Polen: Holly-Łódź

(c) Nicole Quint
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Seit Jahrzehnten ist der falsch ausgesprochene Name der Stadt aus einem Schlagertext bekannt. Genaueres über Łódź wissen aber nur wenige. Es ist an der Zeit, das zu ändern.

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Polens schlagfertigste Schüler lebten in Łódź. Ende des 19. Jahrhunderts stand Boxen als Unterrichtsfach auf dem Lehrplan vieler Gymnasien. In einer Stadt, in der einem Grammatik und Algebra nicht immer weiterhalfen, konnten lebenspraktische Fähigkeiten nicht schaden.
Łódźermenschen, so nannten sich die Einwohner selbst, waren eben echte Macher, fleißig und zupackend, fortschrittsgläubig und willensstark und bei Bedarf auch boxbereit.

Nur so konnte man in einer der größten Textilmetropolen Europas überleben oder es gar vom Lumpensammler zum Großindustriellen bringen. Alle saßen im selben Boot – sogar im wahrsten Wortsinn. Übersetzt bedeutet Łódź nichts anderes als Boot. „Ich habe nichts, du hast nichts, er hat nichts. Zusammen haben wir also genau so viel, um eine Fabrik zu gründen!“, beschließen die Helden in Władysław Reymonts Roman „Das gelobte Land“, der die Goldgräbermentalität in der Stadt beschreibt. Hier kannte der Erfolg weder Nationalität noch Religion. Deutsche Heimweber, polnische Handwerker und russische Bauern – sie kamen nach Łódź, um ihr Glück zu machen.

Und wer kommt heute? Die Backsteinschlote qualmen schon lang nicht mehr, die Spindeln stehen still, und kein einziger Webstuhl rattert. Grantler behaupten, die Freude auf eine richtig fiese Grippe sei größer als die Lust, nach Łódź zu reisen. Zu grau, zu monoton, zu langweilig. Das Image der sterbenden Stadt und der vermaledeite Schlager-Theo kleben an ihr wie Kaugummi unter der Schulbank. Frau Leandros’ Lied gehört ignoriert und das nicht nur, weil sie seit 40 Jahren den Namen falsch ausspricht. Es heißt nicht Lodsch, es heißt Uutsch. Wer das nicht beherzigt, soll doch in den Altstädten von Krakau, Breslau oder Warschau bleiben, die hinter ihren Zuckerguss-Fassaden im Koma liegen und als Kulissen für polnische Folklore herhalten müssen. Alles einwohnerfreie Zonen. Łódź aber lebt. Vom polnischen Manchester hat die Stadt es zum polnischen Hollywood gebracht, zu Holly-Łódź samt Walk of Fame, Kinomuseum und einer Filmhochschule, die so anspruchsvoll ist, dass Roman Polanski zwei Anläufe brauchte, bis er aufgenommen wurde. Für ein gelobtes Land hat er Łódź damals jedoch nicht gehalten. „Es ist ein Drecksnest, ich frage mich, ob ich es hier aushalten werde.“ Ganz schön dumm für einen Filmemacher, muss doch kein Regisseur in Łódź extra Kulissen bauen lassen. Die Stadt bietet ranzige Hinterhofecken, zahnsteinfarbene Fassaden mit einer Patina aus Taubendreck und Ruß, Arbeiterkaschemmen ohne Bad, aber mit WC auf halber Treppe. Stoppelbärtige Alte schütten Flüche und manchmal auch Wasser auf die Hunde, die nicht aufhören wollen zu kläffen. Roh und renitent kann Łódź sein, aber auch gefällig und charmant – vor allem auf der Piotrkowska Straße. Sie ist eine bescheidenere Ausgabe der Wiener Ringstraße. Mit gusseisernen Laternen, prächtigen Fabrikantenvillen und restaurierten Jugendstilhäusern schwelgt der „längste Boulevard Europas“ im Gestern. Gediegene Gemütlichkeit in Konditoreien und Kaffeehäusern, spannendes Szeneleben in den Hinterhöfen mit Designläden und Galerien, und dort, wo früher Maschinen dröhnten und Arbeiter unter Atemnot litten, wummern heute die Bässe der Technoclubs.

Fein und vorzeigbar. Schlampig und vital. Łódź ist beides und soll es auch bleiben. Die Stadt ist keine Diva. Sie ist eine geradlinige Arbeiterin geblieben, und was für eine. Aus vergammelten Relikten der untergegangenen Textilindustrie wurden attraktive Statthalter der Geschichte. Kunst in alten Fabrikhallen einzuquartieren wirkt oft so befremdlich wie Meißner Porzellan in der Kantine. In Łódź transplantierte man Kulturzentren, Multimediahallen, edle Einkaufszentren, futuristische Hotels, Designateliers und sogar Spielplätze in die alten Backsteinfabriken, und die Abstoßungsreaktionen blieben aus. Polens größtes Prestigeobjekt, das Einkaufs- und Erlebniszentrum Manufaktura, brachte Leben in eines der mächtigsten Textilimperien der Stadt zurück. Wo einst die Arbeiter des Industriellen Izrael Poznański in Baumwolllagern, Färbereien, Webereien, Schmieden und Kraftwerken malochten, amüsieren sich heute die Kunden von Boutiquen, Cafés und Kinos, und in die riesige Webmühle zog das MS2 ein, das landesweit renommierteste Museum für moderne Kunst. Besonders gefallen hätte dem leicht größenwahnsinnigen Poznański aber bestimmt die neue Nutzung eines alten Brandschutzwasserbeckens. Errichtet auf dem Dach der alten Spinnerei ist der große gläserne Kubus heute mit Thermalwasser gefüllt und bietet als Hotelschwimmbad einen spektakulären Rundblick über die Stadt.

(c) Nicole Quint

Textil- und Filmstadt. Am schönsten wird die Metamorphose von Łódź in einem der vielen Wandbilder gezeigt, die seit einigen Jahren aus der Stadt eine Open-Air-Galerie machen. Links ist eine mit Augen und Zähnen ausgerüstete Nähmaschine samt einigen Tuchrollen zu sehen, rechts ein Wesen, dessen Kopf eine riesige Kamera ist – Symbole für die Textil- und Filmstadt Łódź. Im Mittelpunkt des Bildes steht jedoch eine Figur mit einem Körper aus Schubladen. Aus einem kübelartigen Hals wachsen ihr Pinsel und Bleistifte und verdichten sich zu einem Kopf. Neben ihr hält ein Chamäleon auf einem Gewirr von ineinander verschlungenen Eisenrohren die Balance. Łódź – die Kreative, die Wandelbare, die Unverwüstliche. Die drittgrößte Stadt Polens hat Wirtschaftskrisen, Weltkriege, Sozialismus und Wendezeiten überstanden. Soll Breslau ruhig anstelle von Łódź 2016 Kulturhauptstadt werden. Das steckt Łódź auch noch weg, denn „der Punkt ist nicht der, wie hart einer zuschlagen kann. Es zählt nur, wie viele Schläge man einstecken kann und ob man trotzdem weitermacht“, wusste schon Rocky Balboa. Łódź boxt sich weiter durch.

Tipp

Gehaltvoll. Żubrówka-Bisongras-Wodka. zubrowka.com
Blumig. Souvenirs mit traditionellem Blumenmuster zBsp über polandbymail.com

Schlafen

Andel‘s Hotel Łódz. Mehrfach für Architektur und Design ausgezeichnet. Früher waren 80.000 Spindeln in diesem Backsteinkomplex in Betrieb, heute bietet hier eines der besten Hotels in Polen perfekten Komfort. Highlight: das Schwimmbad im ehemaligen Brandschutzbecken auf dem Dach. Das Haus zählt zu den Vienna International Hotels. Ogrodowa 17, +48/42/ 279 10 00; andelslodz.com
vi-hotels.com/de/hotels

Hotel Grand: eines der elegantesten Hotels der Stadt.
ul. Piotrkowska 72, +48/42/633 99 20; ­­ grand.hotel.com.pl


Shoppen

Manufaktura. Von polnischen Wodkapralinen bis zum Smoking. Die Läden in der ehemaligen Textilfabrik erfüllen auf einer Fläche von 27 Hektar jeden Shopping-Wunsch. Übersichtspläne sind vor Ort oder in der Touristeninformation vorrätig. ul. Drewnowska 58; manufaktura.com


Essen und trinken

Anatewka. Jüdische Küche wie Gefilte Fisch, jüdischer Kaviar und Cymes. ul. 6 Sierpna 2-4; anatewka.com

Polka: Polens Starköchin Magdalena Gessler hat auch in Łódź ein Restaurant eröffnet, mit feinster polnischer, also Anti-Diät-Küche. Eierschwammerlsuppe, Pastete, Bigos im Brotteller oder gebackene Forelle mit Knoblauch- und Mandelplättchen. Manufaktura, ul. Ogrodowa 19a, lodz.restauracjapolka.pl

Czekolada Retro Cafe: Unbedingt den Schokoladen-Kirsch-Tee mit Kokosraspeln und Schokoflöckchen probieren. ul. Moniuszki 11.

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