Stratford-upon-Avon: Zum Tee mit König Lear

Original. Das Geburtshaus von Shakespeare, vom Garten aus  gesehen.
Original. Das Geburtshaus von Shakespeare, vom Garten aus gesehen.(c) VisitEngland/jameskerr.co.uk/Stratford-upon-Avon
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400 Jahre nach dem Tod von Shakespeare können sich Freunde seines Werks in Stratford-upon-Avon fortbilden: mit Vorträgen am Tag, Theater am Abend und Fachgeplauder zwischendurch.

Hinter der alten Fachwerkfassade des Shakespeare Hotels knistert Kaminfeuer. Auf dem Buffet im Saal duftet verheißungsvoll Lasagne. Wein strömt in Gläser. An großen runden Tischen haben die 60 Teilnehmer der Winter School zum Begrüßungs-lunch Platz genommen: viele Engländer, einige Amerikaner, drei Skandinavier und sogar eine Argentinierin. Die Englischlehrerin Claudia Figeroa ist eigens aus Patagonien angereist, um ihrer Leidenschaft zu frönen: Shakespeare.

Mehrmals im Jahr bietet der Shakespeare Birthplace Trust, der sich um den Erhalt der mit Shakespeares Leben verbundenen Häuser in Stratford-upon-Avon kümmert und sich nicht minder intensiv der Forschung widmet, Shakespeare-Seminare an. Mit Vorträgen am Tag und Theater am Abend vergehen drei Tage – manchmal ist es auch eine ganze Woche – wie im Flug.
Über die Frage nach Lieblingsstücken kommen die Teilnehmer schnell ins Gespräch. Viele Lehrer sind dabei, aber auch Theaterfans „mit einer lebenslangen Passion für Shakespeare“, wie es ein Arzt aus der
Grafschaft Kent formuliert. Nicht wenige begrüßen einander wie alte Freunde. Denn Shakespeare-Sucht ist zwar behandel-, nicht aber heilbar. Viele waren deshalb schon öfter hier und kennen einander. Das Zusammentreffen mit Gleichgesinnten ist nicht der geringste Reiz der Kurse.

Heimelig. Hausboot auf dem Avon in Stratford-upon-Avon.
Heimelig. Hausboot auf dem Avon in Stratford-upon-Avon. (c) VisitEngland/jameskerr.co.uk/Stratford-upon-Avon

Luella Baker, Englischlehrerin im Ruhestand aus Leices-ter, besucht seit fünfzig Jahren regelmäßig die Sommerkurse. Seit zwei Jahren buchen sie und ihr Mann zusätzlich die Winter School. „Ich liebe es“, erklärt sie. „Mittlerweile treffen wir viele bekannte Gesichter.“ Jede Menge Gesprächsstoff gibt es außerdem. Während sie und ihr Mann zu Hause beim Frühstück stumm die Zeitung läsen, diskutierten sie hier schon früh am Morgen über das Theaterstück vom Vorabend.

Brandstiftung. Schon die schweren Eichenbalken an der Decke des Shakespeare Hotels signalisieren, wohin die Reise geht: ins 17. Jahrhundert. Stratford war damals bereits ein blühender Marktflecken. Nur ein paar Häuser neben dem Hotel wohnte der berühmteste Sohn der Stadt im größten Anwesen weit und breit: William Shakespeare. 1597 hatte der überaus erfolgreiche Autor und Theatermann mit 33 Jahren New Place gekauft: ein spätmittelalterliches, sehr repräsentatives Haus, das der Familie viel Platz bot und dazu sichtbar von seinem Erfolg kündete.

Bedauerlicherweise wurde es bereits im 18. Jahrhundert zerstört – sein damaliger Besitzer zündete es, genervt von ersten Touristenströmen, einfach an. Lang blieb ein Garten mit all jenen Blumen, die im Werk des Barden Erwähnung finden, sparsamer Ersatz für eine Pilgerstätte von universaler Attraktion. Denn in New Place „dürfte Shakespeare, der vom Kauf bis zu seinem Tod 1616 zwischen seiner Heimat und der Hauptstadt pendelte, manches seiner späten Werke geschrieben haben. Damit Besucher sich die Ausmaße des Anwesens besser vorstellen können, wird nach längeren archäologischen Untersuchungen zum 400. Todestag des Dramatiker in diesem Jahr ein Torbogen am Ort des ursprünglichen Eingangs errichtet und die Grundmauern durch bronzene Markierungen am Boden sichtbar gemacht.

Charmant. Blick von der Restaurantterrasse des Royal Shakespeare Theatre.
Charmant. Blick von der Restaurantterrasse des Royal Shakespeare Theatre. (c) VisitEngland/jameskerr.co.uk/Stratford-upon-Avon

„Shakespeare’s heartbeat“. Für die Eleven der Winter School ist das alles nicht neu, aber spannend. Wer in der Nähe wohnt, hat die Teilnahme am Festwochenende Ende April ohnehin fest eingeplant. Nach dem stärkenden Lunch schlendern alle zum Ort des weiteren Geschehens. Das Shakespeare Center liegt mit seinen Seminarräumen neben dem Geburtshaus an der Henley Street. Hier ist alles Shakespeare: von der Büste im Flur über die Theaterplakate der Royal Shakespeare Company, die in Stratford drei weltbekannte Bühnen bespielt, bis hin zum lebensgroßen Bildnis von Paul Scofield in der Rolle des King Lear.

Legendäre Namen schmücken nicht nur die Wände, auch das Programm bestreiten hochkarätige Experten. Zu ihnen zählen der auf internationalen Bühnen tätige walisische Regisseur Michael Bogdanov; die Schauspielerin Kelly Hunter, die lang Mitglied der Royal Shakespeare Company war, heute Regie führt und eine „Shakespeare’s heartbeat“ genannte Methode entwickelt hat, mit der sie Kontakt zu autistischen Kindern findet; der große Stanley Wells, emeritierter Professor für Shakespeare-Studien an der Universität von Birmingham und Anglisten auf der ganzen Welt als Herausgeber des „Complete Oxford Shakespeare“ bekannt; oder Sir Jonathan Bates, Professor für Englische Literatur in Oxford und Autor zahlreicher Bücher über Shakespeare und andere Schwergewichte des englischen Literaturkanons.

Bogdanov wird erzählen, wie er zu Beginn seiner Karriere zwischen seinem Pub The Shoemaker’s Arms in Wales, mit dem er noch sein Brot verdiente, und dem Theater in Stratford pendelte, und ein Feuerwerk von Anekdoten abbrennen. Kelly Hunter wird von der Kraft der Poesie Shakespeares berichten und wie sie dank Versmaß und Situationskomik einzelner Passagen Zugang zu Kindern mit Autismus findet.
Dass sich zu keinem Zeitpunkt intellektueller Feinstaub im Raum bildet, liegt zum einen an der Lebhaftigkeit der Vorträge, zum anderen an der Nähe zur Praxis. Shakespeare schrieb nicht für Gelehrte, er schrieb fürs Theater. Da ist es nur passend, dass Abigail Rokison-Woodall, die Schauspielerin war, bevor sie sich der Literaturwissenschaft zuwandte, Ausgaben der Dramen für Schauspieler bearbeitet. Denn ein Dschungel verwirrender Fußnoten wirkt auf Schauspieler schnell verstörend: „Erstaunlich viele Schauspieler sind Legastheniker.“ Sie brauchten ein luftiges Layout und wenige Anmerkungen. Dann spricht sie aus, was Anglistikstudenten nur in ihr Bier weinen: „Der Arden-Shakespeare hat zu viele Fußnoten.“ Im Plenum wird zustimmend gemurmelt.

Idyllisch. Der Avon und die Dreifaltigkeitskirche, in der Shakespeare begraben ist.
Idyllisch. Der Avon und die Dreifaltigkeitskirche, in der Shakespeare begraben ist.(c) VisitEngland/jameskerr.co.uk/Stratford-upon-Avon

Paul Edmondson gelingt es allein durch die Kraft seiner Sprache, die Zuhörer ins Stratford Shakespeares zu transportieren. Als Leiter der Abteilung Forschung und Wissenschaft des Birthplace Trust und Träger zahlreicher akademischer Meriten ist der 1974 geborene Shakespeare-Spezialist fachlich beschlagen, als Priester der Church of England beweist er die Bandbreite seiner Interessen.

Kostenlose Bildung. Er beschreibt die Welt, in die der Dichter am 23. April 1564 im Haus nebenan geboren wurde: Gerade hatte Henry VIII. den Katholizismus römischer Prägung abgeschafft, nach den religiösen Wirren unter seinem protestantischen Sohn Edward und der katholischen Tochter Mary sorgte nun Tochter Elizabeth I. für anglikanische Ruhe. Shakespeares Vater John wurde als führendes Mitglied der Gemeinde 1569 beauftragt, das Weißen der religiösen Bilder in der Kirche zu überwachen. Zugleich profitierte William von den neu geschaffenen Grammar Schools. Auch in Stratford gab es eine solche Schule, an der Knaben ab fünf Jahren kostenlos eine klassische Bildung erhielten. Latein war Umgangssprache – auch auf dem Spielplatz mussten die Zöglinge Lateinisch sprechen, im Klassenzimmer lasen sie die Literatur der Antike. Edmondson: „Danach brauchten sie kein Universitätsstudium mehr.“ 

Dann entwirft er ein Bild jenes Montags Ende April 1616, an dem die Trauergemeinde die Holy Trinity Church am Avon verließ, in der Shakespeare seine letzte Ruhe fand. Er starb als prominenter und geschätzter Autor. „Wäre Shakespeare in London gestorben – und Gott sei Dank, dass das nicht geschah! –, wäre er mit Sicherheit in Westminster Abbey beerdigt worden“, sagt Edmondson. Diese Vorstellung lässt auch manchen Stratford-Liebhaber im Auditorium schaudern.

Dreifacher Vater. Dank des Dichtergrabs gehört die hübsche Kirche am Fluss zu den wichtigsten Attraktionen der Stadt. 370 Pfund in bar hinterließ der Erfolgsautor in einer Zeit, in der ein Lehrer 20 Pfund im Jahr verdiente, dazu viel Grundbesitz. Nur als Dramatiker hätte Shakespeare eine Familie mit drei Kindern nicht ernähren können. Diese Notwendigkeit hatte sich aber früh in seinem Leben ergeben: Während seine Geschlechtsgenossen im Schnitt mit 25 heirateten, ließ er sich achtzehnjährig hastig mit der acht Jahre älteren Anne Hathaway trauen. Mit zwanzig war er dreifacher Familienvater. Edmondson: „Ein Dramatiker, der auch Theater spielte, verdiente mehr. Ein Dramatiker und Schauspieler, der auch Anteilseigner seines Theaters war, konnte wohlhabend werden.“ Investierte er dazu so geschickt wie Shakespeare und erbte vom Vater, wie er im Jahr 1601, wurde er reich. Dass Shakespeares Biografie längst nicht mehr so mysteriös ist wie häufig angenommen, ist nicht die geringste Erkenntnis des Tages.

Historisch. Pub des White-Swan-Hotels, eines Hauses aus dem  15. Jahrhundert.
Historisch. Pub des White-Swan-Hotels, eines Hauses aus dem 15. Jahrhundert. (c) VisitEngland/jameskerr.co.uk/Stratford-upon-Avon

Unterdessen hat eine Mitarbeiterin des Birthplace Trust das 400 Jahre alte Kirchenregister der Holy Trinity Church aus dem Archiv geholt und entrollt. Sie deutet auf die Stelle, an der Shakespeares Beerdigung am 25. April 1616 vermerkt ist – in englischer Sprache, während seine Taufe am 26. April 1564 noch in Lateinisch festgehalten wurde. Ehrfürchtig betrachten alle die Tintenspur in die Vergangenheit.

Diskussionen. Zur Stärkung gibt es Tee in der James I. Lounge. Die Kursteilnehmer essen Kekse und plaudern. Viele bedauern, dass in diesen Tagen – selten genug – in Stratford kein Stück Shakespeares auf dem Plan steht. Das Swan Theatre zeigt „Queen Anne“ von Helen Edmundson, das Royal Stratford Theatre geht mit „Love for Love“ von William Congreve fremd. Die meisten schauen sich die Stücke trotzdem an.

Wie bei jedem Seminar wird anderntags in der Queen Elizabeth Hall über die Inszenierung diskutiert. Doch diese Morgenandacht um neun Uhr schafft nur, wer nach der Vorstellung nicht im Dirty Duck versumpft ist, jenem legendären Pub gegenüber dem Theater, in dem sich auch die Schauspieler zum rituellen Absacker einfinden.

Bald ertappt sich mancher dabei, wie er auf dem Weg in den Seminarraum der Büste des Barden vertraulich zunickt. Immer näher rückt seine Welt. In die Mittagspause passt eine Stippvisite ins Geburtshaus, vor dem Theaterbesuch ein Spaziergang über die Uferwiesen des Avon, wo schon William flaniert ist. Und viel zu schnell ist alles vorbei. Mit herzlichen Abschiedsworten löst sich die Winter School auf. Der Rest sind Notizen, Bücher und Theaterprogramme.

Tipps

Witzig. Souvenirs mit dem Konterfei des Schriftstellers gibt es (nicht nur) in Stratford zuhauf.
Reiselektüre. Leicht, dünn und trotzdem schwergewichtig: Shakespeare im Reclam-Verlag.

Anreise. Der nächstgelegene Flughafen ist Birmingham (Wien–Birmingham–Wien mit Lufthansa via München ab 165 Euro).
Von dort verkehren mehrmals täglich Züge nach Stratford-upon-Avon. Die Fahrt dauert etwa eineinhalb Stunden; eine Rückfahrkarte kostet ab 14,30 britische Pfund.

Übernachten. Wenige Gehminuten von Bahnhof, Shakespeare Birthplace Trust und Geburtshaus entfernt liegt das komfortable Hotel The Stratfort; DZ ab 120 Pfund.
qhotels.co.uk.

Wer im Arden Hotel gegenüber von Royal Shakespeare und Swan Theatre logiert, kann in der Pause aufs Zimmer gehen (Waterside, Stratford-upon-Avon, CV37 6BA, theardenhotelstratford.com). DZ ab 95 Pfund.

Shakespeare-Seminare: Die Themen der Kurse „Living Shakespeare“ korrespondieren mit den Stücken, die die Royal Shakespeare Company gerade in Stratford spielt. Die nächsten Termine sind vom 11. bis 14 Mai 2016 und 5. bis 8. Juli 2016. Information und Anmeldung: The Shakespeare Birthplace Trust, Henley Street, Stratford-upon-Avon, CV37 6QW, shakespeare.org.uk.

Allgemeine Auskünfte:
Visit Britain, visitbritain.com

Compliance-Hinweis: Die Autorin wurde von Visit Britain eingeladen.

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