Korsika: Raues Kurvenwunder

Schroffe Felsen neben blühender Macchia, ein Gewehr neben Käse und Feigenmarmelade: Von Nord bis Süd wird die Insel Korsika ihrem Ruf gerecht, eine recht wilde Schönheit zu sein.

Melodramatisch dröhnt Rossinis Ouvertüre der Oper „Die diebische Elster“ aus den Lautsprechern, während die Fähre zielsicher in den Hafen von Bastia einläuft. Die dicht aneinandergebauten Häuser der korsischen Hafenstadt reflektieren das Abendlicht, das die Gegend weichzeichnet. Geschäftiges Treiben nah der Uferpromenade verleiht der friedlichen Szenerie auch eine mondäne Note. Dann schwenkt der Blick auf die Berge, die sich hinter dem sanft hügeligen Stadtbild schroff in die Höhe recken, nach rechts das Cap Corse bilden, sich zur anderen Seite als Hochgebirgskette bis weit in den Süden der Insel ziehen und den Anschein erwecken, als wären hier tatsächlich die Alpen ins Meer versetzt worden. Und schon ist die Ahnung da, dass am Ruf, der Korsika vorauseilt, viel Wahres ist: Korsika ist „Kalliste“, die Schönste, aber gleichzeitig die Wilde der Mittelmeerinseln.

Tierische Begegnung. In der Désert des Agriates trifft man Kühe am Strand.
Tierische Begegnung. In der Désert des Agriates trifft man Kühe am Strand.(c) Christoph Mayer

Raue Sitten, gute Nerven. „Die Insel erscheint als ein ungeheures Felsenskelett“, schrieb schon Ferdinand Gregorovius in seinen Reiseskizzen von 1852 über die Insel, deren verwegen-herrliche Erhabenheit es dem Historiker angetan hatte: „Sie ist eine schöne verzauberte Prinzessin.“ Bereits ihm wäre es zu schade gewesen, auf seinen Wanderungen nur die Küste zu erkunden. Obgleich diese mit Traumstränden aufwarten kann, die bis heute weitgehend unverbaut geblieben sind: Trotz der Besucherströme, die im Sommer auf die Insel schwappen, stehen hier noch mehr Wachtürme als Hotels, steinerne Überbleibsel aus der Herrschaftszeit der Genuesen. Korsika widersetzt sich der Eroberung durch den Massentourismus beständig. Dass dem Wunsch nach Unabhängigkeit von Eroberern – in der jüngeren Geschichte Frankreich, zu dem es seit 1769 gehört – in der Vergangenheit auch mit Anschlägen von Autonomiebewegungen wie dem FLNC nachgegangen wurde, trug wohl einen Teil zum klischeehaften Ruf der Bevölkerung bei: Korsen seien wild, stolz und unnahbar, fast Spiegel ihrer Landschaft. Schon Gregorovius wollte erkannt haben, dass nicht nur die Natur, sondern auch die Sitten rau sind. „Die Rache ist die Schicksalsgöttin der armen Korsen, sie macht ihre Lebensgeschichte“, erwähnte er – was sonst – die Vendetta: Eine Beschreibung Korsikas kommt seit jeher kaum ohne alte Geschichten von Ehrenmorden zwischen Familienclans aus. Auch Prosper Mérimées berühmte Novelle „Colomba“ beruht auf wahren Taten.

Freilich ist Korsika bei Weitem nicht allein mit Ehrgefühl, Unabhängigkeitsstreben und Banditen gleichzusetzen. Aber der Gedanke an die Vergangenheit fährt auf jedem Kilometer mit, der auf dem Tacho des Autos aufscheint. Das übrigens ist ein unverzichtbarer Reisebegleiter: Korsikas Straßen sind anders kaum zu bewältigen, sie sind steil, eng und kurvig. Nicht grundlos wirbt die Rallye Korsika mit 10.000 Kurven. So sollte man auch mit dem Pkw Zeit, gute Nerven und einen stabilen Magen mitbringen und sich vor Einheimischen in Acht nehmen, die Bergwege gern mit Schnellstraßen verwechseln, welche allerdings rar sind. Ein wenig auf Gregorovius’ Spuren – was heißt: quer über die Insel von Nord bis Süd – startet daher die Fahrt vom Hafen weg so, wie sie dann auch die restlichen Tage verlaufen wird: Das Auto kämpft sich einen gewundenen Weg bergauf. Doch die Höhen eröffnen grandiose Ausblicke und damit einen wohltuenden Ausgleich zum Straßenverlauf. Die Weinhänge von Patrimonio und die Hafenstadt Saint-Florent tauchen auf, fern lässt sich die Region Balagne mit dem hübschen Calvi erahnen. Eine Wohltat ist auch das Essen am folgenden Morgen, das das Gastgeberpaar Capone anbietet. Während die beiden Korsen stolz betonen, dass ihre ganze Familie – auch die Kinder, niemand hat die Insel für eine Karriere auf dem Festland verlassen, wie es heute bei der jungen Generation geläufig ist – im Umkreis wohnt, tischen sie in ihrer Unterkunft im Bergland des Départements Haute-Corse reichlich auf. Die Aniskekse Canistrelli aus der Dorfbäckerei, Honig aus den Flächen der Macchia, Kastaniencreme aus der Castagniccia; alles auf dem Tisch ist regional. Es scheint, als würde Patriotismus auf Korsika heute statt mit Bomben mit Nahrungsmitteln ausgedrückt, die stolz selbst hergestellt werden.

Blütezeit. Leuchtende Farben, betörender Duft – die Macchia und das Meer.
Blütezeit. Leuchtende Farben, betörender Duft – die Macchia und das Meer.(c) Christoph Mayer

Prägender Geruch. So auch der Käse: Auf dem Tisch reihen sich korsische Sorten aneinander, dabei darf der milde Brocciu aus Schafs- oder Ziegenmilch nicht fehlen. Er wird pur, aber auch zu allen möglichen Gerichten verarbeitet gegessen, schmeckt als Füllung in Cannelloni und in Kuchenform als Fiadone. Auch intensive Sorten finden den Weg auf die Teller, sie sind nicht immer kompatibel mit Festlandnasen, wie schon Asterix und Obelix feststellen mussten: „Dieser hauchzarte Duft nach Thymian und Mandeln, Feigen und Kastanien, dieser Hauch von Kiefer, diese leichte Andeutung von Beifuß, diese Ahnung von Rosmarin und Lavendel“, gerät ein Korse ins Schwärmen über den Käsegeruch, der seiner Heimat entspräche, während den Galliern übel wird und sogar ein Schiff ob des Gestanks explodiert.

Auch der auf Korsika geborene Napoleon soll die Insel nur am Geruch erkannt haben, wenngleich an einem harmloseren: dem der mediterranen Landschaft selbst. Kein Wunder, die ätherisch duftende Macchia zieht sich wie ein Teppich über die ganze Insel, im Frühjahr blühen Rosmarin, Myrte oder Ginster in leuchtenden Farben. Ausgestattet mit Wanderschuhen oder Mountainbikes kann man das üppig wuchernde Gestrüpp gut durchstreifen. Besonders für die Désert des Agriates, die Wüste Korsikas, wie die rund 160 Quadratkilometer umfassende Felsenlandschaft westlich Saint-Florents genannt wird, lohnt es sich im nördlichen Inselteil, das Auto stehen zu lassen. Diese Gegend ist damit sowieso nicht weit zugänglich. Karge Pisten, die sich durch Macchia und verwittertes Tafoni-Gestein schlängeln, führen zu Kieferwäldern und den naturbelassenen Stränden Saleccia und Lotu. Hier trifft man in der Vorsaison noch eher eine verwilderte Kuhherde als Badende. Der Kapitän des Taxibootes, das eine Rückfahrt aus dem Nationalpark nach Saint-Florent anbietet, ist gut gelaunt. „Die Regierung wünscht eine ökologisch wertvolle Nutzung des Gebiets, daher hat sie es weitgehend aufgekauft, um es vor Spekulanten zu schützen“, erklärt er redefreudig.

Neugierig. Kaum lässt man das Auto stehen, sind wilde Schweine da.
Neugierig. Kaum lässt man das Auto stehen, sind wilde Schweine da.(c) Christoph Mayer

Gewehr in der Küche. Nicht nur im Naturschutzgebiet streunen Kühe herum. Als die Fahrt ihren Verlauf gen Süden nimmt und die Inselmitte näher kommt, steigt die Zahl diverser Tiere auf der Straße. Alle Augen verfolgen nervös Bewegungen am Straßenrand, um dem Fahrer rechtzeitig „Brems!“ signalisieren zu können. Als Paul, Gastgeber im kleinen Bergdorf Castirla, das Tor seines Anwesens öffnet, mahnt er: „Schnell wieder schließen!“ Der Schalk blitzt dem drahtigen Mann mit sonnengegerbtem Gesicht und goldenem Delfinanhänger um den Hals aus den Augen, als er hinzufügt: „Nicht wegen Banditen. Wegen der Tiere!“

Dass Paul zu harten Bandagen greift, sollte eines der Geschöpfe es wagen, das Tor zu durchqueren, macht er am nächsten Morgen eindrucksvoll klar. Der Frühstückstisch biegt sich. Selbst wenn Paul und seine Frau Sylvie mittlerweile des harten Lebens in den Bergen überdrüssig geworden sind und planen, zur Familie nach Festland-Frankreich auszuwandern: Auch sie sind redlich bemüht, familiäre Atmosphäre und Selbstgemachtes wie Marmelade aus eigenen Feigen zu bieten. Doch es ist ein anderer Gegenstand im Raum, der die Aufmerksamkeit auf sich zieht: Im Eck steht ein Gewehr, so locker hingelehnt, als wäre es gerade benützt worden. Tatsächlich, Paul sieht die Blicke und schultert die Waffe: „Da war eine Kuh im Garten, ich musste schießen!“, demonstriert er. Das käme recht oft vor, ungern gehe er ohne Gewehr außer Haus. Erbost berichten seine Frau und er von mafiamäßigen Zuständen, Bauern würden Subventionen einstreichen, das Geld allerdings lieber für andere Anschaffungen ausgeben, während sie das Vieh verwildern lassen. Aber eigentlich ist es Paul egal, was mit den Kühen passiert: „Erschieße ich eine, lasse ich sie an Ort und Stelle liegen“, sagt er schulterzuckend, auch essen wolle er sie nicht.

Ob er ebenso Schweine tötet, die auf Korsika oft als Kreuzung aus verwilderten Hausschweinen und Wildschweinen herumstreunen? „Von wegen, die tun keinem was, wenn man aufpasst!“, ruft er und erzählt, wie ein Rudel das Auto von Bekannten gekapert habe, während diese ausgestiegen waren. „Also abschließen!“, appelliert er, und hat recht. Kaum ist am Ufer des Calacuccia-Stausees eingeparkt, stehen sie parat. Viel Aufmerksamkeit bekommen sie nicht, hier interessiert anderes: Die Gegend bietet freien Blick auf den nahe gelegenen Monte Cinto. Mit 2706 Metern ist er der höchste Berg der Insel, aber nicht der einzige, der im Frühling eine Schneehaube trägt. Beim Spaziergang durch die Ortschaft Casamaccioli am Seeufer fällt nicht zum ersten Mal auf, dass die Waffenvernarrtheit auf Korsika nicht nur Paul und seine Kuh-Aversion betrifft. Durchsiebte Straßenschilder legen nahe, dass Schießen eine Freizeitbeschäftigung ist, sei es, um Wehrhaftigkeit zu demonstrieren, sei es aus Spaß oder als Ausdruck von Langeweile; Arbeit ist in Dörfern oft rar.

Schneebedeckt. Korsika kann mit Hoch-gebirge bis zu 2706 Meter Höhe aufwarten.
Schneebedeckt. Korsika kann mit Hoch-gebirge bis zu 2706 Meter Höhe aufwarten.(c) Christoph Mayer

Korsisch und Kurven. Andernorts geht es in der Inselmitte gesittet zu: Dort, wo das Restonicatal mit dem Tavignanotal zusammentrifft, die sich für wildromantische Wanderungen auf Hirtenpfaden eignen, liegt Corte. „Der Halbkreis der Berge, in deren Mitte sie liegt, und die Citadelle auf einem unersteiglich schroffen Felsenriff, geben ihr ein sehr ernstes Ansehen“, schrieb Gregorovius über die Stadt. Etwa ein Jahrhundert zuvor erkor sie der Held der korsischen Freiheitsbewegung, Pasquale Paoli, zur Kapitale und Universitätsstadt. Heute ist Ajaccio Hauptstadt, doch die einzige Universität der Insel steht hier, und wenn man durch die Straßen flaniert, verleihen die Studenten Corte eine jugendlich-quirlige Optik.

Auch Korsisch wird hier wieder gelehrt. Dass die Sprache mit den vielen „u“ identitätsstiftend ist, verdeutlichen durchgestrichene französische Ortsnamen auf Schildern, mit Spray durch korsische ersetzt, die die Fahrtstrecke in den südlichen Inselteil begleiten. Zur korsischen Identität sollte auch die Resistenz gegen Übelkeit in Kurven gerechnet werden. Die Urlauber verkraften diese noch nicht recht und zählen zur Beruhigung mit: An die dreißig Kehren führen vom dolomitenähnlichen Bergkamm Col de Bavella bergab, bis schließlich die Südküste erreicht ist. Hier locken die Umgebung von Porto-Vecchio mit wunderbaren Stränden und die gewagt in hohe Kreidefelsen gebaute Festungsstadt Bonifacio. Ihre Wehranlage ruft gleich wieder das Klischee vom unnahbaren Korsika hervor. Doch sind inzwischen neue Begegnungen entlang des Weges zum Bild im Kopf dazugekommen: Ob die Capones, Paul und Sylvie, oder auch ein Supermarktverkäufer, der beim Kassieren spontan ein korsisches Lied anstimmt – mögen Landschaft und Sitten mitunter rau sein, die Menschen am Reiseweg geben sich durchwegs offen und herzlich. 

Tipps

Anreise. Mit der Flugzeug: Direktflüge
an Wochenenden von Wien nach Bastia (Eurowings u. a.) und nach Calvi (Niki
u. a.). Mit Auto und Fähre: Fahrt nach Livorno, mit Corsica Ferries oder Moby Lines nach Bastia (Überfahrt ca. 4 Std.); andere Fähranbieter findet man z. B. in Genua, Savona, Nizza oder Toulon.

Essen. Die korsische Küche bietet Deftiges wie Sanglier, Wildschwein, und viele Wurstwaren. Vegetarier wählen Omelett mit dem Käse Brocciu und Minze, mit Brocciu gefüllte Canneloni oder Aubergines à la bonifacienne. Bei Lust auf Süßes Fiadone, Kastaniencreme, -eis und korsischen Honig (siehe unten) probieren!

Outdoor. Es lohnt sich, die Natur mit Wanderschuhen und Mountainbikes zu erkunden. Schöne Touren: Im Norden Sentier de la Revellata bei Calvi, Désert des Agriates bei Saint-Florent. Bei Corte Wanderungen ins Ascotal, Tavignanotal (alter Maultierpfad) oder Restonicatal (zum Lac de Melo). Weiter im Süden:
Col de Bavella und die Gegend um L´Ospédale (mit Wasserfall).

Lesestoff. Ferdinand Gregorovius: „Corsica“ (Neuauflage 2012); Prosper Mérimée: „Colomba“ (Reclam 1988); Comic: „Asterix auf Korsika“.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.