder erhobenen Hauptes, die stolzen Montois.

Trip-Info

Anreise: Wien–Brüssel– Wien direkt mit Brussels Airlines ab 145 Euro. Weiter mit Regionalzügen nach Mons (ca. 1 Std.). Schwechat Terminal 2, +01/ 7007-36394, brusselairlines.com

Touristinfo: Grand-Place 22, +32/65/335580, visitmons.be

Europäische Kulturhauptstadt 2015: mons2015.eu/de

Stadtfest Ducasse: (Doudou) de Mons: ducassedemons.info und doudou.mons.be

Restaurants:

Le Salon des Lumières: Essen bei Kerzenschein im Ambiente des 18. Jahrhunderts, auch das Personal trägt die höfische Kleidung der Zeit, mediterrane Küche angelehnt an Rezepte des 18. Jahrhunderts - große Nachfrage, daher vorbestellen, Menü ab 35 Euro. Rue du Miroir 23, + 32/474/292584, salondeslumieres.com

Henri: traditionelle regionale Küche in einem Gebäude aus dem 17. Jahrhundert, Rue d’Havré 41, Tel. +32/65/352306

La table du Boucher , Rue d’Havré 49, +32/65/316838, latableduboucher.be

Ausgehen:

Le Chant du Fou (Das Lied des Verrückten): sympathische, ruhige Bar mit zahlreichen Bio-Biersorten kleiner Brauereien und fair gehandelten Produkten, Rue de Nimy 22, facebook.com/Lechantdufou

Le Bâteau Ivre: Café Bar mit Livemusik, Rue de Nimy 1

Elektro- und Technoclub Alhambra , Rue du Miroir 4, alhambramons.com

Übernachten:

Frisch renoviert ist die Jugendherberge in bester (ruhiger) Innenstadtlage oberhalb des Hauptplatzes (Grande- Place), Rampe du Château 2, +32/65/875570 lesaubergesdejeunesse.be

Hotel St. James: Am Rand der Altstadt gelegenes modernes 3-Sterne-Hotel in einem stilvoll renovierten Backstein-Altbau aus dem 18. Jahrhundert. Die Zimmer im Hinterhaus sind ruhig. DZ ab 83 € ohne Frühstück, Place de Flandre 8, +32/65./724824, hotelstjames.be

Compagnons11: In einem restaurierten alten Herrenhaus mit Garten mitten in der Altstadt bieten die Kompagnons verschiedene Gästezimmer, ÜF im DZ ab 80 € (keine Kreditkarten, keine Haustiere, nur Nichtraucher), +32/65/334414, compagnons11.be

Anschauen:

Kultur- und Ausstellungszentrum im 1855 erbauten Alten Schlachthof (Anciens Abbatoires), Place de la Grande Pêcherie, +32/65/562034 bam.mons.be

Museum für zeitgenössische KunstBAM, Rue Neuve, 8, +32/65/405330

Weltkulturerbe Barocker Glockenturm aus dem 17. Jahrhundert (wird Mitte 2015 wieder geöffnet).

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.