Inselparadies niederländischer Pioniere

Kulturzentrum in Almere in Flevoland
Kulturzentrum in Almere in FlevolandImago
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Neuland entdecken: Besuch in Almere in Flevoland, wo sich renommierte Architekten ordentlich austoben konnten.

In welcher Stadt haben bedeutende Architekten fast ohne einschränkende Bauvorschriften ihren Ideen freien Lauf lassen können? Na klar, Deutschland scheidet aus, New York auch. In China oder Singapur? Nein, in Almere. Nie gehört? Das wird sich ändern, denn die Stadt in den Niederlanden ist nicht nur ein Magnet für Architekturfans, sondern auch die erste Etappe einer ungewöhnlichen Entdeckungstour.

Kaum irgendwo stimmt der Slogan „Neuland entdecken“ so wie hier, in oder besser auf Flevoland, der jüngsten Provinz der Niederlande. Sie entstand ab 1939, als man begann, die Zuidersee trockenzulegen. Ein Jahrhundertprojekt, das erst 1968 seinen Abschluss gefunden hat. Die Siedler, die es auf die neu gewonnenen Polder und die neuen Städte zog, waren Pioniere. Und Pioniergeist findet man auf dem am Reißbrett entstandenen Flevoland, dessen südlicher Teil komplett von Wasser umgeben ist, noch heute – und nicht nur auf dem Feld der Architektur.

Wer sich von Philippe van Thiel mit dem Boot zur Esplanade, dem am Wasser gelegenen Hauptplatz von Almere bringen lässt, erfährt, dass die Stadt die wasserreichste im Land ist. „Wir bewegen uns hier viel mit dem Boot“, sagt der Chef vom Jachthafen Haddock, der einer der Ersten war, die es nach Almere gezogen hat. „Überall gibt es Strände, sogar in der City.“ Auch um die Innenstadt, die nach einem Masterplan von Rem Koolhaas entstanden ist, verläuft ein Wasserweg. Es ist auffallend grün. Dass die drei Stadtteile Almeres durch Parks verbunden sind, zahlt sich aus.

Almere wächst und wächst

„Wasser und Wälder, das lieben die Menschen“, sagt Stadtführerin Marie-Josée Röselaers, die es aus dem engen Amsterdam hierher gezogen hat. Es muss stimmen, denn Almere wächst und wächst auf mittlerweile rund 200.000 Bewohner. Diese schätzen das Leben in einer Stadt, in der David Chipperfield und Christian de Portzamparc, Sanaa und Alsop Architects gebaut haben, in der man aus dem Theater direkt auf die Promenade tritt und in der der City-Verkehr auf Fahrräder beschränkt ist.

Auf dem Weg nach Urk, dem ältesten Ort auf Flevoland, kann man weitere Orte ansteuern, an denen sich der Pioniergeist der Bevölkerung ablesen lässt. Natürlich ist auch hier das angemessene Verkehrsmittel ein Rad. Da die immer wieder durch die Medien geisternde Idee eines 2000 Meter hohen Kunstbergs bislang Spinnerei geblieben ist, muss man sich mit etwas kleineren Kunstwerken in der Natur trösten: etwa Marinus Boezems Werk, das den Grundriss der Kathedrale von Reims aus Pappeln nachvollzieht, oder dem hockenden Stahlgerippe von Antony Gormley. Der Riese auf dem Deich bei Lelystad blickt auf das IJsselmeer – symbolisch für die Leistung der Landgewinnung. Weitere, zum Teil begehbare Landschaftskunstwerke haben auch Richard Serra und Daniel Libeskind beigesteuert.

Sozusagen im Rücken des Kolosses findet man das Museumsschiff Batavia, das als Nachbau des 1628 vom Stapel gelaufenen Seglers an den Schiffbau im goldenen Jahrhundert der Niederlande erinnert: ein Werk engagierter Flevoländer. Ein weiteres historisches Schiff ist in Arbeit. Dieses Projekt soll Langzeitarbeitslosen den Weg in den Arbeitsmarkt erleichtern.

An der nächsten Station wartet eine Pionierleistung, die man hier weniger erwartet: Weinbau. Johan Rippen frönt sozusagen im Garten seinem Hobby. „Unser Boden ist ja Neuland, also absolut naturbelassene Erde“, erklärt der Flachland-Winzer, den es aus Delft hierher verschlagen hat. Außerdem sei das gesamte Viertel als Terrain für biologischen Landbau ausgewiesen worden. Beste Voraussetzungen für besondere Qualität. „Wir experimentieren mit neueren Rebsorten, die für unser Klima geeignet sind.“ Das Ergebnis: gehaltvolle, komplexe Rotweine mit schwerer Frucht, wohlgemerkt aus den Niederlanden, nicht aus Bordeaux.

Welkom op Urk

Wer von Almere nach Lelystad radelt, passiert das Naturschutzgebiet Oostvaardersplassen. Hier kann man sich auf die Suche nach Auerochsen und Seeadlern machen. Weiter geht es auf dem Pionierpfad, der immer wieder durch kleine Waldstücke führt, nach Norden. Das Observatorium des Künstlers Robert Morris ist ein weiteres Ziel. Danach überquert man das Ketelmeer und erreicht den Nordostpolder, den älteren Teil Flevolands. Dass die Sonne am Nachmittag über der Westküste steht, macht die Tour nach Urk noch attraktiver.

„Welkom op Urk“ heißt es an der Ortseinfahrt. Das Städtchen war einst eine kleine Insel in der Zuidersee. Der alte Dorfkern stammt noch aus einer Zeit, als man nicht einmal im Traum an Almere dachte. Man lebte vom Fischfang, was auch heute noch für die meisten Bewohner gilt, obwohl Urk mit seinen schmalen Gassen, den Glinkis, und den 23 Kirchen (bei 19.000 Einwohnern), seinem Hafen und der Promenade jetzt an einem Binnenmeer liegt. Die Geschichte ist hier noch quicklebendig. So tragen die Männer traditionell einen Ohrring, früher das Erkennungszeichen für die Urker, sonst wären sie im Todesfall hier nicht bestattet worden. „Mit dem Gold konnte die Beerdigung bezahlt werden“, erzählt Lammert Post, ein Urker, den es nach beruflichen Stationen in der ganzen Welt wieder in seine Heimat gezogen hat. Das stille Urk scheint einen besonderen Reiz zu haben, verzeichnet man hier doch die höchste Geburtenrate im Land. Auf seinem historischen Holzboot, einem Einmaster von 1902, segelt Lammert immer in Tracht mit Touristen auf das IJsselmeer und erzählt von den Gefahren des Fischfangs in vergangenen Tagen, seinem von ihm restaurierten Boot, mit dem schon sein Opa zum Fischen ausgefahren sei und das die Nazis nicht konfisziert hätten, weil es zu marod gewesen sei. Und natürlich spricht er von seinem Städtchen. „Hier dreht sich nicht nur das Signal des Leuchtturms andersherum als überall sonst.“ In Urk, das mit seiner auf einem neun Meter hohen Hügel gelegenen Hauptkirche ein Blickfang für die Bootsfahrer auf dem IJsselmeer ist, scheinen auch die Uhren etwas langsamer zu ticken. „Urk ist eben relaxing“, lächelt Lammert Post.

Mit dem Rad verlässt man die ehemalige Insel, vorbei an einer Bucht mit Sandstrand, über den Deich in Richtung Lemmer. Statt Mühlen säumen Windräder den Weg, deren Schnurren die Radler begleitet, bis man in das Landesinnere zur letzten Etappe abzweigt. Wenn man zu den Baumriesen, die die Wege säumen, aufschaut, könnte man glatt vergessen, dass man sich auf Neuland befindet. Gibt es in Lelystad das Dokumentationszentrum Nieuw Land, das über Trockenlegung, Landgewinnung und Besiedlung Flevolands informiert, so findet man in Schokland, unweit von Urk, ein Museum, das noch tiefer in die Geschichte blickt – in eine Zeit, als die wilde Zuidersee noch ein Teil der Nordsee war.

Die Anlage auf einem Hügel über Feldern und Weiden mit einigen Häuschen und einer Kirche zählt zum Unesco-Weltkulturerbe. Sie berichtet von der wechselhaften Geschichte der früheren Insel Schokland und ihrer leidgeprüften Bewohner. 1859 wurde die Insel, oder besser das, was noch von ihr übrig war, auf königliches Geheiß geräumt. Überschwemmungen und Sturmfluten hatten dem Eiland immer wieder zugesetzt. Das Meer hatte gesiegt, aber nur vorübergehend, bis der Nordostpolder angelegt wurde. Auf dem Rundweg um das Terrain der früheren Insel hört man keine brausenden Wellen mehr. Nur der Wind rüttelt bisweilen an den hölzernen Befestigungsanlagen, die das Ende Schoklands anzeigen. Es sieht ganz so aus, als hätte der Mensch auf Flevoland gezeigt, dass er im Ringen mit der Natur auch etwas Vernünftiges zustande bringen kann.

Unterkunft

Sehenswertes

Tipps

Information

Flevoland

Apollo. Viersternehotel im Zentrum von Almere: architektonisch interessantes Haus. Angebot: Am Wochenende zahlt man 47,50 Euro pro Person und Nacht inkl. Frühstück. +31/36/5274500 apollohotelresorts.com/almere.

Wasserchalets im Jachthafen von Lelystad: Für drei Übernachtungen in einem kleinen Häuschen für max. vier Personen am Steg zahlt man 389,95 Euro, das Frühstück kann man für 7,50 Euro pro Person dazubuchen. Im Jachthafen gibt es auch einen Fahrradverleih. flevomarina.com

Pension De Kroon in Urk: einfaches B&B im alten Dorf. Das Doppelzimmer mit Frühstück kostet bei mehrtägiger Buchung inkl. Frühstück 65 Euro. Es gibt Zimmer mit Balkon und IJsselmeer-Blick. pensiondekroon.nl

Das Museum Nieuw Land in Lelystad und das Welterbezentrum Schokland informieren über die Entstehung dieses Landesteils.

Für Kunstfreunde ein Muss: die Route der Land-Art-Projekte auf Flevoland. Auf den einschlägigen Karten ist die Lage der Werke eingezeichnet.

Sie sollten sowohl die neue Stadt Almere als auch das alte Dorf Urk besuchen, um die besonderen Kontraste dieser Gegend kennenzulernen. Einen Besuch in der City von Lelystad können Sie sich sparen.

Auch schön ist ein Ausflug mit einem Botter auf dem IJsselmeer (ab Westhaven in Urk). Im Tourismusbüro nach Lammert Post fragen.

Toerisme Flevoland: Het Ravelijn 1, NL-8233 BR Lelystad; +31/320-286752 www.auchflevoland.de
www.holland.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)

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