Sachsen: Glanz der Industrie

(c) Franz Lerchenmüller
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Die neue Route der Industriekultur in Sachsen verbindet faszinierende Zeugnisse der wirtschaftlich besten Zeit des Landes.

Ein richtiger Buchstabensalat hat genau festgelegte Zutaten: 330 e gehören hinein, 40 A und 100 a. Dazu 28 Z, eine vorgeschriebene Mischung aller anderen Lettern natürlich, nicht zu vergessen die Prise q, 14 an der Zahl – und schon hat man ein „Minimum“, ein Päckchen frisch produzierter Buchstaben, wie es die Schriftgießereien an die Drucker lieferten; ein Quantum, das für etwa zehn Seiten eines durchschnittlichen Romans ausreichte. Solch erstaunliches Fachwissen erwirbt man im Museum für Druckkunst in Leipzig. In Leipzig erschien 1650 die erste Tageszeitung der Welt, im 19. Jahrhundert war die Stadt eines der Zentren der Buchherstellung. 1500 Verlage, Drucker und Buchbinder waren ansässig, aber auch Hersteller von Druck- und Setzmaschinen. Die langen 500 Jahre Druckereigeschichte werden im Museum sehr anschaulich, denn die meisten der 90 ausgestellten Maschinen funktionieren noch und werden von Fachleuten vorgeführt. In der Gießerei riecht es nach dem heißen Blei, mit dem einer der Männer eben die Form eines kleinen k ausgießt, an der Handpresse drucken sich Schüler ein historisches Rezept von „Leipziger Gut geölt. Die meisten Maschinen im Museum für Druckkunst in Leipzig funktionieren noch. Filigran. Gusseisenornamente in 28 Metern Höhe: der Turm von Löbau (r. o.). Halle 14 der Leipziger Spinnerei. Lichtdurchflutet. Norman Foster & Partners sanierten die Südhalle des Dresdner Hauptbahnhofs. Allerlei“, und als Roland Müller, gelernter Setzer, die Linotype bedient, rasselt sie so monoton vor sich hin, wie sie noch bis 1990 in der Druckerei der „Leipziger Volkszeitung“ tagtäglich gerasselt hat.

(c) Franz Lerchenmüller

Treibende Kraft des Fortschritts. Das Museum ist Teil der neu aus der Taufe gehobenen Route der Industriekultur in Sachsen, einer Verbindung 51 wichtiger Zeugnisse der reichen Wirtschaftsgeschichte des Landes. Fabriken, Ausstellungen, Fahrzeuge und Bauwerke aus Berg- und Maschinenbau, Verkehr, Textil- und Nahrungsmittelindustrie wurden zu einem abwechslungsreichen und überaus informativen Rundkurs zusammengefasst. Grundlage der Industrialisierung in Sachsen war der Bergbau, der schon im zehnten Jahrhundert begann und Kapital und frühes technisches Know-how schuf. Vor allem im Erzgebirge erinnern noch Stätten wie das Bergbaumuseum in Oelsnitz oder die Zinngrube Ehrenfriedersdorf daran. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts aber entwickelte sich die Textilverarbeitung zur treibenden Kraft des Fortschritts. Die „Spinnerei“ in Leipzig entstand erst ab 1884 – war aber nach 25 Jahren bereits die größte des Kontinents, eine Fabrikstadt mit modernsten Produktionshallen und Arbeiterwohnhäusern, eigenem Kindergarten, Schwimmbad und Schrebergartenbereich. Die ein Meter dicken Backsteinwände, die gusseisernen Kastenfenster und das durchdachte Beleuchtungs- und Energiekonzept beeindrucken noch heute. Nach einem wechselvollen Auf und Ab wurde die Anlage 2001 von drei Privatleuten gekauft – und ihr zweites Leben begann. Tänzer, Designer, Architekten und Kunsthändler zogen ein, die Galerie Eigen + Art machte Maler der Neuen Leipziger Schule wie Tilo Baumgärtel, David Schnell oder Rosa Loy weltbekannt. Ihr Star Neo Rauch kommt heute noch täglich mit dem Fahrrad zu seiner Werkstatt gestrampelt. 120 Ateliers, eine große Firma für Künstlerbedarf, ein Kino, ein Café und 5000 m2 Ausstellungsfläche verteilen sich über die 20 Gebäude.

Wo die Eisenbahn nicht hinreicht. Im Gefolge der Textilfabrikation wuchs die Bedeutung der metallverarbeitenden Industrie – die Nachfrage nach schnelleren, größeren und billigeren Spinn- und Nähmaschinen war enorm. Als das Städtchen Löbau sich, wie so viele andere, Mitte des 19. Jahrhunderts einen Aussichtsturm gönnen wollte, bot das Eisenhüttenwerk Bernsdorf an, einen solchen „unterhalb des Selbstkostenpreises“ zu gießen. Ein 28 Meter hoher achteckiger Turm aus eisernen Platten und Säulen, mit filigranen gotischen und byzantinischen Ornamenten – das schien das passende Meisterstück, um die Welt wissen zu lassen, zu welchen Leistungen die Branche inzwischen fähig war. 1854 wurden 70 große und über 100 kleine Gussteile mit Schlitten und Ochsen auf den Löbauer Berg gezogen, dort zusammengesteckt, mit Blei vergossen und auf die 2,20 Meter tiefen Fundamente gesetzt. Und das Erstaunlichste war: Alles passte haargenau. Weniger erstaunlich aus heutiger Sicht: 5000 Taler waren für den Bau veranschlagt – am Ende kostete er das Fünffache. Erst 1993 wurde er wieder auseinandergenommen und umfassend restauriert. Und wer heute die 120 Stufen der Wendeltreppe im luftigen Inneren hochsteigt und von den drei Plattformen weit über die Oberlausitz blickt, kann gar nicht anders, als das technische Können und die Präzision der „eisernen“ Vorväter zu bewundern.

Mit der Industrialisierung zogen immer mehr Menschen in die Städte. Sie mussten versorgt werden, Lebensmittelwerke wie die Nudelfabrik in Riesa oder die Landskron- Brauerei in Görlitz übernahmen das. Beide sind heute noch aktiv, in Görlitz trinkt man Bier, in Riesa folgt man dem Werdegang von Spaghetti und Co. und kann sie hinterher gleich verzehren. Mietskasernen entstanden, Wasserleitungen und Abwasserkanäle wurden gebaut, und es musste schneller gehen mit dem Vorankommen. „Wo die Eisenbahn nicht hinreicht, wird der Schlaf zum Tod“, hieß es. In den Städten setzte man auf Pferdebahnen. Döbeln hat noch eine solche. Sie verkehrte von 1892 bis 1926 zwischen der Innenstadt und dem zwei Kilometer entfernten Bahnhof. 66 Fahrten gab es jeden Tag, 500 Personen stiegen ein und aus. Ab 2005 machte sich ein Verein daran, 725 Meter Gleise neu zu verlegen. Und nun lenkt einmal im Monat Kutscher Mario Lommatz sein Sächsisches Warmblut Elko wieder über die Schienen, der restaurierte Waggon der Meißner Straßenbahn rumpelt im Schritttempo vom Pferdebahnmuseum zum Obermarkt, genau so, wie diese Vertreter des ersten öffentlichen Personennahverkehrssystems zwischen 1860 und 1910 über die Straßen von 1700 Städten auf allen fünf Kontinenten gerumpelt waren.

(c) Franz Lerchenmüller

Wenn die Wirtschaft boomt. Ja, dann sammelt sich viel Geld bei einigen wenigen an. Und die wollen ihren Reichtum zeigen. In den Städten ließen Industrielle bombastische Gründerzeitvillen hochziehen, Klötze mit Jugendstildekor oder neogotischen Türmchen. Die Südvorstadt Leipzig etwa ist ein Freilichtmuseum des Baugeschmacks jener Zeit. Entlang der Karl-Liebknecht-Straße reihen sich heute die Kneipen, und in den Gebäuden einer ehemaligen Brauerei befinden sich die Szeneläden der Feinkost, eines Kultur- und Gewerbehofs.

Einige Bauherren immerhin hatten damals respektablen Geschmack. Ebenfalls in Löbau beauftragte der Fabrikant Fritz Schminke, der als Erster Nudeln in Zellophan verpackte, den bekannten Architekten Hans Scharoun, ihm ein modernes Domizil zu entwerfen. 1933 zog er mit seiner Familie ein. Gebaut wurde mit einem Stahlskelett und Bimsbetonsteinen, was ungewöhnliche Formen ermöglichte. Wie der abgerundete Bug eines Schiffes schieben sich Dach und Terrasse nach vorn, und der Schlafraum der Eltern erinnert mit seinen drei halbkreisförmigen Fenstern an dessen Kommandobrücke. Durch eine schräge Glaswand fällt Licht in den Wintergarten, die Deckenbeleuchtung ist hinter Lochblech versteckt, und auch die erste Einbauküche Deutschlands gönnte der Architekt seinem Auftraggeber. Fußbodenheizung und Lüftung funktionieren heute noch, man spricht von einem „bauphysikalischen Wunder“. Und immer mehr versteht der Besucher beim Rundgang durch die lichten, funktionalen Räume, was das sein kann: organisches Bauen. Das Gebäude dient dem Bewohner. Und erst in zweiter Linie dem Ruhm des Architekten.

Die Göltzschtalbrücke, die Schaufelraddampfer der Weißen Flotte in Dresden, die Energiefabrik Knappenrode – sie sind faszinierend, die Zeugnisse jener Epoche, als Erfindungsreichtum, Mut zum Risiko und die Arbeit Hunderttausender von Händen Sachsen zu einem der modernsten und experimentierfreudigsten Wirtschaftsräume Deutschlands machten. 51 von ihnen fasst die neue Route zusammen. Dutzende und Aberdutzende darf man daneben auf eigene Faust entdecken.

Tipp

Originell. „Brotbüchse“ mit sächsischem Charme diekaffeesachsen.de

Rustikal. Bockwürste aus Döbeln, z.B. über typischsachsen.de


Extras 2015:

Leipzig feiert 1000-jähriges Bestehen.
Neben Festen und Konzerten gibt es die Ausstellung „500 Jahre Druckund Verlegerstadt“. Am 1. und 2. 5. und am 12. und 13. 9. laden die Galerien in der Spinnerei zum großen Rundgang ein. Vom 27. 6. bis 5. 7. findet die Festwoche „850 Jahre Leipziger Messen“ statt. leipzig2015.de


Chemnitz: In der „Stadt der Moderne“ wird das umgebaute Industriemuseum neu eröffnet, in dem die wichtigsten Industriezweige Sachsens vertreten sind. Außerdem gibt es ein Eisenbahn- und ein Straßenbahnmuseum und ein Museum für Sächsische Fahrzeuge. Vom 25. –27. September finden die „Tage der Industriekultur“ statt, deren Höhepunkt der Gründerzeitmarkt ist. industriekultur-chemnitz.de


Schlafen.

Haus Schminke: Schlafen in einem Kulturdenkmal, vom Park aus auf das Haus blicken, das wie ein gelandetes Ufo in der Dunkelheit leuchtet, sich fühlen wie der Hausherr, wenn beim Aufwachen der Blick vom Bett direkt auf die alte Nudelfabrik fällt? Der fabelhafte Bau ist für 250 Euro pro Nacht (für drei Personen) auch zu mieten. Kirschallee 1b, 02708 Löbau, +49/(0)3585/862 133, stiftung-hausschminke.eu


Hotel Börse: barockes Palais im Herzen von Görlitz am Untermarkt. Mit Lustern, Parketten, Himmelbetten
und in Gold gerahmten Spiegeln ist jeder Raum anders, jeder stilvoll gestaltet. Wenn in Görliwood gerade wieder einmal ein Hollywood-Streifen gedreht wird, fühlen sich auch die Stars hier wohl. Untermarkt 16d, 02826 Görlitz, +49/(0)3581/764 20, boerse-goerlitz.de (DZ/F ab 113 Euro). In der angeschlossenen „Herberge zum
6. Gebot heißen die Doppelzimmer Casanova, Aphrodite oder Mata Hari (incl. F 69 Euro). boerse-goerlitz.de


Infos: Der Autor wurde von der Tourismus
Marketing Gesellschaft Sachsen
unterstützt. sachsen-tourismus.de

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