Zeitreise im englischen Rosengarten

Ein Blick zurück: Penshurst Place in alten Tagen.
Ein Blick zurück: Penshurst Place in alten Tagen. Imago
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Im Südosten Englands steht ein historisches Haus neben dem anderen. Ihre Interieurs stecken voller Geschichten, ihre Parks sind heute Spielplätze für das Volk.

Zwei Hofdamen tuscheln in einer Ecke, neben ihnen steht ein eleganter Höfling. Doch die Gestalten aus der Tudorzeit geben ihre Geheimnisse nicht preis: Ihre üppigen Gewänder sind auf Puppen gespannt. Die Krypta unter der zweitältesten Großen Halle Englands, wo einst Vorräte, Schätze gelagert wurden, ist heute Aufbewahrungsort für Requisiten und Kostüme – Erinnerungen an diverse Dreharbeiten in Penshurst Place. Der Film „Die Schwester der Königin“ mit Scarlett Johansson als Mary Boleyn entstand zu Teilen hier; die BBC-Verfilmung des Bestsellers „Wölfe“ tauchte den Bau aus dem 14. Jahrhundert in Scheinwerferlicht. Die Autorin Hilary Mantel erzählt darin die Geschichte des Gattinnenverschleißers Heinrich VIII. aus dem Blickwinkel seines Beraters Thomas Cromwell. Penshurst Place war eines von mehreren historischen Häusern, die die Anwesen Heinrichs und seiner Frauen darstellten.

Unveränderte Substanz

Denn das Haus, seit dem 16. Jahrhundert im Besitz der Familie Sidney, hat die Zeit recht ungerührt überstanden. Auch die wie Zimmer von Hecken eingefassten Rosen- und Magnoliengärten, der Obsthain und der grauweiße Garten haben sich kaum verändert, seit Heinrichs Tochter Elizabeth I. hier einen Besuch machte. Nur ein paar Ergänzungen wie das große Beet in Union-Jack-Farben, ein Buchs in Bärenform und die Skulptur des Stachelschweins, das auch das Familienwappen der Sidneys ziert, kannte sie noch nicht. Heute spielen und flanieren hier die Besucher. Im Frühling fotografieren sie ihre Kinder zwischen Narzissen, bis in den Herbst liegen sie, von keinem Verbotsschild aufgehalten, auf Rasenflächen und nutzen einen der ältesten erhaltenen Englands, als wäre es ihr eigener.
Sir John de Pulteney, ein reicher Händler aus London, ließ Penshurst Place 1341 erbauen. Er beauftragte die besten Handwerker, um die von zwei Flügeln eingefasste Große Halle mit hohen Fenstern und einer aus Kastanienholz geschnitzten Decke zum Renommierstück zu machen. Weil Pulteney seinem König, Edward III., viel Geld geliehen hatte, durfte er sich frei unter dessen Baumeistern bedienen. Doch er sollte sich nur acht Jahre lang an seinem Landhaus erfreuen; von einem Tag zum nächsten raffte ihn die Pest dahin.

Nachdem das Anwesen an die Herzöge von Buckingham fiel, war es dem dritten Herzog beschieden, wesentliche Eigenschaften des noch nicht dreißigjährigen Heinrichs VIII. kennenzulernen: Misstrauen gepaart mit tödlicher Konsequenz. Anlässlich eines Besuchs seines Königs 1519 investierte Buckingham ein Vermögen in dessen Bewirtung. Doch solcher Reichtum, dazu ein hoher Titel, das mochte bedeuten, dass Buckingham sich Hoffnungen auf Heinrichs Thron machte. Vorsichtshalber ließ der König ihn köpfen, Penshurst Place fiel an die Krone. Heinrich nutzte es fortan als Jagdsitz und überließ es später seiner vierten Gattin, Anna von Kleve. Heinrichs einziger Sohn, Edward, schenkte es seinem Tutor Sir William Sidney. Die Familie brachte unter anderem den Dichter Sir Philip hervor und gab das Anwesen trotz einiger Erbfolgekrisen – der zweite Earl of Leicester hatte 15 Kinder, von denen drei nacheinander Titel und Anwesen erbten, doch keiner hinterließ einen legitimen Nachkommen – nie mehr her. So ging der Titel des Earls verloren, doch blieb das Haus über eine Nichte in der Familie. Bis heute.

Hilfe durch den National Trust

Historische Bausubstanz, Gärten von der Größe mehrerer Fußballfelder und Weide- und Ackerland der herrschaftlichen Anwesen bringen zwar einiges ein, erfordern zugleich aber nahezu unbegrenzte Mittel zu ihrer Erhaltung. Daher sind viele anders als Penshurst Place nicht mehr in Privatbesitz, sondern gehören dem National Trust, einer gemeinnützigen Organisation, die das historische Erbe bewahrt. Mancher Aristokrat bewohnt dadurch noch einen Teil des Anwesens seiner Ahnen, ohne bei jeder Dachdeckerrechnung den Bankrott fürchten zu müssen. Zugleich macht der National Trust Schlösser, Adelssitze und Dichterklausen der Öffentlichkeit zugänglich und beschert dem Volk überdies Shops, in denen von Biomarmelade über Vogelnistkästen bis zu Gartenhandschuhen alles zu kaufen ist, was das Landleben schöner macht – stets zum Wohl der über 350 historischen Häuser, Gärten und Monumente, in deren Erhalt aller Gewinn fließt.

Besonders viele finden sich im Süden Englands, wo einflussreiche Persönlichkeiten immer schon die Nähe zur Hauptstadt geschätzt haben und eine milde Landschaft aus Hügeln, Wiesen und gepflegten Dörfern Augen und Gemüt beruhigt. Eine sehr schmale Straße führt nach Standen, dem bei East Grinstead gelegenen Landhaus von James Beale und seiner Frau, Margaret. Der Vater von sieben Kindern hatte sein Vermögen als Anwalt der Eisenbahngesellschaft Midland Railways gemacht. Mit 50 Jahren wünschte Beale sich ein Traumhaus und beauftragte 1891 Philip Webb und William Morris mit dem Bau: über einem weiten Tal mit Blick über das Sussex Weald und die South Downs ein Haus, das vor allem aufgrund des Wirkens des vielseitig begabten Morris seinen Reiz bis heute bewahrt hat.

Berühmte Muster

Morris war Architekt und Sozialist, arbeitete als Übersetzer und Verleger, ist als Maler, Dichter und Begründer der Arts-and-Crafts-Bewegung zu Ruhm gekommen und wird bis heute für seine Muster und Ornamente geliebt. Er ersetzte Schwere und Dunkelheit viktorianischer Interieurs durch Licht, Leichtigkeit und zarte Farben und legte zugleich größten Wert auf Solidität von Material, Form und Handwerk. Auch Webbs Stil war neu, sogar visionär. Er schonte den Baumbestand, zerstörte keines der alten Gebäude, setzte das Haus in geschützter Lage über die Aussicht und bediente sich lokaler Baumaterialien. Der Steinbruch neben dem Haus wurde später zum Felsengarten.

Bis auf einige Zimmer der Bediensteten sind alle Räume Standens geöffnet. Die Besucher bewundern das Lesezimmer mit Kamin, gemusterten Teppichen, kleinen Tischen und Sesseln; das Billardzimmer, die Alkoven, die eingebauten Bücherschränke, die hellen Schlafzimmer im ersten Stock. Wer Schubladen auszieht, findet darin Muster von Morris, die sich bis heute gut verkaufen. Und auch über schönes Wohnen ist hier einiges zu lernen. In Terrassen senkt sich der Garten, bis hinter Wiesen und Weiden der Weirwood-See das Tal beschließt. Besucher können auf der Wiese picknicken, die von den Beales 1907 von einer Japanreise mitgebrachten Ahornbäume bewundern und in die Landschaft hinauswandern.

Große Turner-Sammlung

Während man in Standen sofort einziehen wollte, besitzt das stolze Petworth House eher museale Ausstrahlung. Daran ist vor allem William Turner schuld, der große englische Landschaftsmaler, der zwischen 1827 und 1837 sieben Mal Gast des dritten Earls of Egremont war und das Haus und den 1751 vom Großmeister Capability Brown gestalteten Landschaftspark immer wieder gemalt hat: Zwanzig Gemälde und hundert Aquarelle sind hier entstanden. Vier hängen im Dining Room, sodass Gäste die Darstellungen Turners von Petworth in wechselndem Licht bei Tisch bewundern konnten. Neben vielen anderen Bildern, die hier alle Wände pflastern, besitzt Petworth die größte private Turner-Sammlung der Welt. Park und Haus haben sich kaum verändert; einzig der Eingang ist an die Rückwand des Hauses verlegt.

Sein heutiges Gesicht erhielt Petworth durch den Urgroßonkel des Earls of Egremont: Charles Seymour, der sechste Duke of Somerset, der „stolze Herzog“. Als mittelloser Adeliger hatte er Elizabeth Percy ihres Familiensitzes wegen geheiratet und Petworth Ende des 17. Jahrhunderts mit ihrem Geld zum barocken Palast ausbauen lassen. Den Grundstein zur Kunstsammlung hatte bereits ein Vorfahr Elizabeths mit Werken seines Lieblingsmalers van Dyck gelegt. Sind die Gäste einst durch den Park auf das Haus zugefahren, erreichen es heutige Besucher von der dem Dorf zugewandten Seite aus. Das hatte man einst ganz ausgeblendet, es aber anders als mancherorts nicht versetzen lassen, um die Aussicht vom Plebs zu reinigen. Die erste Etage bewohnt noch heute die Familie. Doch im Park dürfen Besucher ihre Hunde laufen lassen. Sie liegen in Liegestühlen vor dem Haus und streifen durch Küche und Prunkgemächer. Heute gehört Petworth dem Volk.

Südostengland

Übernachten: Das Oakwood House Hotel in Maidstone ist als Landsitz aus dem 19. Jahrhundert selbst ein historisches Haus mit Park. Ein Teil des Gebäudes ist Sitz der Verwaltung Kents, weshalb der Weg zu einigen Zimmern durch Büroflure führt. www.oakwood-househotel.co.uk.

In Dogmersfield Park begegnete der spätere König Heinrich VIII. zum ersten Mal Katharina von Aragon, die später seine erste Ehefrau wurde. Auch sonst ist der historische Herrensitz mit Geschichte ebenso getränkt wie – als Sitz des Four Seasons Hotels Hampshire – mit Luxus. Das Haus besitzt ein großes Schwimmbad, mit Antiquitäten ausgestattete Zimmer und bietet Zeitvertreib wie Reiten, Falknern und Touren im hauseigenen Klettergarten. www.fourseasons.com/hampshire

Historische Häuser: Mehr als ein Anwesen pro Tag sollte man sich nicht vornehmen – wegen der Kurverei über Land und weil die Zeit in den Parks und Gärten sehr schnell verfliegt.

Penshurst Place in Tonbridge, Kent, www.penshurstplace.com

Standen in East Grinstead, West Sussex www.nationaltrust.org.uk/standen-house-and-garden).

Petworth House in West Sussex, www.nationaltrust.org.uk/petworth-house

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2016)

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