Fiskars: Metamorphose eines Dorfes

Idyllisch. Das Grün der vielen Bäume, das Glucksen der Bäche, das Plätschern der Wellen am See.
Idyllisch. Das Grün der vielen Bäume, das Glucksen der Bäche, das Plätschern der Wellen am See.(c) Visit Finland
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Fiskars, jahrhundertelang ein Zentrum der Metallindustrie Finnlands, ist heute ein bedeutendes Kultur-, Kunst- und Designzentrum im Land der großen Wälder und Seen.

Finnland gilt als Land der tausend Seen – eine maßlose Untertreibung. Die ganze Landkarte ist von blauen Flecken und Flächen gesprenkelt – von Wüste ist das nordische Land denkbar weit entfernt. Und trotzdem gibt es an einem kleinen Ort unweit von Helsinki so etwas wie eine Oase: das Zuhause von Karin Widnäs. Dichter dran kann man an dem Grün, Blau und Rot der Birken, Kiefern, Seen und Stachelbeersträucher nicht sein: Nur eine Glaswand trennt das Außen vom geschützten Inneren, man fühlt sich wie in einer Weltraumkapsel, in der man in und durch den Wald schwebt. In der man sich ganz von allein auf Zehenspitzen über den Holzfußboden bewegt, es ist hell und licht und wunderschön.

Dabei hat die Mittfünfzigerin ihre ersten Keramikwerke in einem winzig-dunklen Garagenatelier in Helsinki entworfen – bis sie von Fiskars hörte. „Ich war vor 20 Jahren eine der ersten Verrückten, die nach Fiskars kamen. Das Dorf war damals absolut tot. Aber ich habe gespürt, da ist eine gute Energie.“ Tatsächlich hatten die endlosen Wälder und ihre seltenen Laubbaumarten, die ebenso großen Vorräte an Wasserkraft zum Betrieb von Hammerwerken und Maschinen, der nahe gelegene Tiefwasserhafen und nicht zuletzt die Kriegslust der Europäer Fiskars seit dem 17. Jahrhundert zum Zentrum der Metallindustrie gemacht. Hier hatte man eine spezielle einzigartige Schmelztechnik für das Eisen entwickelt – Kriegsherren in ganz Europa setzten auf Waffen „made in Fiskars“, bis hin zum Zweiten Weltkrieg. Das Fiskars von heute hat, zumindest auf den ersten Blick, mit der einstigen Eisenhütte nicht mehr viel zu tun. Die Schornsteine rauchen nicht mehr, durch das Dorf plätschert friedlich ein Bach – bis hin zum See mit seinen Ruderbooten und der Sauna für alle. Fiskars ist heute ein Bilderbuchbeispiel für Schumpeters Theorie der schöpferischen Zerstörung: Wie erschafft man aus einer Krise etwas Neues?

Renoviert. In der Dorfstraße reihen sich Läden, Ateliers und Cafés wie Perlen an einer Schnur.
Renoviert. In der Dorfstraße reihen sich Läden, Ateliers und Cafés wie Perlen an einer Schnur. (c) Beigestellt

Die Seele Finnlands. Das Ende des Ostblocks und vor allem der Zusammenbruch der Sowjetunion als wichtigster Handelspartner stürzte Finnland Ende der 1980er-Jahre in eine tiefe Depression, aus der erst Nokia sein Volk wieder herausholte. Nokia war für die Finnen nicht nur eine Firma, sondern der neue Nationalstolz, die Seele Finnlands. Nur: Die Erfolgsgeschichte ging an der Eisenhüttenstadt Fiskars vorbei, der Ort war verwaist, die Dorfoberen rangen um die letzten verbliebenen Einwohner und besannen sich schließlich auf jene, die genau das brauchten, was Fiskars bieten konnte: billigen Wohn- und Arbeitsraum.

Es war nicht sonderlich schwer, die Künstler nach Fiskars zu holen. Die Mietpreise waren, gerade im Vergleich zum eine Stunde entfernten Helsinki, fast schon lachhaft. Jene, die kamen, überzeugten Freunde und Bekannte davon, nachzuziehen. Heute sind mehr als 120 von 600 Einwohnern Künstler, etwa ein Dutzend schon in der zweiten Generation. Fiskars hat ein eigenes Orchester und ein Theater. Und mittlerweile ist Karin Widnäs nur eine der Kreativen, die hier leben und sich international einen Namen machen konnten.

Auch der Bildhauer Hannu Sirén ist im Ausland bekannt, ebenso wie der Holzdesigner Nikari. Sein Beistelltisch, der aussieht wie ein Drillingshocker, war Teil der Sommerausstellung von Fiskars, der wichtigsten Kunstausstellung im Land. Er steht auch in der Onoma-Boutique, in der Karin Widnäs ihre Arbeiten ausstellt und verkauft – nur eines der vielen Geschäfte, Ateliers und Cafés, die sich an der Dorfstraße entlang reihen wie Perlen auf einer Schnur. Betrieben werden sie von einer Genossenschaft, die die Kunstpioniere in den 1990er-Jahren gründeten und die bis heute ein ganz besonderes Gemeinschaftsgefühl im Ort am Leben erhält: „Wir haben das alles hier zusammen aufgebaut“, sagt Widnäs. „Wenn jemand krank ist, bringt ihm der Nachbar etwas zu essen. Wir arbeiten zusammen, nicht gegeneinander.“

Übernachten im Ziegelwerk. Tatsächlich begegnet man im Ort ausnehmend freundlichen Menschen, egal, ob die Künstler einen Namen haben oder sich mit Stipendien über Wasser halten und nicht in einem exklusiven Wohnhaus am See leben, sondern in alten Arbeiterkasernen, verwitterten roten Holzhäusern mit ihren Herbstzeitlosengärten. So wie sich die Einwohner umorientiert haben, haben auch die meisten Bauten eine neue Aufgabe: Im einstigen Metallwerk, einem Ziegelsteinbau, kann man jetzt übernachten. Mit dem Berliner Flughafen hat das Hotel Tegel wenig zu tun, eher mit seinem Wortursprung: Tegel ist das schwedische Wort für Ziegel. In einem früheren Stall werden jetzt Kerzen gezogen, im alten Waschhaus mit dem knarzenden Dielenboden gibt es frischgebackene Heidelbeertarte – mit Beeren, die man dank des finnischen Jedermannsrechts auch selbst pflücken kann, wenn man nur ein paar Meter vom Weg in den Wald läuft.

Vor der Terrasse des Restaurant Kuparipaja, dem alten Kupferwerk, rauscht ein kleiner Wasserfall. Und da, wo einst Messer hergestellt wurden, sucht Brauereimeister Jari Leinonen in der Natur nach Inspiration: In seinen Bieren finden sich Aromen von Beeren, Teer und Tanne, das Gebräu steht landesweit in den Regalen, in der größten Supermarktkette, und, die höherprozentigen, im „Alko“, dem staatlichen Alkoholshop.

Unique. „Könnikello“, die Kirchturmuhr, läuft im Winter schneller.
Unique. „Könnikello“, die Kirchturmuhr, läuft im Winter schneller. (c) Elina Sirparanta

Es waren aber nicht nur die Wohnkosten, die Fiskars für die Kreativen so attraktiv machten. Sondern die Natur. „Kaiva siinä missä seisot“ heißt ein altes Sprichwort: „Grabe da, wo du stehst.“ Dass die Künstler das noch heute wörtlich nehmen, beweist Karin Widnäs’ Haus, durch das sie auch Besucher führt. Wenn sie darüber hinweggekommen sind, dass sie von so einer Wohnoase nur träumen können, bestaunen sie ihre durchaus auch funktionale Keramikkunst – wie das Waschbecken im Bad, aber auch den roten Lehm des Fußbodens, der aus der Erde rund um Fiskars stammt, oder den Küchenschrank aus dem Holz einer Birke, der bis vor Kurzem bei ihr im Garten stand. Überhaupt sind Holz und Keramik die Rohstoffe, auf die die meisten Künstler im Ort setzen.

Den Namen Fiskars dürften die meisten vor allem mit dem gleichnamigen und ältesten Unternehmen im Land verbinden, das hier vor 366 Jahren gegründet wurde, und das – wenn auch nicht mehr im Ort Fiskars – neben Messern und Äxten immer noch auch Pfannen, Unkrautstecher oder Schneeschieber herstellt.

Reiche Fischgründe. Doch dass Fiskars heute Finnlands Zentrum für Kunst und Design ist, ist im Ausland kaum bekannt. Dabei ist der Boom durchaus beachtlich: Während auch in Finnland an Kultur und Kunst gespart wird, ist Fiskars stolz auf die eindrückliche Zahl der Stipendien, die seine Künstler einwerben, und die Kommunalverwaltung achtet streng darauf, dass kein Investor die alten Bauten aufkauft und teuer weitervermietet. Ein nicht ganz selbstloses Unterfangen: Kunst aus Fiskars etabliert sich als Marke, die immer mehr Besucher anzieht. „Das Wort Fiskars kommt von den reichen Fischgründen in der Gegend“, sagt Fremdenführerin Pirkko Hakola. „Aber heute fischen wir vor allem Touristen.“ Die 78-Jährige hat Humor, ein immenses Wissen und eine noch größere Leidenschaft für Geschichte ihres Dorfes.
Vor einem Herrenhaus startet sie ihren historischen Ausflug mit schwedischem Adel und Computerspielen: Nachdem Fiskars 1771 pleitegegangen war, erwarb der schwedische Kaufmann Bengt Magnus Björkmann das Eisenwerk und schickte seinen Sohn Ludvig nach Fiskars, mit dem Auftrag, das Werk vor Ort zu managen. Um dem 20-Jährigen das neue Zuhause schmackhaft zu machen, beauftragte er mit der Hausplanung sogar Carl Ludwig Engel, einen Studienfreund von Karl Friedrich Schinkel und bekannt für seine repräsentativen klassizistischen Bauten wie die Domkirche in Helsinki.

Da dem Jungen in dem großen Haus aber langweilig war, hatte er das Haus stets voller Gäste – und verlegte sich dabei auf ein spezielles Hobby: Er ließ seine Diener im Wald Fasane und Rebhühner fangen und ihnen im dritten Stock einen Vogelzoo einrichten. Die jungen Adelsmänner schossen sie dann vom Sofa aus ab, um anschließend Geflügelgelage zu feiern. Aber während Ludwig das „Angry Birds der Vorzeit“, wie Hakola es nennt, spielte, stand das Eisenwerk bald kurz vor der Pleite. Dann aber erschien der Apotheker Johan Jacob Julin aus Turku auf der Bildfläche und modernisierte sowohl das Unternehmen als auch gleich das ganze Dorf.

Umgebaut. In sanierten Arbeiterhäuschen leben heute Künstler.
Umgebaut. In sanierten Arbeiterhäuschen leben heute Künstler.(c) Visit Finland

Julin kannte sich nicht nur mit Pillen und Tinkturen aus, sondern er führte auch die bis dahin nicht bekannte Dreifelderwirtschaft ein, ersetzte Ochsenkarren durch Pferde. Und er machte Fiskars zum Pionier in Sachen betrieblicher Gesundheitsvorsorge, es gab sogar ein eigenes Krankenhaus. Die Eisenhütte bekam eine eigene Schule, die Lehrmethoden waren bis dahin unbekannt: Die Besseren halfen jenen, die nicht so gut lernten. Und: Die Schule bot täglichen Unterricht, sodass auch die arbeitenden Kinder Schreiben und Lesen lernten. Julins Name steht auch für den Beginn und die Blüte der Metallindustrie: 1832 wurde hier das erste Essbesteck Finnlands produziert, 1837 war das Maschinenwerk das erste im Land, in den 1930er-Jahren des 19. Jahrhunderts wurde in Fiskars die erste Dampfmaschine Finnlands hergestellt, später folgte die erste Metallfederfabrik. Und wer in den 1960er-Jahren etwas auf sich hielt, leistete sich zum Preis eines Kleinwagens eine der ersten Mikrowellenherde Europas.

Das Fiskars-Orange. Natürlich war und ist da diese Schere, die jedes Kind kennt: 1967 brachte Fiskars die weltweit erste Schere mit Kunststoffgriffen auf den Markt – in dem Orangeton, der bis heute weltweit Erfolgsgeschichte schreibt. Mehr als eine Milliarde Mal wurde die Schere verkauft. Dabei sollten die Scheren eigentlich schwarz, rot oder grün werden. Aber als der Prototyp in Produktion ging, wollte der Maschinist die orangefarbenen Reste aus Saftpressmaschinen und Rührgeräten noch nutzen. Mittlerweile hat diese Designikone dafür gesorgt, dass das Fiskars-Orange überall auf der Welt ein Synonym für den Ort, die Firma und die weltweit bekannteste Scherenmarke ist.
Auch der Erste Weltkrieg später machte dem Boom kein Ende, schließlich war der Bedarf an hochwertigen Waffen vor allem bei den russischen Nachbarn groß. Erst die Große Depression 1929 und der Zweite Weltkrieg mit seinem finnisch-russischen Winterkrieg ruinierten den Mythos von Fiskars. Die Finnen waren menschlich und wirtschaftlich gedemütigt, ein Generalstreik in den 1950er-Jahren trieb Inflation und Rezession weiter an. Aber Fiskars ließ sich nicht unterkriegen: Es folgte die Geschichte mit der Schere, die die Neuzeit einläutete. Sie ist in Form von Kunststoffgeschirr aus den farbigen Resten noch heute aus vielen „mökkis“, den Sommerhütten, nicht wegzudenken. Die orangefarbenen Produkte wurden Symbole für die Metamorphose Fiskars vom Industrie- zum Kunstzentrum: Gebrauchsgegenstände in hochwertigem Design stehen für den Übergang Fiskars zu einem Ort, an dem alte Fertigungstradition sich mit der finnisch schlichten und funktionalen Ästhetik gut verträgt.

Sommerduft. Auch wenn die Scherenfabrik längst umgezogen ist, vermissen die Einheimischen nichts. „Wir haben alles, nur keine Kirche“, sagt Fremdenführerin Hakola. Dafür haben sie aber so etwas wie einen Kirchturm mit einer Turmuhr: eine „Könnikello“. Von ihr gibt es nur drei Stück in ganz Finnland, vielleicht, weil sie ein kleines Eigenleben führt. Einmal pro Woche muss der Glockenmeister das Innere des Turms erklettern und die Zeiger justieren, vor allem im Winter: Da laufen sie schneller. Und es stimmt: So schön der Winter mit seinen dick mit Schnee bedeckten Tannenzweigen auch sein kann – im Sommer noch um Mitternacht in die Sonne zu blinzeln und den unerreichbar feinen Duft der Walderdbeeren am Wegesrand zu riechen, das dürfte den meisten Besuchern besser gefallen als Eis und Kälte.

Tipp

Anreise von Helsinki: mit dem Zug nach Karjaa (eine Stunde), von dort weiter per Bus (20 Minuten, ca. 25 Euro). Am einfachsten aber per Pkw: Fiskars liegt nur eine Fahrtstunde von der Hauptstadt entfernt. Weitere Infos (auf Englisch):
fiskarsvillage.fi

Schlafen
Hotel Wärdshus: DZ ca. 130-145 Euro inkl. Frühstück. Fiskarsintie 14, 10470 Fiskars, wardshus.fi

Hotel Tegel: Haustiere möglich, DZ ca. 125 Euro inkl. Frühstück. Fiskarsintie 9, tegel.fi

Lavatupa/Altes Waschhaus: sechs Personen 120 Euro, inkl. Frühstück. airbnb.fi/rooms/527521
Diverse Hütten am Seeufer in der Nähe: fiskarsvillage.fi.

Essen
Wärdshus: finnlandweit bekanntes Restaurant mit gehobenem Anspruch, aber ohne Fine-Dining-Preise. Hauptspeisen um 30 Euro. Fiskarsintie 14, 10470 Fiskars, wardshus.fi

Kuparipaja: hausgemachtes Essen, gehobene Küche. Hauptspeisen um 30 Euro. Göran J. Ehrnroothin tie 1, kuparipaja.fi.

Kitamura: japanische Küche, Hauptspeisen 13-24 Euro. Fiskarsintie 12, ravintolakitamura.wix.com

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