Livigno: Piccolo Tibet

(c) Roby Trab
  • Drucken

Nicht nur hoch, sondern auch höchst abgelegen: Nach Livigno führt ein einspuriger Tunnel. Aber wenn man da ist, spart man Zoll und reizt alle möglichen Sportarten aus.

Normalerweise scheint die Anreise in ein Skigebiet dramaturgisch keiner großen Erwähnung wert, außer für Naturromantiker, Alpenforscher oder Geografen. Diese Zufahrt hat aber schon große Klasse: Gut erreichbar ist Livigno im Winter eigentlich nur durch einen spektakulären Tunnel, der sich einröhrig und roh behauen 3,5 Kilometer durch den Berg fräst. So warten die Autofahrer beim Kassenhäuschen in beide Richtungen jeweils ein Weilchen, bis die eine Kolonne herauskommt und die nächste unter den monströsen Gipfeln der Livigno-Alpen hindurchtauchen kann. Dieser Munt-la-Schera-Tunnel wurde von der Engadiner Kraftwerksgesellschaft in den frühen Sechzigern errichtet, allerdings mit dem primären Ziel, den Betrieb der Staumauer Punt dal Gall zu sichern. Doch dieser Tunnel darf laut Sonderschutzkommission auch Dritten zur Verfügung gestellt werden – sprich: den Touristen, die von Norden, vom schweizerischen Engadin (beziehungsweise dann weiter aus dem Tiroler Inntal kommend), in diese sehr entlegene Ecke Italiens beziehungsweise der Lombardei reisen.

Kehren. Tourengehen war immer ein Thema. Mittlerweile ist es chic geworden.
Kehren. Tourengehen war immer ein Thema. Mittlerweile ist es chic geworden. (c) Roby Trab

Auch die Landschaft, in die man dann aus diesem engen Tunnel von der Schweiz nach Italien heraussticht, spielt großes Kino. Wie ein sehr, sehr langer Streifen legt sich der Lago di Livigno, der See des aufgestauten Spöl, kurvig um die monumentalen Dreitausender. Die Szenerie hat mehr die Anmutung eines riesigen Fjords denn eines gefluteten inneralpinen Tals. Wasserfälle verschwinden unter bizarren Türmen, und auf den Schuttkegeln, über die sich das Wasser seinen Weg in den Stausee gebahnt hat, spannen sich jetzt dicke Eispanzer. Bunte Ameisen klettern darauf herum – Eiskletterer, die diese schockgefrostete Gegend für ihre Gelegenheiten schätzen. Mit Eispickel und Gurten marschieren sie an Stellen hinauf, die latente Höhenangst triggern.

Schließlich landet der Winterurlauber in einem Ort, der ebenfalls aus dem üblichen Skizirkus-Setting herausfällt: Wenige Dörfer in den Alpen liegen so hoch (1816 Meter, das dazugehörige Trepalle auf 2250 Metern) und ziehen sich so in die Länge – nämlich mehrere Kilometer. Das rechtfertigt gleich mehrere (kostenlose) Buslinien, um sich bequem herumzubewegen. Denn man müsste schon eine längere Wanderung auf dem verschneiten Radweg in Kauf nehmen, um von der größeren Hotelsiedlung am Ortsausgang zur neuen Wellnessanlage Aquagranda am anderen Ende zu kommen. Freilich: Ein Zentrum hat das Straßendorf Livigno schon, sogar ein ziemlich lebendiges, hübsches. In der Fußgängerzone stehen einzelne alte Steinhäuser mit mondänen Boutiquen, holzverschalte Objekte mit schicken bis urigen Lokalen, kleinere Neubauten mit frequentierten Dutyfreeläden. Es wirkt auf eine lässige Art putzig. Auf eine italienische Art sehr alpin.

Speichen. Neu ist der Hype, mit fett bereiften Bikes durch den Schnee zu pflügen.
Speichen. Neu ist der Hype, mit fett bereiften Bikes durch den Schnee zu pflügen.(c) Roby Trab

Privilegiert seit 200 Jahren. Entscheidend dazu beigetragen hat vor allem eines: Livigno ist zollfreie Zone (auch damit hat die Gemeinde einen Sonderstatus), seit unter Napoleon 1805 beschlossen wurde, die Abgeschiedenheit der Gemeinde derart zu kompensieren. Schon früh funktionierte dieses Gebiet zwischen Bündner und Veltliner Einflusssphären relativ autonom. Wo hätte man denn auch hinsollen, wenn im Winter jede Verbindung nach draußen versperrt war und erst 1951 die Straße über den Passo Foscagno nach Bormio kam? Naheliegend entwickelt sich da eine ganz eigene Dynamik des Aufeinander-angewiesen-Seins und Miteinander-auskommen-Wollens, sodass das Dorf wie ein großes Family-Business funktioniert. Die Bewohner bleiben, weil im Handel und im Tourismus viel zu tun ist, zumindest im Winter. Auch heute ist der Weg hinaus recht weit und kurvig. Was für den Skiurlauber bedeutet: Ist er einmal da, bleibt er länger, jedenfalls der von fern angereiste Österreicher. Vertreibt sich die Zeit nicht ­­nur am Berg, sondern auch im Tal mit italienischem Essen, Spritz- und Barolotrinken, Party, wenn’s denn sein soll – und mit Shopping. Groß ist das Angebot an Kosmetik, Spirituosen, Fashion sowie Sportartikeln, die man ­­hier alle ausprobieren kann, nachdem das Pistenskifahren nicht mehr das allein Seligmachende zu sein scheint.

Bewohner. Nur dass es klar ist: Livigno liegt in Italien, als EU-Zollausschlussgebiet.
Bewohner. Nur dass es klar ist: Livigno liegt in Italien, als EU-Zollausschlussgebiet.(c) Madeleine Napetschnig

Über die Piste hinaus. Freerideski oder zumindest Allmountainmodelle wird man hier zum Beispiel sehr gut gebrauchen können, wenn die Schneelage passt. Die geprüften Skiguides in Livigno sind abgestellt auf Ausflüge in den Tiefschnee und den Firn, manchmal ausgehend von den beiden großen Skigebieten namens Mottolino und Carosello 3000. Manchmal aber steigen sie mit den Fortgeschrittenen etliche Höhenmeter auf und fahren in das unberührte Tal ab, das hinter dem Skigebiet liegt. Eine stille, fast baumlose Landschaft, an deren Ausgang solche originellen Hütteneinkehren wie das Tea da Memi stehen. Ein eigenes Areal, wo’s niemanden oder die wenigsten stört, wurde darüber hinaus zum Heliskiing-Gebiet deklariert. Dort wird man mit den Renncarvern, die sich auf den 115 präparierten Kilometern der beiden Skiberge bewähren, freilich nichts ausrichten können, sondern nur mit Equipment, das man sich hier auch ausleihen kann. Neu ist auch das Skitourengehen in Livigno nicht, wobei man sich vor Augen halten muss, in sehr großen Höhen, auf starken Neigungen und bei dementsprechenden Temperaturen unterwegs zu sein, das Gebiet heißt bei den Locals nicht umsonst Piccolo Tibet.

Substanz. Die 6400-Einwohner-Gemeinde  hat dörflichen Charakter.
Substanz. Die 6400-Einwohner-Gemeinde hat dörflichen Charakter.(c) Madeleine Napetschnig

Man könnte natürlich auf dem breiten Talgrund bleiben und die 30 Kilometer langen Loipen testen. Beziehungsweise mit dem Fat Bike die ersten Runden im Flachen üben, bevor man sich auf einen eingeschneiten Winterwanderweg hinauf und hinuntertraut. Letztlich ist das Radfahren mit extrabreiten Reifen im Schnee ein Spaß, der sich, anders als manch gehypter Funsport, doch durchsetzen könnte. So wie sich auch das Schneeschuhwandern sehr schnell durchgesetzt hat – und in den Bergen von Livigno ein Thema ist. Es muss ja nicht jeden Tag auf die Piste gehen.

Info

Anreise. Ehrlich gesagt: Öffentlich ist es umwegig, um das Auto wird man nicht herumkommen, die Fahrt lohnt aber landschaftlich. Über Landeck geht es weiter ins Engadin bis zum mautpflichtigen Munt-la-Schera-Tunnel.

Einchecken. Ziemlich viele, eher kleinere Hotels unterschiedlicher Kategorien verteilen sich über das lange Dorf. Zentral und gemütlich mit Pizzeria wohnt man im Hotel Touring,
www.touringlivigno.com

Einkehren. Livigno hat eine ziemlich dichte Lokalszene mit Pubs, Trattorien, Clubs. Höchstes Bier in Europa gibt es in der Birrificio Linvigno, www.1816.it

Gut zum Frühstücken und Eindecken mit Milchprodukten: die Molkerei http://latterialivigno.eu

Sport. Skifahren in den Skigebieten Carosello 3000 und Mottolino. Freeriden und Heliskiing mit Guides. Fat Biken, Eisklettern, Schneeschuhwandern, www.livigno.eu

Event. Anfang April findet das Telemark-Festival „La Skieda“ statt, www.skieda.com

Die Reise wurde von Livigno unterstützt.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.