Nordirland: Aus der Zeit gefallen

Gespenstisch. The Dark Hedges bei Ballymoney: Bei Sturm geistert hier eine Grey Lady herum.
Gespenstisch. The Dark Hedges bei Ballymoney: Bei Sturm geistert hier eine Grey Lady herum.(c) John Miskelly
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Nordirland hält viele Überraschungen bereit: landschaftlich spannende an der Causeway Coastal Route, thematisch aufwühlende in Belfast. Nämlich den erst jungen Frieden.

Möglicherweise wirken die meisten Sehenswürdigkeiten auf eine närrische Art aus der Zeit gefallen, wenn Prince Charles vor ihnen posiert – der Giant’s Causeway, bekanntestes Naturwunder Nordirlands, sicherlich. Zum Beispiel stellt sich der Thronfolger auf zwei der 40.000 sechseckigen Basaltsäulen, die durch vulkanische Aktivität entstanden sind. Triumphal streckt er seinen Spazierstock in die Höhe, als wollte er mit ihm an den tief hängenden Regenwolken kratzen. Er ist merklich beglückt, denn Aristokraten gefällt der Ort traditionell. In viktorianischen Zeiten wurden die Türmchen abgeschnitten und als Kuriositäten für Schlossgärten verkauft.

Auch Verblüffung steht Charles ins Gesicht geschrieben. Verblüfft ist wohl jeder fühlende Mensch, der auf diesen Formationen herumgestiegen ist. Wie zum Teufel war die Natur fähig, ein derartiges Säulenfeld zu produzieren? Die Geologie begründet es mit der langsamen Abkühlung von Lavaströmen, die vor 60 Millionen Jahren zum Salzwasser flossen und beim Trocknen brachen und Muster bildeten. Die Einheimischen kennen allerdings eine bessere Geschichte. Dazu muss man wissen, dass es auf der anderen Seite der Meerenge, in Schottland, ähnliche Formationen gibt. Es seien die Reste einer Brücke, heißt es, über die in legendärer Vorzeit zwei Riesen schritten: der irische Finn MacCool und der schottische Benandonner.

Schroff. Die Felsen brechen an der Küste abrupt zum Meer hin ab.
Schroff. Die Felsen brechen an der Küste abrupt zum Meer hin ab. (c) Caspar Diederik

Finn MacCool hatte diese Brücke aus Basaltkopfsteinpflaster aus Neugier gebaut, um sich ein Bild davon zu machen, wie es drüben in Schottland zuging. Doch zu seinem Entsetzen sah er dort Benandonner wüten, einen Riesen, deutlich größer als er selbst. Fassungslos flüchtete er über die Brücke zurück. Doch Benandonner hatte die Fährte aufgenommen und lief donnernden Schrittes nach Irland. Finn MacCool suchte bei seiner Frau Unterschlupf, sprang geradewegs in die Wiege und verkleidete sich mit Schnuller als hilfloses Baby. Als Benandonner dieses Riesenbaby sah, wurde ihm mulmig – wie groß musste erst der Vater sein? Verängstigt flüchtete nun wiederum er nach Schottland heim und zerstörte hinter sich die Brücke. Übrig blieb Giant’s Causeway – und die unverrückbare Überzeugung der Iren, wenn schon nicht größer, so doch schlauer zu sein als die da drüben.

Lebenswasser. Auch beim Whiskey waren die Iren nach eigener Angabe die Ersten. Nur wenige Kilometer vom „Damm der Riesen“ entfernt liegt das Städtchen Bushmills mit der ältesten lizensierten Whiskeybrennerei der Welt – 1608 wurde die Lizenz vergeben, 1743 die Old Bushmills Distillery erstmals erwähnt. Dass jemand überhaupt die Idee haben könnte, etwas wie Whiskey (auf Ulstergälisch: Wasser des Lebens) zusammenzubrauen, scheint aus heutiger Sicht unwahrscheinlich. Doch die Mönche in der Nachfolge des heiligen Patrick, der im fünften und sechsten Jahrhundert Irland christianisierte, hatten neben ihren hehren Obliegenheiten auch viel Experimentierzeit und in einer Epoche boomender Klosterwirtshäuser immense Lust auf Alkoholisches. Sie erneuerten eine Kulturtechnik, die auf die Kelten zurückgeht. Klares Wasser, destillierte gemälzte Gerste und Hefe waren die Ingredienzien.

Rätselhaft. Wie schaffte es die Natur, diese Formation zu produzieren?
Rätselhaft. Wie schaffte es die Natur, diese Formation zu produzieren? (c) Arthur Ward

Transparentes Gold. Die Iren legen Wert darauf, dass es sich bei ihrem Whiskey nicht etwa um Whisky handelt. Der vorletzte Buchstabe sei Qualitätsmerkmal. Immerhin destillieren sie ihr transparentes Gold dreimal, während Grindflüssigkeiten wie Scotch nur eine doppelte und Bourbon gar nur eine Destillation durchlaufen. Nordiren lehnen sich zurück, wenn sie das erzählen: „Auch Scotch und Bourbon haben selbstverständlich ihren Wert. Man braucht schließlich auch Flüssigkeiten zum Auswaschen der Zahnbürsten . . .“ Allerdings galt Irish Whiskey, der milder schmeckt als schottischer, de facto bereits als ausgestorben, bis ins 20. Jahrhundert mussten immer mehr Brennereien schließen. Mit dem Aufschwung des Regionalismus und dem Whiskey-Hype gibt es zurzeit global eine dezidiert schnapsfreundliche Situation, von der auch Bushmills profitiert.

Das County Antim bedeckt den Nordosten Nordirlands, also das meiste Land nördlich von Belfast – gegenüber der großen Zehe der schottischen Lowlands, die Paul McCartney („Mull of Kintyre“) romantisch besungen hat und die gern mit einem Penis verwechselt wird, obwohl sie von Irland aus an klaren Tagen wie ein Krokodilrücken wirkt. Die hohen Kalkfelsen brechen an der nordirischen Küste abrupt gegen das Meer hin ab und formen schroff-malerische Abgründe vor Sandküsten. Das Wasser hat selten über 13 Grad.

Schlossgespenst. Die Causeway Coastal Route (193 Kilometer) verläuft durch Dörfer und Städtchen mit Namen wie Ballycastle, Cushendun oder Cushendall. Die schroffen Küsten sehen aus, als hätte Finn MacCool in ein Stück frischgrünes Land hineingebissen. Ideal ist es, sie mit einem Bus zu bereisen, der „Whiskey in the Jar“ von den Dubliners spielt. Denn in dieser Gegend ist man im irischsten – selbstverständlich auch im katholischsten – Nordirland. „Rain is our sunshine!“, vermeldet der Busfahrer, sobald der eine oder andere Tropfen seine Windschutzscheibe benetzt.

Feuchtigkeit gehört zum Alltag und lässt im Hinterland die Täler erblühen. Die grüne Landschaft mit den schmutzigen Schafen wirkt wie aus einem Fantasy-Film. Nicht zufällig werden Schlüsselszenen von „Game of Thrones“ hier gedreht – unter anderem bei Dark Hedges, der von dicken, alten Buchen überwachsenen Bregagh Road, einer Schlosszufahrt der Stuarts bei Ballymoney. Die Bäume schmiegen und biegen sich auf irre Art wie ein Dach über der Straße zusammen. Es gibt eine Schauergeschichte dazu. An stürmischen Tagen geistert eine Grey Lady an dieser Stelle herum, vermutlich eine Tochter des Schlosserbauers James Stuart, die unter ungeklärten Umständen ums Leben kam.

Üppig. Feuchtigkeit gehört zum Alltag und spendet fettes Grün.
Üppig. Feuchtigkeit gehört zum Alltag und spendet fettes Grün. (c) Amanshauser

Das Brüllen des Sturms. Bei Castlerock, bereits im County Londonderry, unter Katholiken hartnäckig Derry genannt, steht am Rand einer frischen Wiese der Tempel von Mussenden über der steil abfallenden Schlucht zum Meer. Diesen historisierenden Bau, der sich am römischen Tempio di Vesta orientiert, ließ der exzentrische Frederick Hervey, 4. Earl von Bristol (1730–1803), errichten. Er war ein anglikanischer Bischof mit aufklärerischen Ideen, den es nie daheim hielt, er lebte meist irgendwo in Europa, galt als Liebhaber von Wein und Frauen. Die Gebäude auf seinem Anwesen sind längst zerstört und ausgehöhlt, doch der kleine Mussenden Temple krallt sich trotzig fest – 40 Meter über dem hellen Sandstrand mit den Dünen, in denen auch einmal Autos versinken.

Wenn weiteres Land durch Erosion verlorengeht, wird er in die Tiefe stürzen, das scheint trotz vielfältiger Sicherungsmaßnahmen klar. Benannt nach seiner Cousine, Lady Frideswide Mussenden, prangen über dem Eingang die Worte von Lukrez: „It is pleasant to see from the safe shore/The pitching of ships and hear the storm’s roar.“ Wilder noch röhrt die irische See auf der Halbinsel Islandmagee – Bahningenieur Berkeley Deane Wise (1855–1909) erfand bereits im Jahr 1902 die sogenannten Gobbins. Der Marine Cliff Walk sollte Besucher zu Ausflügen mit seiner Belfast and Northern Counties Railway anregen. In den Sechzigerjahren war er verfallen, wurde gesperrt und erst kürzlich wieder eröffnet: ein drei Kilometer langer, in den Felsen geschnittener Weg mit Brücken aus Belfasts Werften, Tunnelchen und Höhlen, in denen Schmuggler Salz aus Schottland zwischenlagerten.

Titanic mit Spa. Doch auch Belfast hat einige Überraschungen bereit, zum Beispiel den Bankomaten, der frühmorgens die Karte des Kunden auffrisst („your card has been retained“), aber das kann natürlich ein Einzelfall gewesen sein. Hinter der Maschine befand sich übrigens keine Bank, sondern ein Tesco-Supermarkt in einem für die Provincial Bank of Ireland erbauten Prunkgebäude von anno dazumal (1867–69), als Banken noch salonfähig waren – dies nur als touristische Warnung.

Originell. Wandgemälde an der sogenannten Peace Line.
Originell. Wandgemälde an der sogenannten Peace Line. (c) Amanshauser

In Belfasts Werft Harland & Wolff lief das berühmteste Schiff der Welt vom Stapel – die Titanic (1911–1912). Ihr Wrack liegt in großer Tiefe vor Neufundland, doch das gleichnamige Erlebnismuseum am Ex-Werftstandort lässt ihre Größe und Tragik erahnen. Auf ihren sechs Decks war sie der Ära in puncto Komfort und Luxus weit voraus, hatte neben Raucherlounges und Bibliothek sogar den Vorläufer eines Fitnesscenters an Bord und dazu ein Spa (türkisches Bad). Das sechsstöckige Museum, ein architektonisch spektakulärer 97-Millionen-Pfund-Bau (2012), nimmt auf das Schiff Bezug, Belfaster nennen es aber hartnäckig den „Eisberg“.

Daneben ist das Hauptthema in dieser Stadt der junge Frieden. Nach dem Bloody Sunday (30. Jänner 1972, 13 Tote durch Beschuss britischer Soldaten in Derry) und dem Bloody Friday (21. Juli 1972, elf Tote durch Bombenanschläge der IRA in Belfast) eskalierte die Gewalt zwischen unionistisch-loyalistischen und katholisch-nationalistischen Kräften. Ab 1994 begann ein schwieriger Friedensprozess, wovon innerstädtisch die Peace Line kündet. Die Wunden sind nun schon ein bisschen verheilt. In den Pubs weisen Schilder noch darauf hin, dass das Tragen von Fußballdressen verboten ist – sie erwecken politische Konnotationen. Und wer über Politik spricht, fliegt sowieso raus.

Tipp

Küstenstraße. Die Causeway Coastal Route erstreckt sich von Lough Foyle im Nordwesten bis Belfast Lough an der Ostküste und bietet die Möglichkeit für Naturbeobachtungen, Vögel mit so ausdrucksstarken Namen wie Fulmar (Eissturmvogel), Kittiwake (Dreizehenmöwe), Razorbill (Tordalk), Guillemot (Lumme, unter anderem die Trottellumme) schwirren umher. Manchmal kann man auch Wale beobachten. 107 Sea Road, Castlerock, Co Londonderry nationaltrust.org.uk/downhillestate

Getränk. Kilmegan Cider, interessanter, endlich einmal nicht picksüßer, weil unindustrieller Craft-Cider in drei Sorten aus dem Dundrumer Haus von Andrew und Karen Boyd. Nur in lokalen Restaurants und Pubs erhältlich.
kilmegancider.com

Unterkunft. Clayton Hotel, nettes, innerstädtisches Hotel mit ganztägigem Gratistee im Foyer, 22 Ormeau Ave, Belfast claytonhotelbelfast.com
Slieve Donard Resort & Spa, schlossartig im Städtchen Newcastle, hastingshotels.com/slieve-donard-resort-and-spa

Gastronomie. Harrys Shack, toller Fischspezialist nahe Mussenden Temple direkt am Meer, 116 Strand Rd, Portstewart facebook.com/HarrysShack
Meat Locker at Deanes, 36-40 Howard St, Belfast, County Antrim
michaeldeane.co.uk
Bar & Grill at James Street South, 21 James Street South, Belfast belfastbargrill.co.uk

Compliance-Hinweis: Der Autor war Gast von
www.ireland.com.

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