Nordseeurlaub: Weckt mich, wenn es nass wird

Im Winter kehrt Ruhe auf der Hallig Nordstrandischmoor ein. Die einzige Verbindung mit dem Festland ist ein schmaler Steindamm mitten durchs Wattenmeer, auf dem Schienen verlegt sind.
Im Winter kehrt Ruhe auf der Hallig Nordstrandischmoor ein. Die einzige Verbindung mit dem Festland ist ein schmaler Steindamm mitten durchs Wattenmeer, auf dem Schienen verlegt sind. Imago
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Auf der Hallig Nordstrandischmoor leben 24 Menschen. Kein Supermarkt, kein Arzt, kein Kino. Im Winter sind sie oft tagelang durch die stürmische Nordsee von der Außenwelt abgeschnitten.

Ruth Hartwig-Kruse wirft den Dieselmotor der hölzernen Lore an. Enkel Kjell löst die Bremse, die Sitzbank auf Rädern setzt sich in Bewegung. Sie erklimmt den Deich, den Hänger mit dem Großeinkauf im Schlepptau. „Ab Herbst ist Saison für Land unter. Dann sind wir manchmal mehrere Wochen von der Außenwelt abgeschnitten“, erklärt Ruth die Menge der Lebensmittel. Mit der Lore wird alles transportiert: vom Weihnachtsbaum und Getränken über das neue Sofa bis hin zu Feriengästen. Kjell stellt eine Weiche, dann geht es auf einem schmalen Steindamm 15 Minuten mitten durch das Wattenmeer. Eis und frischer Schnee verzieren den blanken Meeresboden. Bei Flut liegen die Schienen unter Wasser. Ruth ist dick verpackt. Unter der Kapuze ihrer Windjacke wehen Strähnen ihrer braunen Haare im eiskalten Westwind. Mit zusammengekniffenen Augen blickt sie direkt in die Sonne. Vor ihr heben sich fünf Häuser auf vier Hügeln vom Horizont ab: Nordstrandischmoor, eine Hallig (Marschinsel) im nordfriesischen Wattenmeer.

Ein Haus für vier Generationen

Das Watt geht über in Salzwiesen, die von Gräben durchzogen sind. Ruth steuert die Lore zur Neuwarft, dem „Winterbahnhof“. Warften heißen die künstlichen Erdhügel, auf denen die Häuser der Halligbewohner stehen. Hier sind die Loren vor den Fluten der rauen Wintersee sicher. Vor dem grünen Hügel parkt eine kleine rotgelbe Lokomotive. An der Haltestelle wartet Ruths Traktor. Die Einkäufe, darunter die ersten Weihnachtsgeschenke, werden auf den Anhänger umgeladen. Der Matsch des Marschbodens fliegt in alle Richtungen, als sie voll beladen über den einzigen Teerweg zu ihrer Warft im Westen fahren. Hier wohnen Ruth mit Sohn Erik (16) sowie Ruths Mutter, Frieda (89). Auch der zweite Sohn, Nommen (28), lebt hier mit Frau Steffi und den Kindern, Kjell (10), Emma (2) und Leif, der als jüngster Halligbewohner erst im November das Licht der Welt erblickte. Insgesamt leben vier Generationen in einem Haus, das auch noch zwei Ferienwohnungen hat.

Früher wohnten auf der Hallig über 120 Menschen, heute 24. Kein Arzt, kein Supermarkt, nicht einmal ein Kiosk. Die einzige Gaststätte hat nur im Sommer geöffnet. Die Tageszeitung kommt mit der Post, im Winter nur dreimal in der Woche. Bei Land unter gar nicht. Rund 40 Mal im Jahr läuft die Hallig voll wie eine Suppenschüssel. Einzig die vier Warften ragen dann wie kleine Inseln aus dem tobenden Meer hervor. „Bei Land unter läuft alles ganz routiniert ab“, erklärt Ruth. „Tiere in den Stall bringen und die Fenster mit stabilen Luken verrammeln. Und warten, bis das Wasser wieder abfließt.“ Die Schule ist nicht erreichbar, frei haben die Kinder trotzdem nicht. Lehrer Andi Kellerman gibt ihnen telefonisch oder per E-Mail Aufgaben durch, die sie selbstständig erledigen können.

„Ich brauche keinen Trubel“

Inzwischen hat sich Nommen für die Arbeit umgezogen: Latzhose, Weste, Gummistiefel. Wie alle männlichen Halligbewohner außer Kellermann ist er beim Landesamt für Küstenschutz Nationalpark (LKN) angestellt. Gleich nach der Halligschule ging er in die Ausbildung zum Wasserbauwerker und erfüllte sich seinen Traum vom Leben auf der Hallig. Großes Glück hat er mit seiner Frau Steffi, die vom Festland zu ihm gezogen ist. Als Nommen über den tiefen, feuchten Marschboden auf die Nordseite der Hallig stapft, ist er nicht allein. Sein Bruder, Erik, hat seine Ausbildung zum Wasserbauwerker auf der Hallig begonnen. Heute kümmern sich die Männer um einen „Igel“, einen Steinwall, der die Hallig davor schützen soll, vom Meer abgetragen zu werden.

„Das ist eine typische Winterarbeit, im Sommer sind wir viel mit den Booten draußen, um an den Lahnungen zu arbeiten“, erklärt Nommen. Eine Lahnung besteht aus zwei Pfahlreihen, zwischen die Bündel aus Stroh, Ästen und Reisig gestopft werden. Wenn das Meer bei Ebbe abfließt, bleibt Schlick zurück. Der Meeresboden wächst. Irgendwann ist hier Land. Über vier Millionen Euro investiert das Land pro Jahr in den Halligschutz. Die Halligen dienen als Wellenbrecher. Ohne sie wären die Sturmflutschäden auf dem Festland gravierender. Die Männer wärmen sich am kleinen Ofen ihres Pausenwaggons. Sechs Thermoskannen mit Tee, ohne Schuss: „Klönschnack“. Die Männer kennen sich gut, es wird gestichelt – auf Platt. Auf der Hallig ist der Boden feucht und der Humor trocken.

Nach der Pause schleppen sie wieder die bis zu einen Zentner schweren Steine an die richtige Stelle auf dem Kieshügel und setzen sie nebeneinander. Nommen weiß die Knochenarbeit zu schätzen: „Das ist das Schöne: Wir verdienen Geld und schützen gleichzeitig unseren Lebensraum.“ Auch Erik ist zufrieden: „Ich brauche keinen Trubel, mein Bier trinke ich am Wochenende mit Kumpeln. Hier gibt es Wind, Wasser und Freiheit. Hier gehöre ich hin.“

Über mangelnde Beschäftigung kann Ruth nicht klagen. Sie kümmert sich um die Vermietung der zwei Ferienwohnungen und den kleinen Hof. „Langeweile kenne ich nicht.“ Die robuste Frau lässt die Schafe auf die Salzwiesen, um den Stall auszumisten. „Als Halligfrau lernt man früh, sich durchzusetzen und alles selbst zu machen“, sagt die gelernte Tischlerin. Ihre große Ferienwohnung ist rund 150 Tage im Jahr belegt, die kleine etwas seltener. „Im Sommer könnten wir sie dreifach vermieten, aber nach den Herbstferien wird es ruhig. Dann bleibt Zeit für Dinge, die wir im Sommer einfach nicht schaffen.“

Ein Moped nähert sich der Warft. Die Post. Wenig später steht August Glienke auf dem Hof. Im Sommer fährt er jeden Tag mit seiner Lore auf das Festland, holt sein Auto aus der Garage und die Briefe aus Nordstrand. Ein Postzimmer gibt es nicht auf seiner Warft, nur ein gelber Briefkasten hängt einsam am Zaun. Aufschrift: „Leerung tideabhängig“. Glienke hat noch zwei Jobs: Für den Küstenschutz vertreibt er Maulwürfe von den Deichen, und im Sommer ist er Wirt des Halligkrogs, der einzigen Gaststätte auf Nordstrandischmoor. Insgesamt kommen im Jahr 9000 Tagesgäste auf die Hallig, bei Ebbe die Wattwanderer, bei Hochwasser die Touristen mit dem Schiff.

Die Sommermonate sind die beste Reisezeit für Hallig Nordstrandischmoor
Die Sommermonate sind die beste Reisezeit für Hallig NordstrandischmoorImago

Jeder brauchte früher jeden

Das Wichtigste auf der Hallig ist eine stabile Gemeinschaft. Früher, als die Landwirtschaft noch hauptberuflich betrieben wurde, war sie überlebenswichtig, jeder brauchte den anderen für die Ernte. Der Tourismus hat dafür gesorgt, dass die Bewohner auch ohne gegenseitige Hilfe auskommen können. An Geburtstagen werden aber oft alle Nachbarn eingeladen. „Früher hat es noch einen Strickklub und eine Skatrunde gegeben, doch das ist ein wenig eingeschlafen, seit der neue Damm 2001 fertig geworden ist“, erklärt Nommen, als er am frühen Nachmittag nach Hause geht. „Jetzt kommt man schneller auf das Festland, wo jeder Bekannte hat und seinen Hobbys nachgeht. Ich sehe meine Nachbarn ja ohnehin bei der Arbeit acht Stunden lang, da müssen wir uns abends nicht noch zum Bier treffen.“

Als er nach Hause kommt, sind Steffi und die Kinder schon weg. Auf das Festland. Dort holt Steffi das Auto aus ihrer Garage. Steffi gibt Gas, um Kjell pünktlich zu den Junior-Rangern zu bringen. Dann fährt sie mit Emma und Leif zu ihren Eltern. Steffi und Nommen finden es wichtig, Kontakt zu Kindern und Müttern auf dem Festland zu haben. Sie fahren, so oft es Wetter und Gezeiten zulassen. Doch im Winter müssen die Kinder oft Abstriche machen. Kjell verzieht das Gesicht: „Im vergangenen Jahr konnte ich von November bis Mitte Januar keinmal zu den Junior-Rangern, weil ausgerechnet immer Land unter war.“ Auch die Bescherung vergangene Weihnachten wäre fast ins Wasser gefallen.

„Wenn ich auf das Festland kam, hatte ich immer viele Termine und kaum Zeit zum Einkaufen“, sagt Ruth. „Zum Schluss griff ich einfach zu.“ Dieses Mal habe sie etwas mehr Glück gehabt – und alle Geschenke schon beisammen. Doch genau diese Unberechenbarkeit fasziniert Ruth: „Hier gibt die Natur den Terminkalender vor. Wir leben die Jahreszeiten ganz bewusst.“ Man dürfe das Meer nicht als Feind sehen.

Am Abend sitzt die ganze Familie am Tisch zusammen und plant ihr Weihnachtsfest. Alle werden gemeinsam auf der Warft feiern, nur der Baum fehlt noch. Aber er ist schon reserviert und muss nur noch mit der Lore vom Festland hinübertransportiert werden. Auch Ruths Mutter, Frieda, ist aus dem Wohnzimmer gekommen. Sie sieht wesentlich jünger aus als ihre 89 Jahre und hat ihr ganzes Leben auf der Hallig verbracht. Bis in die 1970er-Jahre ohne Strom, elektrisches Licht und Wasserleitung. Und immer wieder mit starken Sturmfluten.

Wasser und Schlamm

„Am grausigsten war die Flut von 1936. Die Wellen haben Teile der Warft weggerissen, die Haustür eingeschlagen und die Möbel ruiniert. Unsere Tiere standen bis zum Bauch im Wasser, wurden krank und starben.“ Trotzdem: Nur einmal hatte Oma Frieda die Nase voll vom Halligleben: „1976 hat die Flut die Tapeten von den Wänden gerissen, Wasser und Schlick haben alles ruiniert. Da dachte ich kurz: ,Ich gehe.‘“ Doch sie ist geblieben. Wenn die Medien eine schwere Sturmflut vorhersagen, bleibt sie wach. Wie beim Orkantief Kyrill im Januar 2007. Doch irgendwann hatte Frieda keine Lust mehr zu warten. „Ich gehe jetzt schlafen“, sagte sie zu ihrer Tochter, „weckt mich, wenn es nass wird.“ Es gab nur ein „harmloses Land unter“: vier kleine, grüne Inseln im weiten Meer.

Tipps

Anreise: Bahnreisende steigen in Husum oder Bredstedt aus. Mit dem Auto kann man bis Beltringsharderkoog fahren. Nach Absprache wird man von den Gastgebern dort abgeholt.

Wohnen: Ruth Hartwig-Kruse vermietet zwei Ferienwohnungen. Mehr Infos unter www.norderwarft.de.

Essen: Der Halligkrog bietet in den Sommermonaten (oder nach Absprache) regionale Spezialitäten. Tel.: 04842/361.

Weitere Infos über die Halllig sowie Tagesausflüge gibt es unter www.nordstrandischmoor.de oder www.halligen.info.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2016)

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