Mailand: Zurück in der Zukunft

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Nach langer Stagnation besann sich Mailand auf sein kreatives Potenzial und nutzt die Expo 2015, um sich neu zu präsentieren: mit Architektur, Lokalen, Mode-Hotspots.

Vom Beckenrand des Swimmingpools sieht man, wie die Sonne die Dächer der Stadt in Abendröte taucht, in der orangerot auch die Gipfel der Alpen leuchten. Es ist noch etwas kühl, aber die Aussicht und das Ambiente sind so einzigartig, dass man die Temperatur gar nicht richtig wahrnimmt. Der Blick schweift über den Dom, die neuen Wolkenkratzer von Porta Nuova und Piazza Italia und weiter westlich über den Isozaki-Turm.Man glaubt es kaum, wie schnell sich Mailands Skyline in jüngster Zeit verändert hat. Und mit ihr das Leben und Erleben der Stadt.

So sinniert man auf dem Dach der ehemaligen städtischen Elektrizitätswerke, einem eher bulligen Gebäude aus dem Faschismus, heute Hauptquartier des Modehauses Dsquared2 der kanadischen Zwillinge Dean und Dan Caten. Erst vorigen September wurden Restaurant und Lounge Bar, „Ceresio 7 Restaurants & Pools“, eingeweiht. Die bunte Vintage-Innen- und Außeneinrichtung samt Poolkabinen trägt die Handschrift des Architektenduos Emiliano Salci und Britt Mora von Dimore Studio. Laut „New York Times“ ist Mailand im Jahr der Expo 2015 „the place to be“. Dieser Einschätzung kann man auf der Dachterrasse dieses Gebäudes, inmitten dieser beeindruckenden Kulisse, nur beipflichten.

Capitale morale. 25 Jahre lang war Mailand wie in einem Albtraum erstarrt. Die stolze Industrie-, Wirtschafts- Design- und Fashionmetropole hatte über Nacht ihre Unschuld verloren. Anfang der 1990er-Jahre erfuhren die Mailänder, dass ihre Stadt nicht die „Capitale morale“, die moralische Hauptstadt, war, wie man sich bis dato gerühmt hatte, sondern Brutstätte der politischen Korruption. „Tangentopoli“, Stadt der Schmiergeldzahlungen, wurde sie in Hinblick auf den parteiübergreifenden und landesweit ausufernden Skandal genannt. „Von dem Moment an galt Mailand als hässlich, grau und aggressiv“, sagt der Schriftsteller Gianni Biondillo, dem seine Geburtsstadt oft als Kulisse für seine Krimis dient. Der Bann wurde erst gebrochen, als das internationale Komitee Mailand die Weltausstellung 2015 zuschrieb. Und jetzt ist es bald so weit: Vom 1. Mai bis 30. Oktober wird sich die Mailänder Expo 2015 unter dem Motto „Feeding the Planet, Energy For Life“ den Themen Ernährung und Landwirtschaft widmen. Über 130 Nationen nehmen daran teil, man rechnet mit zwanzig Millionen Besuchern.

Die Stadt gedachte bei den Vorbereitungen ihrer einstigen Vorreiterrolle in Italien. Der Futurismus wurde in Mailand aus der Taufe gehoben – im Restaurant Savini in der Galleria Vittorio Emanuele. Der Grattacielo Pirelli, der erste Wolkenkratzer Italiens, mit seinen 127 Metern damals auch der zweithöchste in Europa, wurde 1959 nach Plänen der Meisterarchitekten Giò Ponti und Pier Luigi Nervi in Mailand gebaut. Doch schon ein Jahr davor hatte das Hochhaus Torre Velasca, gleich südlich vom Dom, für großes Aufsehen gesorgt. Nicht so sehr wegen der Höhe, sondern wegen seiner pilzförmigen Spitze. All das ließen die Planer und Manager Revue passieren und machten sich an die Arbeit – diesmal mit Stararchitekten aus aller Welt.

Angefangen wurde bei Porta Nuova. Die Entfernung des Geländes zum Dom beträgt zwar keine zwei Kilometer Luftlinie, trotzdem war es seit den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg Brachland geblieben. Das Herz von Porta Nuova ist heute die sechs Meter über der Straßenebene angelegte Piazza Gae Aulenti: Umringt ist der Platz von amphitheaterähnlich angelegten Bauten und den Wolkenkratzern des Brasilianers César Pelli. Der höchste unter ihnen ist der Unicredit Tower, mit seinen 230 Metern momentan Italiens höchster Skyscraper.

„Hier fühlt man sich richtig wohl“, sagt die Designerin Christina Hamel, die aus Baden bei Wien stammt und schon seit Langem in Mailand lebt. „Bei schönem Wetter geht es hier zu wie auf einem großen Boulevard.“ Junge Burschen tricksen auf ihren Skateboards herum, andere suchen sich eine ruhigere Ecke und üben Tanzschritte, man kommt zum Shopping, trifft sich zum Mittagessen oder Aperitif, setzt sich zum Springbrunnen, die Älteren auf die Bänke und entspannt sich. Auch Mode und Werbung sind ganz vernarrt in die Piazza Gae Aulenti. Besonders beliebt sind die Bildausschnitte, in denen man auch den nahegelegenen gläsernen Torre Diamante des amerikanischen Architektenbüros Kohn Pederson Fox erblickt oder den preisgekrönten Bosco verticale – den senkrechten Wald von Stefano Boeri. An die 800 Bäume zieren die Balkons der zwei Hochhäuser, die für eine Stadt wie Mailand, in der Grünflächen eher rar sind, wie eine greifbare Utopie gen Himmel ragen. Geht man eine der Stiegen in Richtung Zentrum hinunter, gelangt man in die Fußgängerzone Corso Como, eine Straße, in der sich ein Lokal an das andere reiht und man bei Schönwetter auch im Freien sitzen kann.

Zusammen mit der angrenzenden Isola, einem früher übel beleumundeten Arbeiterviertel, wo sich mittlerweile Restaurants, Kneipen und Nachtlokale niedergelassen haben, ist dies das aufstrebende Szeneviertel. Mit den südlich gelegenen Navigli, seit Generationen Treffpunkt der Mailänder, wetteifert es nun um das Abendvolk. Zum Beispiel das in einer alten Werkstatt eingerichtete Kultlokal Frida: Restaurant, Kultur- und Musikstätte in einem. Besonders beliebt ist der Corso Como bei den Modemenschen, denn im Concept Store 10 Corso Como gibt es immer die brandneuesten internationalen Modekollektionen.

Nicht nur Fashion, auch Food zeichnet diesen knapp 300 Meter langen Corso aus. An der angrenzenden Piazza XXV Aprile bietet seit vorigem Jahr der dreistöckige gläserne Feinschmeckertempel Eataly von früh bis spät in die Nacht das Beste vom Besten ausschließlich italienischer Produkte. Und natürlich kann man hier so manche Köstlichkeit auch gleich vor Ort genießen. Zum Beispiel im Gourmetrestaurant Alice: Chefin Viviana Varese ist eine Schülerin des Starkochs Gualtiero Marchesi.

Auch die Regionalverwaltung leistete sich nicht weit von Porta Nuova einen spektakulären Sitz: den Palazzo Lombardia nach einem Entwurf der Amerikaner Pei Cobb Freed & Partners. Die eigentliche Sensation ist aber nicht das Ensemble aus Wolkenkratzern, sondern die Piazza, die sie umringen: Es ist der größte glasüberdachte Platz Europas. Leider wissen das nicht einmal die Mailänder, klagt Krimiautor Biondillo, der schon an einem neuen Fall schreibt, der sich zwischen Palazzo Italia und Porta Nuova abspielen wird. Tatsächlich ist die Piazza abends nicht sehr belebt – vielleicht weil sie Sitz der Politik ist.

Es könnte aber auch daran liegen, dass Mailand schon seit Langem eine der schönsten überdachten Einkaufspassagen der Welt hat: die Galleria Vittorio Emanuele gleich beim Dom. 1877 errichtet, wurde sie sofort zum Salotto di Milano, dem Salon der Mailänder, erkoren. Und jetzt soll, zeitgleich mit der Eröffnung der Expo 2015, auch ein Rundgang über die Dächer der Galleria möglich sein.

Mailand war in den vergangenen Jahren die größte Baustelle Europas. Schaut man vom Dach des Doms gegen Osten, sieht man, dass dort, wo einst das Messeviertel war, ebenfalls eine Wolkenkratzersiedlung in die Höhe wächst. Im Moment steht erst der „Gerade“ von Arata Isozaki, zu ihm sollen sich aber bald auch der „Bucklige“ von Zaha Hadid und der „Krumme“ von Daniel Liebeskind gesellen. Wird jetzt Mailand zu New York? „Nein, sicher nicht“, sagen Salci und Moran, die zwei Innenarchitekten von Ceresio 7. „Mailand steht zu seiner Industriegeschichte, folgt aber auch seiner europäischen Berufung.“

Geschichtsbewusst und weltoffen will sich die Stadt zeigen. So baute man gleich zu Beginn des großflächigen städtischen Restylings den Werken der italienischen Künstler des 20. Jahrhunderts, die bis dahin in der Stadt verstreut waren, gleich beim Dom ein neues Zuhause: das 2010 eröffnete Museo del Novecento.

Fondazione Prada. Vom letzten Stock des Museums, der ganz Lucio Fontanas Abstraktionen „Concetti spaziali“ gewidmet ist, genießt man durch die riesige Glaswand einen einmaligen Blick auf die Kathedrale. Ende März wurde auch das Völkerkundemuseum Mudec (Museo delle culture) im südlich liegenden Tortona-Viertel eröffnet, auch dies ein ehemaliges Arbeiterviertel, seit Längerem aber Hauptquartier vieler Kreativer. Für Mudec wurde das ehemalige Lokomotivwerk Ansaldo vom Briten David Chipperfield umstrukturiert. Giorgio Armani wiederum hat seine Stiftung in einem ehemaligen Silo untergebracht, und die Fondazione Prada ihre Kunstausstellungsstätte in einer ehemaligen Branntwein-Destillerie. Beide sollen mit der Expo 2015 eröffnet werden.

Auch die Sanierungen des Bestands spielten eine große Rolle, etwa der Darsena, des ehemaligen Innenhafens von Mailand, des Schlussstücks des von Leonardo da Vinci mitentworfenen Kanalsystems Navigli, auf dem die Marmorblöcke für den Dom herangeschifft wurden.

Ein letzter Tipp: das Carlo e Camilla. TV-Meisterkoch Carlo Cracco hat aus einem ehemaligen Sägewerk ein Kunstwerk gemacht. Der Rohbau wurde nicht angetastet, der Saal wird von einem grob gesägten weißen Holztisch dominiert, an dem man auf Designersesseln sitzt; von den Balken hängen Kristallluster, man speist auf bunt zusammengewürfelten alten Richard-Ginori-Tellern. Für die Architekten Salci und Moran ein Beweis, dass Mailand 2015 die Welthauptstadt der drei F ist: Food, Fashion, Furniture.

Tipp

Gesund: Expo-Maskottchen „Foody“ steht für Gemeinschaft und Vielfalt.

Klassisch: Panettone, ein lombardischer Leckerbissen, auch bei „Eataly“ erhältlich.

Animalisch: Ein Damenschuh aus der aktuellen Kollektion von Giorgio Armani. Er ist Modebotschafter der Expo, wird am Vorabend der Eröffnung ein Defilee ausrichten und kurz danach sein eigenes Museum in der Zona Tortona eröffnen.


Events in der Stadt während der Expo: expoincittà.com

Museum
Hangar Bicocca: Ehemaliges Stahlwerk Breda am nordwestlichen Stadtrand, das zu einem Ausstellungsareal umfunktioniert wurde. Via Chiese 2,
hangarbicocca.org
Mudec: Via Tortona 56, mudec.it


Essen
Ceresio 7:
Via Ceresio 7, ceresio7.com
Carlo e Camilla – in segheria Via Meda 24, carloecamillainsegheria.it

Eataly Piazza 25 Aprile 10, eataly.net

Al Pont de Ferr: Mitten im beliebten Szeneviertel Navigli versteckt sich hinter unscheinbarer Fassade eines von Mailands Toprestaurants. Raffinierte Gerichte und bis zu siebengängige Menüs in legerer Atmosphäre; ein Michelin-Stern. Ripa di Porta Ticinese, 55; pontdeferr.it

Joia: Dass Pflanzenkost sinnlich und von höchstem Niveau sein kann, beweist Pietro Leemann in seinem vegetarischen Sternerestaurant. Für den schnellen Lunch gibt es auch das Bistro Joia. Via Panfilo Castaldi 18; joia.it.

Fonderie Milanesi: Restaurant-Bar in einer alten Gießerei, „Fonderia“. Wer hier eintritt, macht eine Zeitreise in das Mailand der 1960er-Jahre. Ein Kieselweg führt über den Innenhof, wo noch eine Autowerkstatt und ein Parkhaus sind. Ganz am Ende versteckt sich das Lokal. Ausgezeichnete Küche und Cocktails, besonders der Negroni. Via Giovenale 7, http://fonderiemilanesi.it


Schlafen
Boscolo Milano:
Designhotel mit 154 Zimmern mitten im Modeviertel. Der Spa-Bereich ist einer der größten der Stadt und bis Mitternacht geöffnet. DZ ab 290 Euro. Corso Matteotti 4-6, milano.boscolohotels.com

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