Cilento: Wohltuender Alltag

(c) Franz Lerchenmüller
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Wer durch den Cilento in Kampanien südlich von Neapel wandert, entdeckt ein Italien, das noch ganz bei sich selbst ist.

Wenn Camela Coccaro von früher erzählt, beginnt ihr Gesicht zu leuchten. Der Duft der Äpfel, die in der Asche garten. Das Aroma des frischgebackenen Brotes. Der Geruch der getrockneten Kürbisstreifen, die ihre Oma mit Knoblauch und Spitzpaprika schmorte und dem Großvater mit aufs Feld gab . . .

(c) Franz Lerchenmüller

Die Nase ist das Gedächtnis der blondierten Anfangsvierzigerin – und ihre Rezeptbibliothek. Wenn sie in der viel zu engen Küche ihres Restaurants La Piazetta steht, schöpft sie aus ihren Erinnerungen wunderbare Menüs: Kichererbsensuppe mit einem Pecorinotörtchen, ein Raviolo, gefüllt mit Ziegenricotta und marinierten Steinpilzen, Kartoffelpüree mit Oregano, dazu ein Stück Kalbsroulade, so bescheiden bemessen, dass man ganz kleine Stückchen abschneidet und sich besinnt, wie kostbar Fleisch in einer armen Gegend einst war.

Ihr Restaurant mit den gerade einmal fünf Tischen ist die Zierde von Valle dell’Angelo, des mit 187 Einwohnern kleinsten Dorfes der Region Kampanien. Und der Beweis, dass Bauernküche originell und vielseitig sein kann, wenn eine Könnerin sie weiterentwickelt – was auch im Cilento, der gern mit seinem kulinarischen Erbe wirbt, nicht unbedingt die Regel ist. Die Region des Cilento beginnt etwa eineinhalb Stunden Autofahrt südlich von Neapel bei Paestum. Seine Küste reicht rund hundert Kilometer nach Süden, im Osten erstrecken sich die Hügel und Schluchten bis zum Diano-Tal.

Auf Wanderschaft. Nadelkurvige Straßen, Dörfer, in denen sich jahrzehntelang wenig ändert, menschenleere Strände, schwer zugängliche Hügelketten – was einst der Makel einer rückständigen ruralen Region war, ist heute touristisches Großkapital: ein Gebiet, das zum Wandern und Sich-Erholen wie geschaffen ist.

Der Himmel ist leicht wolkenverhangen an diesem Morgen, das Meer liegt in verwaschenem Blau. Vorbei an Schirmpinien, verwilderten Äckern und grauen Trockenmauern führt ein geschotterter Weg von San Marco auf der Halbinsel Licosa aus sanft nach oben. Unten am Strand ragt einer jener Sarazenentürme hoch, von denen aus die Bewohner vor heransegelnden Feinden gewarnt wurden. Oben am Berg gähnen Löcher im Gerüst eines unvollendeten Großhotels – fast wie ein Symbol: Der Cilento wehrt sich gegen allzuhoch fliegende Träume in Beton.

(c) Franz Lerchenmüller

Rundum wuchert Macchia: Mastixsträucher mit ihren roten Beeren. Die gelben Dolden des wilden Fenchel. Hellgrüne, flächige Feigenkakteen. Früher, erzählen die Männer in Montecorniche, waren die Hügel noch dicht mit Aleppokiefern bewachsen. Vor zehn, zwölf Jahren brannte der Wald ab. Abgefackelt? Kann sein, sie zucken mit den Schultern. Möglicherweise aus Ärger über die Einrichtung des Cilento-Nationalparks 1991 – verschrobene Geister gibt es überall.

Baden in heißer Luft. Man wandert – und man macht, was man immer macht beim Zufußgehen: Streift mit der Hand durch einen Busch Rosmarin und schnuppert daran. Pflückt verstohlen ein paar Trauben. Badet am Hang in heißer Luft. Und man zelebriert Begegnungen: mit wiederkäuenden Kühen; einem wortkargen Landvermesser; der gelangweilten Dorfprinzessin hinter dem Tresen einer Bar. Nach zwei, drei Tagen verdichtet sich der Eindruck: Der Cilento ist weniger spektakulär als die Amalfiküste, nicht so malerisch wie die Toskana, er kennt weder die Eleganz Mailands noch das lärmende Selbstbewusstsein Neapels. Dafür ist er wenig zersiedelt, hat Menschen, die gern ein wenig plaudern, und steckt nicht im touristischen Dauer-Ausnahmezustand. Mit einem Wort: Er ist wohltuend alltäglich.

Das Wandern allerdings ist nicht immer einfach. Nicht alle Wege, die in einer Karte stehen, sind auch markiert und freigelegt. Wer jedoch gern abseits begangener Pfade unterwegs ist und dafür ein paar Unwägbarkeiten in Kauf nimmt, ist hier richtig. Er findet wunderschöne Aussichtspunkte, auf denen seit Jahren niemand mehr gestanden ist, riskiert aber auch, mitten in der Macchia zu enden. Mannshoch sind die Gräser auf einmal, riesig der Ginster, die Brombeeren legen Fußangeln – und dass sich unter dem dichten Dschungel eine Terrasse mit alten Trockenmauern verbirgt, wird einem erst klar, wenn man fast zwei Meter abgestürzt wäre. Da bleibt nur der Rückzug – und das Staunen, mit welcher Gnaden­losigkeit die Natur sich ihr Terrain zurückerobert, sobald der Mensch sich ihr nicht mehr stellt.

(c) Franz Lerchenmüller

Galdo, Laurino, Montecòrice – die Häuser der Dörfer scharen sich meist dicht geschlossen auf einem Berg um ihre Kirche. In den abschüssigen Gässchen eines Ortes wie Lentiscosa fragt man sich, ob die Bewohner ganz oben die von ganz unten jemals zu Gesicht bekommen – außer zur Messe am Sonntag, versteht sich. Manchmal stören moderne Bauten, die sich schwefelgelb oder schweinchenrosa vom verwitterten Rot der Ziegel, dem narbigen Ocker der Mauern und dem schrundigen Grau der Felsen abheben. Und dazwischen überziehen Tausende und Abertausende von Olivenbäumen die Hügel, die Wülste der Erntenetze umgebunden wie geraffte Schürzen.

Zwischendurch drängt sich ein Abstecher nach Velia auf – eine Portion Antike muss sein in Italien. Durch das mächtige Stadttor Porta Rosa schlenderten schon vor zweieinhalb Jahrtausenden die Händler über die präzise aus Steinen zusammengefügte Straße. Mit Öl und Fischsauce wurden sie reich, Olivenöl und Sardellen gehen an der Küste auch heute noch gut. In der Therme mit dem Mosaikfußboden redeten sich die Philosophen die ohnehin schon roten Köpfe noch heißer. Heute kann, wer will, im Schatten der mittelalterlichen Burg darüber grübeln, aus welchem Grund ihr Star Parmenides wohl forderte, „das Gegenwärtige und das Ungegenwärtige immer zusammenzudenken“. Muss man aber nicht. Mit ebenso großer Berechtigung darf man in eine Melone beißen, den kleinen, smaragdfarbenen Drachen auf der Mauer bei der Jagd zuschauen und Parmenides einen klugen Mann sein lassen.

Die Woche klingt aus in Agnone. Goldrot steht der Feuerball über dem Meer. Ältere Frauen sitzen auf weißen Plastikstühlen im Kreis: Höchste Zeit, zu besprechen, was seit heute Morgen geschehen ist. Jüngere schleppen ihre Kinder nochmal heraus, für ein bisschen Abendsonne und Zusammensein. Ganz alte Männer grüßen sich – oder auch nicht. Und die beiden Touristen vor der Bar? Stören nicht weiter. Denn sie verstehen glücklicherweise: Hier herrscht Normalbetrieb. Die Dinge nehmen ihren Lauf – jenseits von ihnen. Im Cilento ist Italien noch ganz bei sich selbst.

Tipp

Schmackhaft. Alici di Menaica, eine im Cilento typische Art Sardellen zuzubereiten. alicidimenaica.it
Fett. Burrata, eine Art Mozzarella aus Kuhmilch, hat 41 Prozent Fett.
Bequem. Italo-Sneaker von Gucci, 420 €, Kohlmarkt 5, 1010.

Anreise: Mit Flugzeug, Bahn oder Auto nach Neapel. Dort mit Mietwagen oder Bus weiter bis Paestum. An der Küste gibt es gute Busverbindungen, im Hinterland wird es schwieriger.

Übernachten
La Piazetta: Camela Coccaro, ihr Mann Angelo und ihr Freund Guiseppe D‘Amico führen ein kleines Hotel, das die Übernachtung allein wegen Camelas Küche lohnt. Ü+HP 55 Euro p. P. Piazza Canonico, Valle dell´Angelo, www.confusimafelici.it

Grand Hotel Santa Maria: Vier Sterne, eigener Strand, freundliches Personal, hier wurde der berühmte Film „Benvenuti al Sud“ gedreht. Ü+F 75 Euro p. P. Via Sen. Manente Comunale, Santa Maria di Castallabate,
grandhotelsantamaria.it

King’s Residence Hotel: Natürlich verfügt das Hotel über alle Annehmlichkeiten, die ein Vier-Sterne-Haus bietet, unschlagbar aber ist die Lage und der Ausblick auf die eigene Bucht. Ü+F ab 60 Euro p. P. Baia del Buondormire, Palinuro, info@hotelkings.it, hotelkings.it

Essen & Trinken
Angiolina di Rinaldo Merola: Sardellen frittiert, Thunfisch vom Grill, Pasta mit Schwertfisch – Fisch in jeder Form dominiert die Speisekarte. Exzellent: Ravioli mit Meeräsche und Fenchel (Vorspeisen 4 bis 10 Euro, Haupt­gerichte 10 bis 15 Euro). Via passariello 2, Marina di Pisciotta, ristoranteangiolina.it

I Due Fratelli: Keine Gourmetküche, aber wer für nicht allzu viel Geld angenehm satt werden will, ist auf der großen Terrasse der beiden Brüder richtig (Hauptgerichte 6 bis 10 Euro). Via S. Andrea, S. Maria di Castellabate, ristoranteiduefratelli.net

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