Die Wunderwelten von Nantes

(c) Franck Tomps
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Mechanische Fabelwesen auf einer Insellandschaft, Kunst im öffentlichen Raum und viele junge Menschen: Nantes zeigt sich von seiner besten Seite.

Frankreichs sechstgrößte Stadt trotzt der Krise mit Kunst und Ideen. An die 10.000 junge Leute ziehen wegen der Jobs und der hohen Lebensqualität jedes Jahr in die bretonische Metropole Nantes, und dank vieler Start-ups, Dienstleister, Handel und Airbus liegt die Arbeitslosenquote unter dem Landesdurchschnitt. An Fassaden und auf Grünflächen erheitern bunte Figuren die Passanten. 2013 holte die kleine, 300.000 Einwohner zählende Stadt mit ihren vielen Parks den Titel Umwelt-Hauptstadt Europas. Und auf einer Insel in der Loire rühren magische Fabelriesen Menschen zu Tränen.

„Mama, warum bewegt er sich nicht mehr?“, fragt die Kleine am Nebentisch. „Keine Sorge“, tröstet die Mutter, „er schläft nur.“ Das Mädchen, vielleicht drei Jahre alt, stutzt einen Moment. Dann nickt es zufrieden. Ihren großen Freund sieht sie morgen wieder. Mit geschlossenen Augen ruht der rund zehn Meter hohe Elefant unter dem Glasdach der „Machines de l’Ile“ auf der Ile de Nantes.
Am nächsten Morgen stehen die Menschen an der Kasse nebenan wieder Schlange. Hier gibt es die Fahrkarten für den Ritt auf dem Elefanten, den ein Team um den künstlerischen Leiter, François Delarozière, aus Holz, Leder, Pumpen, Stahlträgern und Motoren gebaut hat: „Unsere Inspiration bekommen wir von der Natur“, erklärt der 51-Jährige in der ehemaligen Schiffbauhalle, die sein Team zur Werkstatt für seine Fabeltiere umgebaut hat. Kunststoff verwenden die Künstler von La Machine grundsätzlich nicht.

Stachelig. Schaut man den Igel lang genug an, scheint er sich zu drehen.
Stachelig. Schaut man den Igel lang genug an, scheint er sich zu drehen. (c) Robert B. Fishman

Ein junger Mann schraubt die Pfote eines Drachens auseinander. Das rund drei Stockwerke hohe Tier erinnert an Fuchur aus Michael Endes „Unendlicher Geschichte“. Gleich hat er seinen ersten Ausflug auf dem Platz vor der Halle. Zu Hunderten bestaunen Schaulustige den sanften gelben Riesen. Manchen laufen Tränen über die Wangen, wenn sie der Drache aus seinen feuerroten Augen fragend anschaut. Ab und zu steigen kleine Dampfwolken aus seinen Nüstern in den Himmel. Dann trottet er ein paar Schritte weiter.

Piloten als Mediatoren. Auf Auslegern neben dem Rücken des Drachens sitzen zwei Männer. Mit Joysticks steuern sie wie Piloten seine sanften Bewegungen. „Dadurch schaffen wir Beziehungen zwischen ihnen und den Menschen“, erklärt Delarozière, ein ruhiger, freundlicher Mann, dem die Ideen scheinbar zufliegen. Als Kind habe er von seinem Vater, einem Schreiner, viel gelernt. Er wurde Landwirtschaftstechniker, studierte an der Kunstakademie und arbeitete als Bühnenbildner an Theatern. 1987 schlossen die letzten Werften, für die der einstige Atlantikhafen berühmt war, für immer. „Wir haben der Stadt vorgeschlagen, den öffentlichen Raum mit unseren Figuren zu beleben“, erzählt Schöpfer Delarozière. „Wir wollten, dass die Kinder ihre Eltern und Großeltern an der Hand nehmen und auf die Insel bringen.“

Vor zehn Jahren eröffnete La Machine, ein gemeinnütziges Unternehmen aus Toulouse, eine Filiale auf der Insel. Für viele Nanter gehören der Elefant, das Karussell der Meereswelten mit seinen fantastischen Schlangen, Fischen und anderem Getier oder die seltsamen Rieseninsekten inzwischen zur Familie. Kinder gehen sie mit Papa, Mama, Oma und Opa immer wieder besuchen. „Der Zuschauer“, sagt Meister Delarozière, „entdeckt bei uns neue Arten.“ Den 45 Tonnen schweren Drachen zum Beispiel, den La Machine für mehr als zwei Millionen Euro nach China verkauft hat, oder den Zweig des Reihers: einen begehbaren, haushohen künstlichen Baum, der vor der ehemaligen Werfthalle in den Himmel wächst. Wie er seinen Werken Ausstrahlung, ja einen lebendigen Gesichtsausdruck einhaucht, kann Delarozière selbst nicht erklären. „Es ist die Freude, die wir an unserer Arbeit haben“, überlegt er, „aber dafür brauchen wir sehr viel Freiheit.“

Kunst mit Sinn. Die Ringe erinnern an Sklaven, die hier verschifft wurden.
Kunst mit Sinn. Die Ringe erinnern an Sklaven, die hier verschifft wurden.(c) Robert B. Fishman

Innovativer Esprit. Martine verkauft die Eintrittskarten für die Galerie: Hier kann man den Schöpfern bei der Arbeit zusehen, auf den Zweig des Reihers klettern und den Piloten in seinem aus Schrott zusammengeschweißten Flugzeug auf seinen Abenteuern begleiten. An ihrer Heimatstadt lobt die quirlige junge Frau den Esprit innovatif, den innovativen Geist, vieler kreativer, freundlicher Menschen, darunter 55.000 Studenten, in einer grünen, überschaubaren und doch an Möglichkeiten reichen Stadt: dem Lieu Unique zum Beispiel, dem einmaligen Ort. In eine ehemalige Keksfabrik direkt am Wasser ist ein Kulturzentrum mit Café, Restaurant, Bibliothek, Ausstellungsraum, Hamam, Biergarten und Bootsanlegestelle eingezogen. Am Flüsschen Erdre dümpeln farbenfroh angestrichene holländische Frachtkähne im Schatten mächtiger Bäume. Ihre Bewohner haben sich die Holzschiffe zu Hausbooten umgebaut.

„Heute bekommen Sie keinen Liegeplatz mehr“, sagt Jérôme, während er eines seiner Elektroboote startet. Die Werft, die die Plastikboote baut, hat er verkauft und auf der autofreien Insel Versailles eine Vermietstation eröffnet. „Die einzige Krise hier ist das Wetter“, antwortet er auf die Frage, wie das Geschäft im 22. Jahr denn so läuft. Der 59-Jährige sitzt entspannt lächelnd im Heck seines Boots. Seine Schirmmütze spendet ihm ein wenig Schatten. Die Sonnenbrille trägt er lässig um den Hals. Trotz 25 Euro für den halben Tag sind fast alle 60 Boote unterwegs.

Drei Fußgängerbrücken verbinden das bewaldete Inselchen mit dem Festland. Auf einer Lichtung in der Mitte sitzen ein paar Jugendliche beim Picknick. Ein Trompeter spielt meditative Jazzstücke, die das kaum hörbare Rauschen des Verkehrs auf dem Quai de Versailles gegenüber übertönen. Auf dem Hauptplatz Cours de Commerce, einer Kreuzung breiter Boulevards im Schatten alter Bäume, treffen die drei Straßenbahn- und zahlreiche Buslinien zusammen. In einem unterirdischen Parkhaus vermietet die städtische Verkehrsgesellschaft Fahrräder – im brettlebenen Nantes das schnellste Fortbewegungsmittel. Rund vier (!) Meter breite, zweispurige Radwege führen durch zahlreiche Parks in die Vororte. Über die träge dahinfließende Loire hat die Stadt für Radler und Trams eigene Brücken gebaut.

Retro. Einkaufen in der Altstadt wie einst die Oma.
Retro. Einkaufen in der Altstadt wie einst die Oma.(c) Robert B. Fishman

Die einheimischen Autofahrer haben sich an die Konkurrenz auf zwei Rädern gewöhnt. Die meisten halten sogar an, wenn ein Radfahrer schnell noch bei Rot über die Ampel huscht. Kein Schimpfen, kein Hupen. Eher bekommt man ein Lächeln. Nur Lenker von auswärts, erkennbar am Nummernschild, das nicht auf 44 endet, tun sich mit dem Nanter Verkehr schwer. Man sieht es an den verschreckten Gesichtern hinter der Windschutzscheibe, wenn ein Auto abrupt bremst, ausweicht oder versehentlich auf den Radweg gerät.

Kunst auf den Plätzen. In der Innenstadt bietet ein Spaziergang die besten Aussichten: Le Voyage à Nantes nennt sich das jährliche Festival, zu dem Künstler Überraschungen auf Plätzen und an Fassaden hinterlassen. Vom Eingang einer Metzgerei grinsen Tiergesichter mit bunten langen Haaren. Das klassizistische Graslin-Theater trägt üppigen Fahnenschmuck aus blauen, roten und gelben Tüchern. Auf einem der von Straßencafés gesäumten Plätzen liegt ein lieferwagengroßer Igel mit hölzernen Stacheln. Er scheint sich zu drehen, wenn man ihn umkreist.

Den Besuchern des sieben Hektar großen botanischen Gartens, Jardin des Plantes, grinst ein gut zwei Meter großer Frosch entgegen. Auf der anderen Seite des Teichs haben seine Kollegen Buchsbaumbüsche mit der Heckenschere in einen auf dem Rücken schlafenden Vogel verwandelt. Viele Spaziergänger lächeln beim Anblick des dickbäuchigen Riesen mit den geschlossenen Augen. Als Nachttisch dient ihm eine fünf Meter hohe Parkbank mit einem runden, alten Wecker. Zwischen all den fröhlichen Installationen stellt sich Nantes dem traurigsten Kapitel seiner Geschichte: Schiffe aus Nantes brachten Waffen, Schnaps, Perlen und andere Güter vom Alten Kontinent nach Westafrika, wo man sie gegen die Ware Mensch eintauschte. Mehr als eine halbe Million Afrikaner verschleppten Nanter Reeder nach Amerika, wo sie auf den Plantagen der Kolonialherren schuften mussten. Unter Deck lagen vier Gefangene angekettet auf einem Quadratmeter. Jeder Zehnte starb auf der Überfahrt.

Die Schiffe brachten auf dem Rückweg Rohstoffe wie Baumwolle und Kakao aus den Kolonien. Handwerk, Seefahrt und der sogenannte Dreieckshandel brachten im 17. und 18. Jahrhundert Wohlstand. Kaufleute und Reeder ließen sich reich verzierte Stadthäuser bauen, die den Weg von der Loire in die Altstadt säumen. Auf einem Rundgang durch die kopfsteingepflasterten Gassen zeigt Stadtguide Brigitte Château einige der sonst verschlossenen Innenhöfe: Mit kunstvoll geschmiedeten Geländern dekorierte Treppenaufgänge führen in die oberen Stockwerke – längst sind hier teure Eigentumswohnungen mit Blick auf den Fluss untergebracht. Von dessen Ufern sind die Hafenanlagen freilich längst verschwunden. Je größer die Handelsschiffe wurden, desto weiter zogen die Kais flussabwärts, bis Napoleon um 1800 den heutigen Hafen Saint Nazaire an der Loiremündung bauen ließ.

Überblick. Die Loire hat Nantes eine Insel (rechts unten) geschenkt.
Überblick. Die Loire hat Nantes eine Insel (rechts unten) geschenkt.(c) Robert B. Fishman

„I have a dream.“ 2000 Glasfenster im Boden der Loire-Promenade erinnern an die Namen der Sklavenschiffe. Ein markierter Weg mit Erklärungstafeln führt vom Schloss zur Gedenkstätte für die Abschaffung der Sklaverei unter dem Flussufer. Durch Sehschlitze fällt fahles Tageslicht auf die unterirdischen nackten Betonwände, an die das grün-braune Wasser schlägt. Weiße Inschriften auf roten Tafeln erzählen die Geschichte der afrikanischen Sklaven. Auf einer grauen rohen Wand steht das Wort Freiheit in verschiedenen westafrikanischen Sprachen. Eine Tafel zitiert Martin Luther Kings Rede „I have a Dream“. „Wir wollen informieren, nicht mit Schuldzuweisungen abschrecken“, sagt Brigitte Château. In seiner Schlichtheit berührt das Mahnmal mehr als es heroische Figuren könnten, die ihre Ketten sprengen. Diese finden sich auf der anderen Seite des Flusses. Die ehemaligen Docks am Quai des Antilles hat die Stadt zur Kulturmeile umgebaut: moderne Beiseln, Cafés, auf deren Liegestühlen sich Spaziergänger entspannen, eine Bühne und Läden mit witzigen Souvenirs einheimischer Designer.

In der Abenddämmerung leuchten rund drei Meter hohe Ringe in Blau, Rot, Grün und Gelb über das glitzernde Wasser. Sie erinnern an die Ketten der gefangenen Sklaven. Der Rückweg über die Insel bietet noch einige Überraschungen: Zu Füßen eines alten gelben Werftkrans hat ein Künstler ein Freibad angelegt: einen Strand mit Bademeisterhochstuhl, rot-weißen Sonnenschirmen und einem „Schwimmbecken“, gefüllt mit Plastikbällen, in dem auch Erwachsene begeistert herumtollen. Als der Elefant von La Machine das erste Mal in der Stadt unterwegs war, erzählt Christine Château, sei sie mit einer Freundin losgefahren, um das Wundertier zu suchen. An einer Kreuzung fragten die beiden einen Polizisten: „Haben Sie hier irgendwo einen Elefanten gesehen?“ „Nein“, antwortete er, „nur zwei Giraffen.“ Die Kreativen von La Machine hatten auch diese beiden losgelassen.

Tipp

Nostalgisch. Berlingots de Nantes, Zuckerln in Tetraederform.
Trocken. Loïc Raison Brut, liebster Cidre der Bretonen.loicraison.fr

Essen und Trinken. Restaurantseite mit Tipps und Links zu einzelnen Lokalen, lestablesdenantes.fr

Brasserie-Café und Teesalon la Cigale. In Jugendstil und Art-déco gehaltenes, gut 100 Jahre altes Lokal am Theaterplatz Graslin.
lacigale.com

Cocotte. Stilvoll und schlicht in einer alten Metzgerei, spezialisiert auf Biogeflügelgerichte, 27 rue Fouré, cocotte-restaurant.fr

Le Lieu Unique. Kulturzentrum in einer alten Keksfabrik mit Konzerten, Festivals, Club, Bar, Bibliothek, Hamam, Restaurant, Café und Biergarten am Wasser, Quai Ferdinand Favre, lelieuunique.com

Le Nid (das Nest). Chillen auf einem meterlangen Kuschelstorch und seinen frisch gelegten Eiern (Hocker) im 32. Stock des Bretagne-Turms: Die Stadt liegt dir zu Füßen. Place de Bretagne,
facebook.com/LeNidNantes

Le Bateau Lavoir. Frische Austern und andere heimische Leckereien an Deck eines zum Konzert-Café umgebauten alten
Bootes, Quai Ceineray (Juli, August).

Delirium Café. Mehr als 400 Biersorten aus aller Welt in einer Kellergewölbebar, 19, Allée Baco.

Les Machines de Nantes. Magische, bewegliche Riesentiere gehen über die Insel von Nantes, lesmachines-nantes.fr/de/lamachine.fr

Gedenkstätte zur Abschaffung der Sklaverei, memorial.nantes.fr

L’Estuaire. Kunstpfad entlang der Loire bis zum Atlantik, estuaire.info

Jules-Verne-Museum. 3, rue de l’Hermitage,
julesverne.nantes.fr

Jardin des Plantes und die vielen anderen Parks in Nantes, jardins.nantes.fr

Stéréolux. Clubben, Konzerte, Workshops: , 4, Bd. Léo Bureau (auf der Ile de Nantes nahe der Machines), stereolux.org

Netzwerk von Musik- und Kulturkneipen, http://bar-bars.com

Märkte. Samstagvormittag auf Ile Gloriette
(la Petite Hollande).

Talensac. Einer der größten und buntesten überdachten Märkte in Frankreich: Rue de Talensac, marche-talensac.fr

Bionant. Frische Bio-produkte (vor allem Obst und Gemüse) aus der Region, u. a., 1, rue Saint Denis, http://bionant.alwaysdata.net

Passage de Pommeraye. Reich dekorierte Einkaufspassage aus dem 19. Jahrhundert,
passagepommeraye.fr

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