Bayern: Wo Schnaps noch Schnaps ist

Minus  zehn Grad.  In dieser Saukälte dampft der heiße Schädel.
Minus zehn Grad. In dieser Saukälte dampft der heiße Schädel.(c) Jürgen Stein
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Weich und makellos wie ein Kuss schmecken die Edelbrände der Kleindestillen in den Bayerischen Voralpen, besonders, wenn man tagelang durch den Tiefschnee stapft.

Erster Tag: Ein Mann muss Ziele haben! Meines lautet: die besten Schnapsbrenner der Bayerischen Alpen aufzuspüren – Zauberer, die an ihren Brennblasen mönchischen Forschungsdrang mit Können verbinden und abseits der Hochprozent-Massenware nach der Essenz des Schnapses forschen. Deswegen stapfe ich auf Schneeschuhen durch das Lainbachtal – vorbei an bizarren Eis-Stalaktiten und umgestürzten Tannen. Zuvor habe ich mir im nebligen Klosterhof von Benediktbeuern als Reiseausstattung eine Flasche „Klosterbrannt aus Äpfeln und Birnen“ gekauft, in der Dorfmetzgerei ein paar Kaminwurzen und Leberkässemmeln. Ein Einheimischer hat mir als Route den Weg über die Brandenberger Hütte empfohlen, also marschiere ich weiter in dem engen, schaurig-schönen Tal unter der Benediktenwand. Der Lainbach blubbert unter den Eisschollen, alle hundert Meter versperren umgestürzte Tannen den Weg. Bloß leider herrschen in diesem lichtlosen Tal minus zehn Grad – mir ist jetzt schon saukalt, mein Kopf dampft wie ein Suppenkessel. Ich bin über meinen Daunenanorak heilfroh – dabei hat mir der Sporthausverkäufer ursprünglich zu einer hauchdünnen Windstopperjacke geraten.

Weiße Pracht. Ziemlich anstrengend, das Stiefeln durch den Schnee.
Weiße Pracht. Ziemlich anstrengend, das Stiefeln durch den Schnee. (c) Jürgen Stein

Gott sei Dank, der „Klosterbrannt“. Nach zwei Stunden Marsch kommt die böse Überraschung: Hinter der Söldner-Alm liegen mehr als zwei Meter Schnee, der steile Pfad ist ohne jegliche Fußspuren. Durch die Schneemassen und das Gestrüpp des Unterholzes schinde ich mich 150 Höhenmeter hinauf, in der Hoffung, irgendeinen Überblick zu gewinnen. Meine Schneeschuhe sind in diesem Terrain völlig unbrauchbar, im Unterholz ist kaum Platz zum Treten. Um drei Uhr nachmittags sinkt die Sonne wie in einem Psychothriller, ich hab seit zwei Stunden kein Handynetz mehr, und auch das Marterl an der letzten Alm – Zur Erinnerung an Schäfflermeister Johannes Schneider, welcher hier am 19. 11. 1909 verunglückte und am 1. 8. 1910 tot aufgefunden wurde – macht mir nicht gerade Mut. Ich kehre wieder um, und auf dem Weg zurück haut es mich so stark auf den Hintern, dass der Reißverschluss meines Rucksacks platzt. Gott sei Dank ist der „Klosterbrannt“ nicht beschädigt, mit dem ich mich abends im Hotel tröste.

Zweiter Tag: Neues Spiel, neues Glück. Immer noch herrscht eine Schweinekälte, aber zumindest ist der Himmel knallblau. Um den Lainbach zu umgehen, benutze ich diesmal den Forstweg über den Bergrücken Lissabona, so genannt, weil beim Erdbeben von Lissabon 1755 hier der Hang abrutschte. Eine Schneeraupe hat eine Spur gelegt, es geht flott voran, Schneeschuhe sind gar nicht nötig. Von den Tannen rieselt es weiß herunter, und man hat einen herrlichen Ausblick auf den Herzogstand und die verschneiten Gehöfte der Voralpen. Nach drei Stunden Marsch (keine Beschilderungen) geschehen beunruhigende Dinge: Die Raupenspur führt plötzlich steil nach unten, und es wachsen Berge aus dem Boden, die auf der Karte nicht sichtbar sind. In Ermangelung anderer Alternativen folge ich rutschend der Spur, nach 100 Höhenmetern Verlust wird an einem halb vereisten Fluss allerdings klar, dass dies nicht der richtige Weg sein kann.

Hochprozentig. Schnapsbrenner Alois Willibald vor seinem Lager.
Hochprozentig. Schnapsbrenner Alois Willibald vor seinem Lager. (c) Jürgen Stein

Ein einäugiger Jäger in einem Toyota-Jeep am anderen Ufer klärt mich auf, dass der richtige Weg oben durch eine Lichtung führt, aber ungespurt ist. Ich kämpfe mich durch und finde den Durchstich, bis zur Hochtanner­stubn sind es allerdings noch drei Stunden Fußmarsch. Hier erreiche ich das Gehöft des ersten Schnapsbrenners, Alois Willibald, der in der Gegend wohlbekannt ist. Herr Willibald, ein mundfauler Mann, bittet mich in seinen Schuppen mit dem alten, imposanten Kupferbrennkessel und kredenzt mir eine der rarsten Spezialitäten der Alpen: Vogelbeerschnaps, die Königsklasse unter den Destillaten, aber auch ein Sorgenkind. Denn Vogelbeeren besitzen kaum Zucker und werfen deshalb nur wenig Alkohol ab – ganz zu schweigen davon, dass man sie nach dem ersten Frost pflücken und in mühevoller Handarbeit schonend abrebeln muss, weil sie sonst bei der Gärung Blausäure produzieren. Doch ungeachtet all der Schwierigkeiten schmeckt Willibalds Vogelbeerbrand mit einer Spur von Zimt und Bittermandel so einzigartig, dass er der Winterdämmerung fast etwas Mystisches verleiht.

Dritter Tag. Um auf Nummer sicher zu gehen, rufe ich am Morgen den örtlichen Alpenverein an, ob der Pfad jenseits des Stinkergrabens begehbar ist. Der Mitarbeiter muss bei der Frage leider passen, vermutlich weiß er auch nicht, ob hinterm Stinkergraben nicht schon längst Wesen mit Hundeköpfen, Schweinsohren und Feueratem wohnen. Von Lenggries aus stapfe ich also wieder den Berg hoch, der Kürze und Einfachkeit halber mit aufgeschnallten Schneeschuhen Richtung Lenggrieser Hütte. Das Wetter ist überraschend föhnig geworden, von meinen Haaren tropft bald der Schweiß. Hinter der Lenggrieser Hütte gibt es neue Probleme, weil die „Topographische Karte des Bayerischen Landesvermessungsamts“ Forststraßen als Trampelpfade und Steige als Chausseen einzeichnet, und weil die Abzweigung zum Stinkergraben so zugeschneit ist, dass nicht einmal mehr das Schild aus den Schneemassen ragt. Ich kann es nur vom Luftzug über das Joch mutmaßen, dass hier der Durchschlupf sein muss. Im Sommer ist der Stinkergraben für seine Schwefelquellen bekannt, jetzt im Winter ist nichts von dem Gestank zu bemerken. Auch der Weg durch den Korridor des Stinkergrabens ist im tiefen Schnee ein Graus, und die Forststraßen bis zum Durchstoß auf die andere Seite des Hirschbergs ziehen sich nochmals mehrere Stunden.

Raus aus dem Stall!  Die Rinder auf den Höfen im Mangfallgebirge gönnen sich ein Sonnenbad.
Raus aus dem Stall! Die Rinder auf den Höfen im Mangfallgebirge gönnen sich ein Sonnenbad. (c) Jürgen Stein

Randvoll. Mein Ziel ist das Almgasthaus Café Aibl direkt am Osthang des Hirschbergs. Sein Besitzer, Schorsch Ertl, ein stämmiger Jäger mit verschmitztem Lächeln, brennt seit 1974 Schnaps auf diesem seinem Hof, die Lizenz hat er von seiner Tante abgestaubt. Jetzt im Winter sind Ertls riesige Maische-Bottiche bis obenhin mit Fruchtmus gefüllt und blubbern und zischen vor sich hin, während die Hefe den Zucker in Alkohol umwandelt. Ertl freut sich, bald kann er seinen Kupferkessel einheizen, um 14 Tage am Stück zu brennen – Marillen aus der Wachau, Äpfel vom Bodensee und Williamsbirnen aus Italien: „Früher war Schnapsschmuggel hier ein Wirtschafts­faktor“, erzählt er, „die Inspektoren sind nachts um die abgedunkelten Schuppen herumgeschlichen, um die Bauern beim Schwarzbrennen zu erwischen. Mit den Schnäpsen hat man sogar die Wunden des Viehs behandelt.“

Auch heute noch fällt bei der Schnapsherstellung etwas für die Tiere ab: Das ausgebrannte Fruchtmus verfüttert Ertl an die Hirsche, die aus dem Wald herabsteigen. Der größte Nutznießer ist allerdings der Mensch: Denn der sogenannte Meisterwurz, den Ertl ausschenkt, ist ein wahres Kraftpaket. Gebrannt aus einem Tiroler Bergkraut schmeckt dieser Schnaps so knorrig und belebend wie das Elixier eines Fantasy-Romans. Obwohl ich neun Stunden durch die Kälte gestapft bin, möchte ich aufspringen, um Ertl auf seine Jagdhütte zu begleiten.

Mild. Willibald, ein mundfauler Mann, kredenzt Vogel­beerschnaps.
Mild. Willibald, ein mundfauler Mann, kredenzt Vogel­beerschnaps. (c) Jürgen Stein

Vierter Tag. Die Überquerung der tief verschneiten Gindel­almschneid ist wunderschön, man hat einen majestätischen Ausblick auf den bleigrauen Tegernsee, über dem ebenfall bleigraue Winterwolken liegen, aber noch schöner ist der Abstieg zum Bauernhof der Familie Liedschreiber, die in ihrem Schuppen eine Edeldestille eingerichtet hat. Stolz präsentiert Andreas Liedschreiber seine ultramoderne 36.000-Euro-Brennblase, mit der er zehn verschiedene Brände destilliert, von denen einige preisgekrönt sind. Seine Frau widmet sich der „weiblichen“ Seite alkoholischer Produktion und setzt Liköre und Geiste an – stattliche 17 Sorten, etwa den köstlichen Haselnussgeist. Doch ich entscheide mich dafür, auf der Terrasse mit dem Hausherrn einen Quitten-Brand zu trinken, im Maulbeerfass gereift, der so weich und makellos wie ein Kuss schmeckt. Und während ich vor dem Holzschindelhaus dem Schnaps zuspreche und an die überstandenen Abenteuer der Reise denke, reißt die bleigraue Wolkenschicht über dem Tegernsee auf und gibt für Sekunden eine strahlende, triumphale Sonne frei, die all die Bergketten in gleißendes Licht taucht, hinter denen Hunderte und Hunderte von Brennern ihr großartiges Werk verrichten.

Tipp

Tipp: Die Tour ist weit ungefährlicher im Frühjahr. Bei starken Schneefällen ist die Etappe durch den Stinkergraben kaum zu schaffen. Es gibt auch verschiedene lawinengefährliche Passagen. Und es sind sehr lange Wege.

Kloster Benediktbeuern (Klosterladen): Don-Bosco-Straße 1, 83671 Benediktbeuern. Tel.: +49/8857/88 110. Obstler „Klosterbrannt aus Äpfeln und Birnen“. Preis: 20 Euro. Diverse Liköre. Öffnungszeiten: 9-17 Uhr.

Brenner Alois Willibald: Lehen 4, 83646 Wackersberg (bei Bad Tölz). +49/8041/6449. Saisonale Schnäpse. Vogelbeer-Brand. Preis: Flasche (0, 7 Liter) zwischen 20 und 30 Euro. Öffnungszeiten: Termin nach Vereinbarung.

Unterkunft: Benediktenhof: Alpenbadstraße 16, 83646 Wackersberg, +49/8042/91470,
benediktenhof.de.

Almgasthof Aibl: Berghaus 49, 83708 Scharling (bei Kreuth). +49/8029/437,
info@aibl.de.

Obst-Brand. Meisterwurz-Brand. Marillen-Brand, je nach Saison. Preis: Flasche (0,5 Liter) zwischen 26 und 30 Euro. Öffnungszeiten: 12–14 Uhr und 18–21 Uhr. aibl.de

Unterkunft: Gästehaus Becher: Thomas-Baumgartner-Weg 2, 83708 Kreuth­
Tel.: +49/08029-435
hausbecher.de.

Edelbrand-Destillerie Liedschreiber, Schafstatt 1, 83703 Gmund am Tegernsee. +49/8022/75412. Sauerkirsch-Brand, Quitten-Brand, Boskoop-Apfel-Brand, Zwetschgen-Brand. Preis: Flasche (0,5 Liter) zwischen 26 und 36 Euro. Öffnungszeiten: Termin nach Vereinbarung. Besichtigung jeden Freitag um 15 Uhr.
liedschreiber.com

Unterkünfte
Schweinberghof: Schweinberg 1, 83703 Gmund am Tegernsee, Tel.: +49/8022-75930.
Jaudenhof in Lehen, Familie Seidl, +49/8041-8874; info@waldherralm.de

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