Zauberstab und Besenstiel

Auf Alnwick Castle, dem Sitz der Herzöge von Northumberland und Drehort der ersten beiden „Harry Potter“-Filme, können sich Zauberer und Hexen im Besenreiten üben.

Professor Gideon Kebble trägt einen schwarzen Umhang, spitzen Hut und einen langen Schal zum Schutz vor dem kalten Wind, der heute aus Schottland hinüberweht. Sein eisengrauer Bart weist ihn als erfahrenen Zauberer aus. Leider ist seine geschätzte Kollegin, die Fluglehrerin Professor Amanda Hufflepump, heute verhindert, erklärt er. An ihrer Stelle hat er einen Referendar mit grauem Spitzhut mitgebracht. Kebble schreitet die Reihe seiner Schüler ab, der Zauberlehrling folgt ihm mit einem Leiterwagerl voller Reisigbesen. Schauplatz des Flugtrainings ist der äußere Burghof von Alnwick Castle, wo Madam Hooch in den ersten beiden „Potter“-Filmen Harry, Hermine, Ron und ihren Klassenkameraden auf die Besen half.

Auch ohne dieses Wissen könnte die Kulisse eindrucksvoller kaum sein. Hinter uns erhebt sich Alnwick Castle, dessen Burgmauern bis in die Zeit der normannischen Eroberung zurückreichen. Seit dem Jahr 1309 ist die Festung im Besitz der Percys, deren Vorfahre William mit Wilhelm dem Eroberer aus der Normandie herüberkam. Bis heute gehören die Percys, erst Barone, dann Grafen und später Herzöge von Northumberland, zu den reichsten Adelsfamilien Englands. Ihr Ahne Harry „Hotspur“ wurde von Shakespeare im ersten Teil des Historiendramas „Henry VI“ verewigt. Hinter der Burgmauer, wo eine von Lancelot „Capability“ Brown geschaffene Landschaft aus grünen Hügeln und weißen Schafen ländlichen Frieden verströmt, tat im Jahr 1093 der schottische König Malcolm, Sohn und Rächer des von Macbeth ermordeten Duncan, auf der anderen Seite des Flusses seinen letzten Atemzug.

Gepflegt. Die derzeitige Herzogin Jane legte den spektakulären und akkurat gepflegten Garten an.
Gepflegt. Die derzeitige Herzogin Jane legte den spektakulären und akkurat gepflegten Garten an. (c) Stephanie Bisping

Kulisse für Filme. Selbst für Ralph Percy, den zwölften Herzog, dessen Reichtum immerhin auf dreihundert Millionen Pfund geschätzt wird, ist der Unterhalt der Burg seiner Väter mit spürbaren Kosten verbunden. Deshalb verdient das Haus bei Filmen wie „Elizabeth“ mit Cate Blanchett, „Robin Hood“ mit Kevin Costner, den „Potter“-Filmen und „Downton Abbey“ als Drehort dazu. Ein umfangreiches Unterhaltungsangebot für Familien und der spektakuläre, von der derzeitigen Herzogin Jane angelegte Garten machen die zweitgrößte bewohnte Burg Englands zu einer Sehenswürdigkeit, für die allein sich die Reise in den äußersten Norden Englands lohnt.

Broomstick Training. In einer langen Reihe haben wir Aufstellung genommen: Kinder, Eltern und erwachsene „Harry Potter“-Fans, die kein offensichtliches Alibi neben sich stehen haben. Das ist auch nicht nötig. Das Broom­stick Training eignet sich für jedes Alter. Die Karten, die jeweils eine Hexe oder einen Zauberer zur Teilnahme berechtigen, kosten nichts – der Eintritt in die gewaltige Burg voller Schätze und Geheimnisse ist ohnehin beträchtlich. Doch die Nachfrage nach Flugunterricht ist so groß, dass die Teilnehmerzahl mittels Zeitfenstern und Karten reguliert werden muss. Bald zwanzig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen sind die „Harry Potter“-Romane noch immer, was einstmals Karl Mays Wüsten- und Westernhelden oder Blytons „Fünf Freunde“ gewesen sein mögen: eine literarische Einstiegsdroge, die sofort süchtig macht.

Sobald wir die kostbaren Karten in Händen halten, ist die Ausstellung zur Fernsehserie „Downton Abbey“, deren zwei letzte Weihnachtsspecials ebenfalls in Alnwick Castle gedreht wurden, erstmal abgeschrieben. Auch die Drachenjagd, das Bogenschießen und den Besuch in den Prunkgemächern mit ihren Kunstschätzen, Antiquitäten und Familienfotos der Percys verschieben wir auf später. Das Flugtraining hat oberste Priorität. Professor Kebble fordert jeden zweiten in der Reihe auf, „fünf Hagrid-Schritte nach vorne“ zu machen. Jeder hier weiß, wie groß die Schritte des Halbriesen Hagrid sind. Schon stehen die Teilnehmer einander in zwei Gruppen gegenüber. Nun erklärt Kebble Grundlegendes: die Übernahme des Fluggeräts. In die Knie gehen, leicht federn, die Arme ausstrecken – und zupacken! Sonst hat der Besen sich schnell unbemannt in die Lüfte erhoben.

Das Manöver gelingt, wir können aufsitzen. Wer es besonders gut gemacht hat, wird mit zehn Punkten für sein Haus belohnt wie die Schüler im Zauberinternat Hogwarts. In der Grundposition lässt jeder Flugschüler seinen Besen zunächst senkrecht hängen. „Treten Sie zur Seite, halten Sie den Besen mit beiden Händen fest, springen Sie auf!“ Wichtig: Während des Sprungs muss jeder „Mounttt-a!“ schreien, mit langem Umlaut und starkem „t“ am Ende, das in einem schwachen „a“ ausklingt. Mit gellendem „Mount!“ springen alle auf ihre Besen. Ein paar Versuche braucht es, bis alle durchdringend genug schreien und jeder fest auf seinem Besen sitzt. Nicht nur die Kinder sind mit Feuereifer dabei. Das Ganze ist so himmelschreiend komisch, die Lehrer zugleich von solchem Ernst durchdrungen, dass die Erwachsenen sich jeder Lächerlichkeit enthoben fühlen. Die Kinder haben ohnehin großen Spaß.

Höchst unterhaltsam. Anleitung zum ­Besenreiten durch einen Fluglehrer.
Höchst unterhaltsam. Anleitung zum ­Besenreiten durch einen Fluglehrer. (c) Stephanie Bisping

Ein kleines magisches Geräusch. Wer einmal auf dem Besen sitzt, muss beschleunigen und bremsen lernen, bevor er an eine Karriere im Quidditch denken darf. Kebble zählt bis drei, ruft „Go!“ – und alle fliegen los. Das heißt: Wir bewegen uns auf unseren Besen vorwärts, rudern mit dem freien Arm durch die Luft und machen weisungsgemäß „ein kleines, magisches Geräusch“. Ruft der Professor „Stop!“, müssen die Schüler nicht nur anhalten, sondern in der Bewegung gefrieren. Kebble hält auf Disziplin: Wer hilflos kichert, wackelt oder vom Besen kippt, muss zurück zum Startpunkt.

Schließlich klappt alles. „Und jetzt über die Burgmauer!“, kommandiert Kebble. Einen Augenblick lang sind wir geneigt, es zu versuchen. Doch Kebble weiß: „Beim ersten Versuch schafft es kaum einer.“ Also geht es zurück über die Wiese im Burghof. Diesmal gibt der Meister mit dem Besen Zeichen: Hebt er den Besen an, heißt dies „Go!“, senkt er ihn, bedeutet dies „Stop!“, hält er ihn ausgestreckt vor sich, muss jeder auf einem Bein hüpfen und den passenden Soundtrack intonieren: „Boing, boing, boing.“ Die Sprachbarriere ist für die Kinder längst gefallen, generationenübergreifend macht sich vergnügte Albernheit breit, die auch ohne Fluggerät fast schon Flügel verleiht.

Trimagisches Turnier. Am Schluss sammeln beide Lehrkräfte ihre Schüler um sich. Eine gute und eine schlechte Nachricht kündigt Professor Kebble an. Zuerst die schlechte: Schlimm werde das, Tränen würden fließen, aber es muss raus: „Die erste Stunde Hexenbesen-Training ist vorbei!“ Die gute: Alle haben bestanden, mit Auszeichnung sogar! Längst sind wir so mit unserer Rolle verschmolzen, dass wir uns fühlen wie Harry Potter nach einem siegreichen Abschnitt beim Trimagischen Turnier.  Der Sohn ist vom Flugunterricht begeistert. „Das war so toll“, seufzt er und lobt auch das Fluggerät: „Bestimmt war das ein Nimbus 2002.“ Für sechs Pfund erwerben wir in einem diskret in die alten Mauern eingelassenen Souvenirlädchen ein in China gefertigtes Stück Plastik, das einem knorrigen Ast gleicht. Der Sohn identifiziert ihn aber klar als Harry Potters Zauberstab.

Zu den Überraschungen in den zugänglichen Prunkgemächern zählen Gemälde von Turner und Canaletto, aber auch Fotos, die an den Besuch von Prinz Charles im Jahr 2011 erinnern. Die eindrucksvoll bestückte Hausbar, ein Tischkicker und der Fernseher in der mit kostbaren Büchern gepflasterten Bibliothek zeugen von der privaten Nutzung der Räume. In einer Vitrine ist das Todesurteil für den siebenten Earl mit der Unterschrift Elizabeths I. ausgestellt. Thomas Percy hatte sich am missglückten Aufstand der Grafen aus dem Norden beteiligt, die die katholische schottische Monarchin Mary Stuart inthronisieren wollten. Weil Elizabeth ihn schätzte, wurde Thomas geköpft – die Vierteilung erließ sie ihm. Es dauerte, bis die Familie begriff, dass ihr Festhalten am römischen Glauben ihr weiteres Fortkommen ernsthaft behinderte.

Versteckte Plüschlöwen. Während die Eltern Zeugnisse der Geschichte Englands und der Wohnkultur der Percys betrachten, erforscht auch der Neunjährige hochkonzentriert die Gemächer. In den meisten Räumen sind kleine Plüschlöwen versteckt – auf einem Kaminsims, am Kronleuchter hängend oder auf der gedeckten Tafel im Dining Room, die noch die Namensschilder des Earls of Grantham und anderer Charaktere aus der letzten Folge von „Downton Abbey“ zieren. Wer dem Guide am Ausgang die richtige Zahl versteckter Löwen nennt, bekommt einen Anstecker. Später wandern wir über die Burgmauer und erkunden den Garten mit seinen Wasserspielen und dem Giftgarten, der nur in Begleitung eines Führers betreten werden darf. Kinder, die sich im Kostümfundus in Ritter und Prinzessinnen verwandelt haben, sausen umher. Unser Sohn hebt immer wieder seinen Zauberstab und spricht: „Lumos.“ Erleuchtet fühlen wir uns nicht, wohl aber verzaubert.

Tipps

1 Witzig
Der Harry Potter Charme ist auch auf den Infoschildern angekommen

2 Süß
Besonders gut ist der Honig der nahegelegenen Chainbridge Honey Farm www.chainbridgehoney.co.uk

3 Robust
Klassiker für das englische Wetter. Gummistiefel von Hunter.
www.hunterboots.com

Anreise: Wien-Newcastle-Wien ab 220 Euro via Amsterdam mit KLM. Weiter mit dem Mietwagen über die A1 in etwa 40 Minuten.

Burg und Gärten: Alnwick Castle liegt in Alnwick in der Grafschaft Northumberland. Die Gärten sind ganzjährig, die Burg von Ostern bis Ende Oktober täglich von 10 bis 17.30 Uhr geöffnet. Eintritt für Burg und Garten bei Online-Buchung 23,10 Pfund, für Kinder 9,83 Pfund.
www.alnwickcastle.com


Übernachten: Recht komfortabel ist das bei Consett gelegene Hotel Derwent Manor, das über ein Schwimmbad und ein Pub mit Kamin verfügt (Consett DH8 9BB, bw-derwentmanorhotel.co.uk). Zimmer mit Frühstück kostet hier für drei Personen 100 Euro.


Compliance-Hinweis: Die Autorin wurde teilweise von Visit Britain unterstützt.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.