Südtoskana: Die Leidenschaftliche

Oliven in Maremma
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Eine südtoskanische Region, die Maremma, ist noch vergleichsweise unerschlossen. Ihre Milchprodukte und Weine sind aber ebenso köstlich wie der „Kaviar der Armen“, der getrockente Rogen von Meeräschen.

Außerhalb der Saison ist es in Orbetello am schönsten – andere sagen: ein bisschen ausgestorben. Die Luft ist salzig wie seit Jahrtausenden. Besucher, allen voran die italienischen, die wissen, wohin sie gehen, sind dann vereinzelt anzutreffen. Die Laguna di Levante auf der anderen Seite des Städtchens liegt in völliger Ruhe. Einsame Vögel schweben über der Laguna di Ponente. Orbetello (15.000 Einwohner) scheint sich etwas dicker zu machen, als es im Sommer ist, ohne links und rechts Wellen zu schlagen – es liegt auf einem sogenannten Tombolo, einem Dünenstreifen, genauer gesagt auf dem mittleren von drei Dünenstreifen, und im Laufe der Jahrhunderte „verlandet“ es – in der Antike war es noch eine Insel. Wir befinden uns am südlichsten Zipfel der Toscana, an der Costa d’Argento, nicht weit von Grosseto. Die Landschaft der Maremma, die bis nach Lazio hineinreicht, war nicht immer so romantisch wie heute.

Noch in der Neuzeit gab es in der sumpfigen Gegend viele Malaria übertragende Stechmücken. Traditionell herrschte geringes Interesse an diesem Sumpfgebiet, sieht man von der Repubblica di Siena ab, die mit Talamone ab 1303 einen denkbar weit von ihrem Machtzentrum entfernten Hafen betrieb. Dante verfluchte in seiner Komödie die Region, „sia maledetta Maremma Maremma“, denn „sempre mi piange il cor quando ci vai / perché ho timore che non torni mai“, des Erzählers Herz müsse weinen, wenn er sich dort hinbegebe, denn er habe immer Angst, nicht heimzukehren. Die hydraulisch-agrarische Entwässerung fand großteils erst im 19. Jahrhundert statt, bis 1930 traten Malariafälle auf.

Schiefer als der Turm von Pisa. Talamone ist heute ein Örtchen, das als „frazione“ administratorisch zur Gemeinde Orbetello gehört, obwohl es sich von der gleichnamigen Stadt nicht krasser unterscheiden könnte. Keine Rede von windstillen Lagunen, Tomboli, Schlamm und Schutt. Hier tobt das tyrrhenische Meer an die Klippen, von denen ein steiler Weg in die Bucht zu einem Badeplatz führt, der seinesgleichen sucht, noch mit den Umkleidekabinen des alten Italien. Die Burg, eine Fortezza Senese, erhebt sich bis 32 Meter über den Meeressspiegel. Der Blick schweift frei hinüber zur Isola del Giglio, vor deren Küste zwanzig Monate lang, schiefer als der Turm von Pisa, das auf Grund gelaufene Kreuzfahrtschiff Costa Concordia lag. Auf dem Hauptplatz liest man einen Vermerk, dass Garibaldi und seine „Spedizione dei Mille“ in ihrem Kampf um ein geeintes Italien sich hier am 7. Mai 1860 mit Wasser und Waffen versorgten, ehe sie Sizilien eroberten. Seine brasilianische Frau Anita, ebenso Revolutionärin, hatte sich elf Jahre davor auf ihrer gemeinsamen Flucht vor Französischen Truppen in dieser Region mit Malaria infiziert und war in Ravenna gestorben.

Sieg über Buffalo Bill. Lieferwägen mit der Aufschrift „Latte Maremma“ und der Abbildung von gesunden Kühen – wer sollte es bezweifeln? – brausen die Costa d’Argento entlang. Das Konsortium ist der größte Milchproduzent der Toskana, vertreibt auch Joghurt, dessen Getränke und Biskotten. Die Region brachte indes auch ein interessantes Zuchttier hervor, das Maremmano-Pferd. So nennt sich die typische Pferderasse aus der Maremma, einst das Hütepferd der toskanischen Hirten, ein Tier mit hoher Malaria-Resistenz. Mit ihrer Hilfe konnten die sogenannten Butteri ihre Herden zusammenhalten. Inzwischen hat sich das Maremmano zu einem Reitpferd weiterentwickelt. Etwa 4000 dieser meist braunen Tiere leben in den Provinzen Grosseto und Viterbo.

Als der berühmte Buffalo Bill am 8. März 1890 mit seiner Wildwestshow nach Rom tourte, forderten ihn die toskanischen Butteri zu einem Cowboy-Geschicklichkeits-Wettkampf heraus. Man musste dabei Übungen absolvieren – etwa junge Rinder einfangen und wilde Pferde zureiten. Es ist überliefert, dass die Butteri die Konkurrenz locker für sich entscheiden konnten, für ihren Führer mit dem schönen Namen Augusto Imperiali steht in seiner Heimatstadt Cisterna Latina ein Denkmal.

Das Lieblingsessen der Butteri war die Acquacotta, eine Mischung aus Zwiebeln, Mangold und Tomaten, serviert auf trockenem Brot mit pochiertem Ei. Diese Hirtenmahlzeit wird heute unter anderem auf dem jährlichen Gastronomiefest „Gustatus“ in Orbetello ausgegeben. Wenn die Agrarier Anfang November ihre lokalen Spezialitäten anbieten, dann füllt sich die halb ausgestorbene Stadt wieder.

Die Maremmani haben sich über Jahrhunderte hinweg für kein Anhängsel der Toscana, sondern für eine eigenständige Region gehalten, was sich allerdings politisch nie wirklich auswirkte. Umso mehr sieht man es an der Küche, die Einflüsse von Siena, aber auch Spanien zeigt. Neben dem Fisch – die Lagune trägt Geißbrassen, Seezungen, Seebarsche, Glasaale und Meeräschen – und seinem Rogen geht es vor allem um Trüffel, Kastanien, Olivenöl, Ricotta und Wein – etwa den Roten namens Morellino di Scansano. Die Konservierung von Fisch ist ein spanisches Erbe. Neben Anguilla Affumicata, dem geräucherten Aal, werden Spaghetti alla Bottarga serviert, mit getrocknetem Rogen der Meeräsche, des Thunfischs oder Schwertfischs. Vorsicht, intensiver Geschmack! Und ein großartiges Exportgut. Fischer sammeln in der Lagune von Orbetello den Rogen der Großkopf- oder Gestreiften Meeräsche und trocknen ihn kiloweise nach traditionellen Methoden. Der auch gesalzene und gepresste Fisch wird wie Trüffel über die Pasta gerieben, „Kaviar der Armen“, sagt man. Diese Äsche galt früher, als noch Zehntausende von ihr gefischt wurden, als Hafenfisch, wurde nach Sardinien verkauft, und man sagte ihr nach, dass sie notfalls auch Müll fräße. Dort verarbeitete man sie zu teurer Bottarga.

Die Idee, diesen Fisch in einer eigenen Kooperative zu verwerten, kam den Fischern der Lagunen von Orbetello vor wenigen Jahren. Sie schlossen sich zusammen und wurden selbst zu Distributoren. An der Lagune betreiben sie gemeinsam ein Restaurant, „I Pescatori“, ohne Koch- und Kellnerprofis, sie kochen selbst und bodenständig ihren Fang. „Wir machen das aus Leidenschaft“, hört man, wenn man sie dort fragt, „passione“ ist das Wort, das am öftesten fällt, und: „Wir machen das, seit wir Kinder sind.“ Mit größtenteils Jahrhunderte alten Methoden. Nur ist der Fisch heutzutage knapp, daher werden kleinere Exemplare neuerdings prinzipiell wieder ins Wasser zurückgeworfen.

Früher gab es Millionen, heute nur hunderte von jeder Art – die Fischer schwören, dass diese Relation nicht übertrieben ist, obwohl Pumpen beim Wasseraustausch in der Lagune mithelfen. Ohne Pumpen wäre es heutzutage unmöglich, versichern sie. Ganz sicher sind diese Fischer die letzten ihrer Art, die meisten über Fünfzig, sie haben zu wenig Nachwuchs. Heute verdient ein Fischer 1200 Euro, vor zehn Jahren war es fast das Doppelte. Doku-Regisseur Walter Bencini hat einen aufschlussreichen Film über sie gedreht, „I cavalieri della Laguna“ (2013), der auf mehreren Filmfestivals ausgezeichnet wurde.

„Es ist eine wunderbare Arbeit, den ganzen Tag an der frischen Luft“, sagt der eine, „nach zwei Stunden in der Fabrik würde ich wahnsinnig.“ Ein anderer meint: „Meine Mutter sagte, geh studieren, Junge!“ Jeder Fisch wird begutachtet und bewertet, in Männchen und Weibchen unterteilt, um den Rogen aus den prallen Bäuchen zu holen.

Als Lebendige kommen sie mit der Flut aus dem Meer in die Lagune, schwimmen in Gegenrichtung, werden nun gefischt und enden im Kübel mit den Eisschollen. An manchen Tagen ist der Ertrag äußerst niedrig: Heiß- und Kaltwetterperioden spielen dem Business schlimm mit. Eine immense Problematik sind die Fischfarmen, die ihr nährstoffreiches Wasser in die Lagune ablassen, wodurch die Algen, natürlicher Feind jeder Fischerei, überhand nehmen. „Außerdem sieht es aus, als würden die Fische immer gescheiter, als wichen sie uns jetzt aus“, sagt einer der Fischer. „Man kann jeden Tag etwas dazulernen.“

Rosa Flamingos in freier Wildbahn. Über allem thront jedoch ruhig und kreisrund der Monte Argentario, der 635 Meter hohe Punta Telegrafo mit der „Strada Panoramica“ und kleinen Buchten, die nur vom Meer aus erreichbar sind. In der Antike war er eine Insel, inzwischen hat Verschlammung neben den zwei Lagunen die drei Landzungen produziert. Das Örtchen Porto Ercole auf dem unbebauten Tombolo ist dafür bekannt, dass Caravaggio, damals 39, im Jahr 1610 auf dem Weg unter ungeklärten Umständen verschied. Die Geschichtsforschung schwankt bei ihren Erklärungen zwischen Malaria, Herzinfarkt und Bleivergiftung.

Orbetellos Lagunen sind umgeben von einzigartigen Nehrungen, auf denen sich Pinienwälder, Macchia und weite Felder ausbreiten – ein perfektes Habitat für zweihundert Arten von Wasservögeln. Der WWF hat es aufgrund seiner Lage an einer der wichtigsten Wanderstrecken von Zugvögeln zur „Offiziellen Oase“ ernannt. Neben Enten, Reihern, Tauchern und Stelzenläufern kann man auch eine Kolonie von Rosaflamingos beobachten, die einbeinig in der Landschaft stehen, als wäre hier ein Zoo.

Tipps

Bunt Gürtel der toskanischen Ledermanufaktur Maledetti Toscani.
maledettitoscani.com

Würzig Grillgewürz von Il Boschetto. ilboschetto.net

Rustikal Keramikteller mit dem in der Region beliebten Obstmotiv.
italian-ceramics.net

Schlafen
Hotel Capa d’Uomo, perfekte Lage auf den Klippen, Gartenfrühstück, Panoramaterrasse – ein besonderes Hotel. Via Cala di Forno 7, Talamone

Hotel Il Telamonio, Piazza Garibaldi 5, 58010 Talamone, hotelitelamonio.it

Talamone Camping Village; ein Städtchen mit Bungalows, Via della Giannella 166;
orbetellocampingvillage.it/de


Essen
„I Pescatori Orbetello“, Centro Degustazione, Spezialitätenrestaurant, hier haben sich die Fischer zusammengeschlossen, im Sinne der Fischereitradition der Maremma und des Überlebens. Kleiner Shop zum Verkauf der verarbeiteten Fischprodukte. Via G. Leopardi, 9, Orbetello, ipescatoriorbetello.it

„Ristorante Gallery“, die bejahrte Mama des Chefs kocht noch immer, und das schmeckt man. Trotz des abschreckenden Namens ein wundersames Lokal, nicht sehr teuer, dennoch Oberliga. Via Gioberti, 91, Orbetello.

Regionaler Wein
Morellino di Scansano, ein DOCG (Denominazione di Origine Controllata e Garantita), Rotwein aus der Gegend um Scansano in der Maremma. Zu 85 % aus Sangiovese, hell, viel Tannine, viel Säure; eine der wichtigen Rebsorten der Region.


Römische Ausgrabung
Cosa – das wichtige archäologisches Gebiet an Etruriens Küste. 273 v. Chr. als Römische Kolonie gegründet und noch vor dem Beginn unserer Zeitrechnung zerstört und verlassen. Forum, Capitol, Kurie, Mauern, dazu gut erhaltene Wohnbauten, für Laien von Interesse wegen der schönen Landschaft rundum. Denn für die Ahnungslosen ist Cosa oft „cosa“, also auf Italienisch auch das viel gebrauchte Wort für „(irgend)etwas“, wie gerne gescherzt wird.


Compliance-Hinweis: Der Autor war eingeladen von der Italienische Zentrale für Tourismus, ENIT; italia.it

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