Saint-Ouen: Dachboden der Welt

Historisch. Flohmarkt wird in Saint-Ouen schon seit 1885 gehalten.
Historisch. Flohmarkt wird in Saint-Ouen schon seit 1885 gehalten.(c) Paris Tourist Office / Amélie Dupont / Marc Bertrand
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Für die einen ist Saint-Ouen abweisende Vorstadt, für die anderen eine etwas angestaubte Erinnerung an einen Paris-Besuch. Dabei steht hier der größte Antiquitäten­markt der Welt: Paul Bert Serpette.

Um nach Saint-Ouen zu gelangen, muss man den Autobahnring überqueren. Das ist für die Pariser manchmal schwierig. Aber es lohnt sich“, sagt Jean-Cyrille Boutmy. Der Mann muss es wissen: Er hat vor zwei Jahren für kolportierte 25 Millionen Euro den Markt Paul Bert Serpette übernommen und ist dabei, die etwas angegraute Branche der Antiquitätenhändler in ein neues Zeitalter zu führen.

Auf der Metrokarte sieht es gar nicht so dramatisch aus. Wir machen den Selbstversuch, steigen im Pariser Zentrum in die Métro, lassen Sandsteinfassaden, Luxuslabels und Haubenrestaurants hinter uns, fahren ein Dutzend Stationen nach Norden und tauchen auf in einer eigenen Welt am Rand der Stadt. An der Porte de Clignancourt stehen unrasierte Männer in Lederjacken vor Gemeindebauten und Dönerbuden. Fliegende Händler mit original Luiwittong-Taschen um den Hals und Raiban-Brillen in der Hand rennen aufgeregt zwischen den Passanten umher. Freundliche Herren strecken uns mit einer konspirativen Geste ein glänzendes Smartphone hin, wispern die Namen der letzten Modelle – und wir greifen unwillkürlich zur Brusttasche und prüfen, ob das eigene Gerät noch am Platz ist. Die Strecke von der Station nach Saint-Ouen ist gesäumt von verbeulten Lieferwagen, Textilhändlern und Ethnokunst – und verdichtet sich nach der tristen Passage unter der Stadtautobahn zu einem unüberschaubaren Tunnel aus bunten, billigen Kleidern.

Idyllisch. Rue des Rosiers, die Hauptachse des Flohmarkts.
Idyllisch. Rue des Rosiers, die Hauptachse des Flohmarkts. (c) Paris Tourist Office / Amélie Dupont / Marc Bertrand

Dahinter empfängt uns die Hauptachse des Flohmarktes, die Rue des Rosiers, mit wellblechgedeckten Schuppen, graffitiverklebten Stahlrollläden und einem kulinarischen Angebot, das schon beim Hinschauen Magenschmerzen verursacht.

Dabei hat Saint-Ouen einen ganz besonderen Klang: Das Kleine-Leute-Viertel ist im kollektiven Gedächtnis mit viel Romantik aufgeladen. Seit 1885 wird hier Flohmarkt gehalten, die puces, die Flöhe also, gehören zu Paris wie die Portobello Road zu London und haben es sogar in Woody Allens „Midnight in Paris“ geschafft.

Ali Babas Höhle. Schon vor 30 Jahren gehörte der Besuch bei den Trödlern zum obligatorischen Programm einer Paris-Reise von Vorarlberger Kegelklubs und Murauer Sparvereinen. Und jüngere Generationen mögen sich an Wochenendausflüge von Au-pair-Mädchen und Erasmusstudenten erinnern, die durch einen Ramsch in einer unwirtlichen Gegend führten und in einem Arbeiterbeisl endeten. Wer sich allzu schnell zu hausgemachten Frites und Muscheln in Weißwein-Schlagoberssauce zurückgezogen hat, dem ist womöglich Grundlegendes entgangen: Der Flohmarkt wird auch heute noch als Frankreichs Touristenattraktion Nummer 4 geführt, un der ist damit Teil des französischen kulturellen Erbes. Unsere Gastgeber werden bei solchen Themen immer ein bisschen salbungsvoll.

Auf der Rue des Rosiers beginnt der Zauber dieser gigantischen Alibabahöhle zu wirken. Rechts und links führen Alleen ins Halbdunkel, gesäumt von unzähligen Geschäften, in denen es alles zu kaufen gibt, was an Gegenständen in den letzten 200 Jahren von Menschenhand geschaffen wurde. Oder zumindest fast. In den Schaufenstern herrscht, trotz der chaotischen Umgebung, meistens Ordnung; verständige Hände fassen immer wieder zusammen, was an Stil, an Farben oder an Herkunft zusammengehört. Dort strahlt ein ganzer Raum aus einem goldfarben überladenen Jahrhundert, anderswo blitzen hervor Möbel, die ausschließlich aus Flugzeugteilen zusammengesetzt sind, rechts leuchtet ein Geschäft mit Spiegeln (und nur Spiegeln), und links werden komplette Marmorkamine angeboten, mit denen man ein ganzes Loire-Schloss ausstatten könnte.

Vierzehn solcher Märkte gibt es in Saint-Ouen. Namen wie Vernaison oder Biron lassen die Augen der Spezialisten leuchten. Leuchtturm, Flaggschiff und Zugpferd zugleich ist aber Paul Bert Serpette; der größte Markt versammelt 350 Händler auf 12.000 Qua­dratmetern und tritt mit dem Anspruch auf, ganz einfach unumgänglich in der globalen Antiquitätenbranche zu sein. Der größte Dachboden der Welt gewissermaßen. Hinter dem Projekt steht Jean-Cyrille Boutmy. 2014 übernahm der Medienunternehmer die Anlage vom Herzog von Westminster. Dieser habe das kulturelle Erbe wie einen Supermarkt geführt, die Exception culturelle mit angelsächsischen Renditezielen erdrückt und sich mit seinen Händlern gründlich überworfen. Boutmy ist zwar auch ein Quereinsteiger, hat aber mit seiner aktiv gelebten Liebe zum Flohmarkt den Dialog mit den Händlern wieder aufgegriffen und eine beeindruckende Modernisierung eingeleitet, ohne den Geist des Ortes zu vertreiben.

Weg vom Sammelsurium, hin zur Spezialisierung, heißt der Trend.
Weg vom Sammelsurium, hin zur Spezialisierung, heißt der Trend.(c) Paris Tourist Office

Global Player aus der Vorstadt. Dabei wurde nicht nur digitalisiert – Paul Bert Serpette verfügt heute über einen virtuellen Flohmarkt im Netz und ist auf Facebook und Instagram vertreten –, sondern vor allem der reale Marktplatz hergerichtet. Der Unterschied ist fast körperlich spürbar, wenn man an der Nummer 106 vom Durcheinander der Rue des Rosiers in die Anlage eintritt. Das Gelände ist mit Toren befriedet, der Lärm bleibt draußen, die Bemalung in Backsteinfarben beruhigt das Auge und schafft eine visuelle Einheit.

Der Architekt Paul Audat hat Serpette, eine ehemalige Werkstatt aus den 1930er-Jahren, behutsam mit dem Paul-Bert-Markt aus der Nachkriegszeit verwoben und aufgewertet. In der Mitte dominiert die gediegene Wohnzimmer-Atmosphäre von Serpette, darum herum drängen sich in den Gassen von Paul Bert Hunderte von schmalen Ladenhäuschen – wie ein ins nördliche Europa verbrachter Freiluftbasar. Hier mit magerem Fachwerk dekoriert, dort von Efeu umrankt oder von duftendem Flieder gestützt. Dabei wird aber nicht gleichgeschaltet – der Markt gibt lediglich den Rahmen, in dem jeder Händler wie ein Schatzkästchen seinen Laden gestaltet, mit seiner Persönlichkeit, seinen Überzeugungen, seinen Leidenschaften. Gerade daraus resultiert die Stärke des Marktes, wird Boutmy nicht müde zu sagen: ein auf die Spitze getriebener Eklektizismus.

Was das wirklich bedeutet, wird aber erst vor Ort verständlich: Auf den Wanderer in diesem Labyrinth stürzen die Objekte ein wie ein Lebensfilm, eine Reise durch die eigenen Erinnerungen und Phantasien – und die von zehn Generationen vor uns. Alles haben wir scheinbar schon irgendwo gesehen, aber nicht in dieser Dichte, in dieser Variation und in diesen spannungsreichen Gegensätzen. Ein sandsteinernes Taufbecken steht unter einer acht Meter hohen gusseisernen Hallenkon­struktion, ein Grabmal neben einem Eames-Sessel, der Zusatztank einer Mirage III neben geschnitzten Heiligenfiguren. Dazwischen lebensgroße Gipsakte, papuanische Kriegsmasken, ein halber Laden mit leinenen Küchenhandtüchern, Spaliere von Spazierstöcken, Luster höher als eine Neubauwohnung – und ein Mühlrad aus Blech. Kubistische Malerei hängt neben Elfenbeinschnitzerei, neben Waffen, neben mundgeblasener Glaskunst. Es folgt ein Defilee von edlen Reisekoffern mit Original­aufklebern, eine Kompanie Militärtrompeten, Silberbesteck für ein ganzes Schloss, Rüschenkleider aus dem 18. Jahrhundert und ein Schrank voller blau leuchtender Globen. In gleich drei vollständigen Wohnzimmern aus den 1970er-Jahren spüren manche ihre Kindheit wieder – und beschließen, bei den Eltern einmal auf den Dachboden zu schauen. Aber schon geht die Reise weiter zwischen Ritterrüstungen, ausgestopften Tieren und Elefantenzähnen, vorbei an mannshohen Fotos von Baustellen (!). Wir streifen eine Mauer aus Kristallleuchten, blicken über zig braune Ledersessel in allen Größen, verharren staunend vor einem Laden, angefüllt mit Türbeschlägen aus Messing.

Alles – nur in neuer Dichte und Variation – gibt es bei Paul Bert Serpette.
Alles – nur in neuer Dichte und Variation – gibt es bei Paul Bert Serpette.(c) Paris Tourist Office

Jeder Händler kann hier seiner Liebe zu den Gegenständen freien Lauf lassen und sein eigenes skurriles Ordnungsprinzip erschaffen. Einer füllt seinen Laden nur mit schwarzen Objekten, ein anderer kombiniert afrikanische Masken mit zeitgenössischen Fotoarbeiten, und der Nächste erklärt uns nach kurzem Zögern sein Programm, das an Ehrlichkeit kaum zu überbieten ist: „Bei uns gibt es nur coup de coeur – wir führen alles, was uns selbst am Herzen liegt.“ Der Trend aber geht weg vom Sammelsurium hin zu höchster Spezialisierung in Design und Kunst. Sie suchen Landkarten und Reise­bücher aus dem 18. Jahrhundert? Italienische Lampen aus den 1960ern? Elektronische Kunst aus Leiterplatten? Brasilianische Möbel des Modernismus? Französische Nachkriegsmalerei? Skandinavisches Design aus den 1980ern? Ein original De-Sede-DS-600-Sofa? Französische Edelstahlmöbel aus den 1970ern? Oder doch eher klassizistische Quecksilberspiegel? Alles da, alles kein Problem!

Dazwischen Händlertypen, die so vielfältig sind wie ihr Angebot, die man kaum zu stören wagt in ihrer eigentümlichen Welt, wie sie da versonnen auf den reichlich vorhandenen Sesseln sitzen, einen Milchkaffee schlürfen, mit dem Nachbarn die Markttrends diskutieren oder den Besuchern Geschichten erzählen, von einzigartigen Objekten, von ihrer eigenen Suche nach dem Extravaganten, oder von ihren Familien, die seit Generationen mit dem Besonderen, Seltenen handeln.

Flohmarkthändler so sexy wie Küchenchefs. Der Markt kann auf eine rasante Entwicklung zurückschauen. Wo 2012 noch Leerstand ein Problem war, gibt es heute eine Warteliste. 80 neue Geschäfte sind hinzugekommen, sogar Händler aus dem altehrwürdigen Carré Rive Gauche im 6. Arrondissement haben Dependancen bei Paul Bert Serpette. Dazu kommen viele junge Wilde, die sich in dieser von alten Hasen dominierten Branche etabliert haben und durch ihre radikale Spezialisierung, ihrem Gestaltungswillen und ihrer Fantasie dem Trödelmarkt ein neues Ansehen geben. „Bald werden Flohmarkthändler so sexy sein wie Küchenchefs“, meint Boutmy und freut sich.

Charmant sind die engen, vollgestellten Gässchen.
Charmant sind die engen, vollgestellten Gässchen.(c) Paris Tourist Office

Events sorgen dafür, dass die Besucher immer wieder kommen und Neues entdecken dürfen. Im vergangenen Jahr feierte der hippe Fooding Guide hier seinen 15. Geburtstag, und die Kunstmesse FIAC konfrontierte zeitgenössische Kunst mit Antiquitätenhandel in einem spannungsreichen Dialog. Im Juni schließlich feierte Paul Bert sich selbst: 70 Jahre alt wurde der Markt und schaffte es erneut, die Bussi-Bussi-Gesellschaft von Tout-Paris hinter die Stadtautobahn zu locken.

Die Dynamik von Paul Bert Serpette strahlt aus. An den Eingang des Marktes schmiegt sich das Restaurant Ma Cocotte; hier schuf Philippe Starck aus allerlei verbauten Trödelobjekten eine gestalterische Zwiesprache mit der Umgebung. Sogar die Karte weist in die Vergangenheit: Gekocht werden „Kindheitserinnerungen an ein sonntägliches Mahl bei der Großmutter“, sagt die Saalchefin und wangenküsst einen Stammgast. An der Rue des Rosiers Nummer 77 öffnet sich ein unscheinbares Tor in einen Fabrikhof, der auch in Berlin-Neukölln oder im Londoner Eastend stehen könnte: Die Bar aus Europaletten nennt sich Sonnenkönig und serviert Craft Beer zu Burgern. Und in den grauen, aufgegebenen Hallen stellt die Galerie Untilthen zeitgenössische Kunst aus, Habitat 1964 präsentiert seinen eigenen Retrocharme, und der Éclaireur macht seinem Namen alle Ehre und erleuchtet den Kunstsuchenden mit ausgesuchten Designeinzelstücken. Bald können Besucher sogar für einige Tage in diese Parallelwelt eintauchen: Im Herbst soll das MOB Hotel von Mama-Shelter-Gründer Cyril Aouizerate eröffnen: Mit einer 7000-Bände-Bibliothek, einem Meditationsraum, mit Freiluftkino und Gemüsegarten wird es laut dem Initiator kein schierer Übernachtungsort, sondern eine „geträumte Republik“ sein.

Recyclerie. Auf dem Rückweg können wir selbst an der wilden Porte de Clignancourt den Geist des Ortes erkennen: Die Recyclerie ist in den Bahnhof am längst aufgegebenen Pariser Eisenbahngürtel Petite Ceinture eingezogen und hat mit ihrem Konzept aus Restaurant-Kooperative, Urban Gar­dening, Reparaturstation und Kulturzentrum in der Hauptstadt Kultstatus erlangt. Dort sitzen wir an einem der Resopaltische, nippen an einem fair gehandelten Grüntee und schauen sinnend auf Gemüsegärten, Bienenstöcke und Hühnerställe längs der grasüberwachsenen Gleise. Draußen am Abgang zur Métro wird uns wieder ein Smartphone angeboten. Das neueste Model. Roségold. Vielleicht sollten wir doch einmal fragen, was so ein Ding kostet.

Tipps

Geräumig Die „Bazar“ von Balenciaga bietet Platz für spontane Fundstücke und brilliert selbst in Flohmarkt-Optik. balenciaga.com

Exakt Praktisch wenn man das neue Lieblingsstück vor dem Kauf genau begutachten will. lupencenter.at

Der Flohmarkt erstreckt sich zwischen Stadtautobahn und dem Zentrum von Saint-Ouen und besteht aus vierzehn eigenständigen Märkten. Métro-Linie 4 zur Porte de Clignancourt oder Linie 13 bis Garibaldi. marcheauxpuces-saintouen.com

Paul Bert Serpette; 106, Rue des Rosiers, Saint-Ouen. Geöffnet freitags von 8 bis 12, samstags von 9 bis 18, sonntags von 10 bis 18 Uhr und montags von 11 bis 17 Uhr. paulbert-serpette.com

Essen:
Restaurant Ma Cocotte
106, Rue des Rosiers, Saint-Ouen. macocotte-lespuces.com

Entrepôts Steinitz
In einem aufgelassenen Fabrikhof an der Rue des Rosiers Nummer 77 liegen leibliches, geistiges und ästhetisches Wohl nahe beieinander: die ephemere Bar Sonnenkönig, die Designläden Habitat 1964 (habitat.fr/vintage) und L’Éclaireur (leclaireur.com) und die Galerie Untilthen. (untilthen.fr).

La Recyclerie an der Porte de Clignancourt ist mit dem Begriff Restaurant nur unvollständig beschrieben. Selbst schauen. 83, Boulevard Ornano, Paris. larecyclerie.com

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