Breslau: Schichten von Geschichte

Ambitioniert. „Brücken“, ein Sozialprojekt, an dem sich die Breslauer rege beteiligen.
Ambitioniert. „Brücken“, ein Sozialprojekt, an dem sich die Breslauer rege beteiligen.(c) Marcin Biodrowski
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Breslau hat sich zur lebensfrohen Kulturmetropole gewandelt. In diesem Jahr ist das polnische Wrocław die zweite Europäische Kulturhauptstadt.

Einer sitzt hinter Gittern, ein anderer hängt an einer Straßenlaterne, ein Dritter bewacht den Zugang zur Unterwelt. Mehr als hundert Zwerge und Wichtel verstecken sich in den Gassen und auf den Plätzen der Stadt. Die rund 30 Zentimeter kleinen Bronzefiguren sollen an die jungen Leute erinnern, die in den 1980er-Jahren mit anarchischen Protestaktionen die Staatsmacht provoziert haben. Als Gnome verkleidet haben sie das kommunistische Regime lächerlich gemacht.

Nun wartet neue Arbeit auf die frechen Kerle und die jungen Leute, die sich vom autoritären Staat nicht alles gefallen lassen. Im Herbst hatte die PIS, Partei für Recht und Gerechtigkeit, die Macht in Polen übernommen. Kurz danach versuchte der neue Kulturminister ein Stück von Elfriede Jelinek vom Spielplan eines Breslauer Theaters abzusetzen. Es passte wegen einer angeblich pornografischen Szene nicht ins national-konservative katholische Weltbild der PIS. Die neuen Herrscher legen Fernsehen und Radio an ihre Ketten, das Verfassungsgericht wurde entmachtet – in vielen Städten, auch in Wrocław, gehen die Menschen wieder demonstrieren.

Bitten um Vergebung. Dabei haben die Polen – und vor allem die Breslauer – schon viel überstanden: Habsburger, Böhmen, Polen, Preußen, Nazis, Kommunisten. Breslauer Freigeister wehrten sich immer wieder gegen die Unterdrücker. So erinnert ein Denkmal in der Innenstadt an den Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, den die Nationalsozialisten hingerichtet haben, eine Plakette an die in Auschwitz ermordete Philosophin, Frauenrechtlerin und Nonne Edith Stein und eine lebensgroße Bronzefigur an Bischof Boleslaw Kominek, der sich mitten im Kalten Krieg für Versöhnung engagiert hat. „Wir vergeben und bitten um Vergebung“, hat er damals an die Deutschen geschrieben.

Viefältig. Das Stadtbild zeigt zahlreiche architektonische Schichten.
Viefältig. Das Stadtbild zeigt zahlreiche architektonische Schichten.(c) Robert B. Fishman

Zwanzig Jahre zuvor hatten die Nazi-Verbrecher Deutschlands damals drittgrößte Stadt zur Festung erklärt. Jenseits der heutigen Grunwaldzki-Brücke rissen sie ganze Straßenzüge ab, um eine Start- und Landebahn zu bauen. So setzte sich der Gauleiter der Region beim Anmarsch der Roten Armee ab. Nach dem Krieg mussten die Deutschen Stadt und Land verlassen. In ihre Häuser zogen vor allem Polen aus der heutigen Westukraine. Die Alliierten hatten die „Westverschiebung“ Polens beschlossen. Die zwanzig Jahre zuvor von Polen eroberten Regionen um Brest und Lemberg (Lwów) wurden wieder ukrainisch, Pommern, das südliche Ostpreußen und Schlesien mit seiner Hauptstadt Breslau polnisch. „Wiedergewonnene Gebiete“ hießen nun die ehemals „deutschen Ostgebiete“.

„Noch nirgends habe ich so viele Schichten der Vergangenheit ineinander verwoben gesehen“, staunt die Fotografin Verena Blok. Als Gastkünstlerin der Europäischen Kulturhauptstadt 2016 lebt die 25-Jährige für ein paar Monate in Breslau. „Zeitschichten“ nennt sie den Kontrast der vielen Architekturstile in Wroclaw: Hier ein klassisch-moderner Bau aus den 1920ern, wie das Sparkassengebäude am Salzmarkt, daneben detailgetreu restaurierte österreich-habsburgische Bürgerhäuser. Die Stadt hat ihr deutsches und jüdisches Erbe wiederentdeckt, zum Beispiel die vom Architekten Max Berg 1913 erbaute Jahrhunderthalle – die seinerzeit größte frei tragende Eisenbetonkonstruktion der Welt, die inzwischen Weltkulturerbe ist, ist frisch renoviert. Und als Kulturhauptstadtprojekt entsteht derzeit WuWa 2 – als Nachfolger der legendären Wohn- und Werkraumsiedlung WuWa im Stil des Bauhauses. Damals errichtete ein Netzwerk von Architekturavantgardisten, darunter Hans Scharoun, Erich Mendelson und Max Berg, Ikonen der heute klassischen Moderne. Am bekanntesten sind neben Jahrhunderthalle und Sparkassengebäude das Ledigenheim, das Kaufhaus Rudolf Petersdorff oder das wunderschön restaurierte ehemalige Kaufhaus Wertheim.

Während sich in der wieder aufgebauten Altstadt die Touristen tummeln, erscheinen Stadtteile wie Nadodrze oder das sogenannte Bermudadreieck an der Straße der Pariser Kommune wie vor 50 oder 60 Jahren schockgefroren. Doch seit dem Ende des Sozialismus tauen diese grauen Viertel mit ihren fünf- und sechsstöckigen preußischen Mietskasernen der Gründerzeit wieder auf.

Oberbürgermeister Rafal Dutkiewicz regiert die rund 680.000 Worclawer, davon 160.00 Studenten, seit nun schon 13 Jahren. Nur zu gern erzählt er vom Breslauer Wirtschaftswunder: „Viele internationale Unternehmen haben sich angesiedelt, auch wegen der Nähe zu Deutschland. Die Stadt ist jung wie kaum eine andere in Polen, und die Arbeitslosigkeit ist auf unter vier Prozent gesunken.“ Dutkiewicz, Jahrgang 1959, studierte Mathematik und Philosophie, ging in die Wirtschaft, wurde Headhunter und schließlich Politiker.

Originell.  Im Panato-Café zahlt man pro Stunde Aufenthalt.
Originell. Im Panato-Café zahlt man pro Stunde Aufenthalt.(c) Robert B. Fishman

Ostalgiewelle. Auf dem Marktplatz vor dem Rathaus mit seinen Straßencafés und Restaurants plätschert ein moderner Brunnen. Ein junger Mann zaubert mit einem Seil an zwei Stöcken Seifenblasen in den blauen Himmel, manche so groß wie ein Auto. Kinder springen jauchzend in die glitzernden Ballons. Die Klänge eines Liedermachers mischen sich mit den Popsongs einer Band auf der anderen Seite des Platzes. Die vielen Cafés wie das PRL, einst die offizielle Abkürzung der polnischen Volksrepublik, sind gut besucht. Die Ostalgie-Welle hat Breslau erfasst. Die Kellnerinnen bedienen in einer Art Pionieruniform mit rotem Tuch um den Hals. Drinnen hängen Bilder von Stalin, den Führern des sozialistischen Polens und Propagandaplakate. Der untergegangene real existierende Sozialismus ist zur Touristenattraktion geworden.

Kaffee und Kuchen inklusive. Breslaus Zukunft beginnt im Stadtteil Nadodrze hinter der Universität. Konrad, ein Hipster mit Bart und Gel im Haar, sitzt auf einem Stapel Holzbretter neben einem ausrangierten Fernseher im Hinterhof eines noch nicht sanierten Altbaus aus preußischer Zeit. Der 28-Jährige nennt sich Marketingmanager des Start-up-Unternehmens Panato. Seine Kolleginnen und Kollegen entwerfen drinnen vor Computerbildschirmen Designs für Beutel und andere stabile Modeaccessoires für den Alltag. Das Leben vor der Haustür liefert ihnen die Ideen. „Wenn du über die holprigen, löchrigen Pisten radelst, brauchst du Taschen aus festem Material“, erklärt Konrad. Die Räume teilt sich Panato mit dem gleichnamigen Café, in dem die Gäste für die Zeit bezahlen, die sie dort verbringen. Umgerechnet zwei Euro und 88 Cent kostet die Stunde inklusive Kaffee, Kuchen oder Suppe.

Wie das Designtaschen-Werk funktioniert das Café als Social Business, also eigentlich als Kollektivbetrieb: Es gibt keinen Chef und keine Chefin, Arbeit und Ertrag werden geteilt, Entscheidungen gemeinsam getroffen. „Das ist manchmal mühsam, aber es funktioniert“, weiß Mitinhaberin Patricia, die nebenbei noch als PR-Beraterin arbeitet. Sie liebt Breslau und speziell Nododrze.

Die Leute seien toleranter als anderswo in Polen, die Atmosphäre sei lockerer. Anders als zum Beispiel im erzkonservativen Krakau müsse sie sich hier nicht herausputzen, bevor sie ausgeht. Vor der Gentrifizierung in Nadodrze hat sie keine Angst. Noch seien die Mieten günstig und die Stadt froh, wenn Leute in die Wohnungen ziehen und Läden eröffnen, die das überaltete Viertel beleben. Bevor der Wandel begann, galt Nadodrze als gefährliches Glasscherbenviertel, „wo die Zigeuner wohnten“. Neuerdings ziehen immer mehr Studenten in die günstigen Wohnungen des Viertels. Künstler und junge Unternehmer gründen Cafés, Galerien und Läden wie das Panato mit seinen Designprodukten.

Graffiti am Bunker. Marketingmanager Konrad liebt das Quartier mit seinen alten Gebäuden, versteckten Hinterhöfen und „den vielen coolen Leuten“. Auf den Straßen liegt noch das deutsche Kopfsteinpflaster der vorletzten Jahrhundertwende, an einem Platz überdauert ein kreisrunder Weltkriegshochbunker nutzlos die Zeiten, Graffiti-Künstler haben Einfahrten mit leuchtend bunten Wandbildern dekoriert.

1871 wurde der Neubau der Oper in  vornehmer Lage eröffnet.
1871 wurde der Neubau der Oper in vornehmer Lage eröffnet.(c) Wroclaw 2016, M. Jedrzejczak

Im Info-Büro, das die Stadt für Nadodrze in der Erdgeschoßwohnung eines Altbaus eingerichtet hat, sitzt Edward Skubisz an einem der rohen Holztische. Der 65-Jährige ist in Holland aufgewachsen. Sein Vater war im Krieg Soldat der polnischen Heimatarmee. Aufseiten der Briten kämpfte er gegen die Nazi-Besatzung und blieb nach 1945 in Breda. Erfahrungen, die Edward prägten. Er gründete die Stiftung Dom Pokoju, Haus des Friedens, die in Polen, den Niederlanden und Deutschland Versöhnungsprojekte fördert.

Die Stiftung hat zwei Tagebücher von Holocaust-Überlebenden herausgegeben und organisiert Bildungsprogramme an Schulen. In Nadodrze richtet sie zusammen mit Senioren aus dem Viertel ein Nachbarschaftsmuseum ein. Auch Edward lobt seine Wahlheimat. Die Stadt kümmere sich um die große Kultur wie um die kleine. Überall sehe man die Spuren der österreichischen, deutschen und der polnischen Geschichte. Inzwischen hätten die Nationalitäten und Religionen ihren Frieden miteinander gefunden.

Am Südrand der Altstadt hat diese Toleranz sogar ein eigenes Quartier. Das ehemalige jüdische Areal hat die Stadt zum „Viertel des gegenseitigen Respekts“ erklärt. Rund um die frisch restaurierte Synagoge zum Weißen Storch beten Juden, Christen aller Richtungen und Muslime gemeinsam. Dazwischen haben sich ein Fahrradvermieter mit Café, Kneipen und Klubs angesiedelt. Breslau ist auf einem guten Weg.

Tipp

Wrocław, das frühere Breslau, ist seinem hohen Studentenanteil eine junge und sehr lebendige Stadt – und die
Europäische Kulturhauptstadt 2016 (Englisch):
wroclaw2016.pl/en

Stadtführungen zu verschiedenen Sehenswürdigkeiten und Themen gegen Spende/Trinkgeld auf Englisch und Deutsch:
freewalkingtour.com/wroclaw

Neues Musikforum. Das 2015 eröffnete hypermoderne Kulturzentrum verfügt über mehrere Konzertsäle mit Topakustik:
nfm.wroclaw.pl/de

Museum für moderne Kunst in einem Weltkriegsbunker. muzeumwspolczesne.pl

BarBara. Renovierte Bar, in der sich in den 1960er-Jahren die Oppositionskünstlergruppe „orange Alternative“ traf. Nach 20 Jahren Leerstand zog hier der Infopoint der Europäischen Kulturhauptstadt ein. Es gibt kleine Gerichte, Kaffee, Kuchen. Jeden Dienstag treten Künstler aus der Region auf der offenen Bühne auf. Am Wochenende stehen u. a. Performances, Konzerte, Lesungen auf dem Programm. Ul. Swidnicka 8c, Ecke Kazimierza Wielkiego,
wroclaw2016.pl/barbara

Ausblick. Von der Terrasse im sechsten Stock des 1892 erbauten Luxushotels Metropol bietet sich ein wunderbarer Ausblick über die Innenstadt. Wer noch höher hinaus will, fährt (mit dem Lift) auf den Turm des Doms oder steigt die mehr als 300 Stufen der engen Wendeltreppe auf den Turm der Sankt-Elisabeth-Kirche hinter dem Marktplatz.

Jahrhunderthalle. Von 1911–1913 ließ Stadtarchitekt Max Berg die damals weltgrößte frei tragende Betonhalle errichten. Inzwischen zählt sie zum Unesco-Weltkulturerbe. Der Vier-Kuppel-Pavillon und die Pergola nebenan tragen die Handschrift von Hans Poelzig. Er war damals Direktor der Breslauer Kunstgewerbeschule und gilt als einer der Wegbereiter des modernen Bauens im frühen 20. Jahrhundert. Zu seinen bekanntesten Arbeiten gehört das Berliner Haus des Rundfunks.
halastulecia.pl/de

Infopunkt Nadodrze, ul. Lokietka 5, dort gibt es kostenlos einen sehr übersichtlichen Stadtplan des Viertels mit interessanten Adressen pik.wroclaw.pl/okietka-5-Infopunkt-Nadodrze-m376.html

Panato-Cafe. Die Gäste zahlen hier die Zeit. Die Stunde kostet 12 Zloty und 19 Groschen, Essen und Getränke sind inklusive,
panato.org

Infos. Polnisches Fremdenverkehrsamt, 1130 Wien,
Fleschgasse 34/2a, 01/524 71 91,
www.polen.travel

Compliancehinweis: Der Autor wurde vom polnischen Fremdenverkehrsamt unterstützt.

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