Ahrenshoop: Lichterschauspiel über dem Lagunenboden

Sandig. Dünen prägen die Strände der Halbinselkette Fischland-Darß-Zingst.
Sandig. Dünen prägen die Strände der Halbinselkette Fischland-Darß-Zingst.(c) TVB Mecklenburg-Vorpommern/Thomas Grundner
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Die lauschige Künstlerkolonie Ahrenshoop auf Fischland-Darß-Zingst an der Ostsee feiert 125 Jahre.

„Ich bin der Hans Götze, ehrenamtlicher Bürgermeister von Ahrenshoop. Und Maler und Grafiker. Oder andersrum. Maler und Grafiker zuerst.“ Der Satz fällt wohl bei jeder Vorstellung. Ausdruck zweier Seelen in einer Brust, die miteinander zu harmonieren scheinen. Ein Amtsträger, wie er zu der kleinen Künstlerkolonie auf der Halbinselkette Fischland-Darß-Zingst besser nicht passen könnte. „Hier war vor nicht allzu langer Zeit das Ende der Welt. Bis 1956 führte nur ein Sandweg zu uns, und hinter dem Ort ging es gar nicht weiter“, sinniert Götze. Dass etwas entstehen konnte, habe immer schon an der besonderen Vielfalt der Natur gelegen. An der Abwechslung von Steil- und Flachküsten, an den buchtartigen Küstengewässern, die mit der angrenzenden Ostsee kommunizieren, an den Wäldern und Wiesen – aber vor allem am ganz speziellen Licht. Ein Licht, das insbesondere Maler aus aller Welt in den Bann gezogen hat, spätestens seit der Patentierung der Farbtuben in den 1840er-Jahren.

Kleine Erfindung mit revolutionärer Wirkung. Die tragbaren Farben ermöglichten das Arbeiten in der Landschaft statt im Atelier. Die Pleinair-Malerei (französisch: en plein air: unter freiem Himmel) war geboren. Der Rest der Historie der Gemeinde ist schnell erzählt. Im Jahr 1890 reiste erstmals der Maler Paul Müller-Kaempff nach Ahrenshoop. Er war auf der Suche nach einem Ort, an dem er bleiben und eine Künstlerkolonie gründen konnte.

Stabil. Mit stumpfem, massigem Bug stechen die charakteristischen Zeesboote in See.
Stabil. Mit stumpfem, massigem Bug stechen die charakteristischen Zeesboote in See.(c) (c) TVB Mecklenburg-Vorpommern/Thomas Grundner

Label „Künstlerort“. Gekommen und geblieben sind bis heute eine runde Hundertschaft an Malern, Musikern oder Schriftstellern. Kunstschulen und ein Stipendiatenhaus sorgen dafür, dass der Kunstfluss nicht ins Stocken gerät. Man tauscht sich aus und belebt das Ortsbild. Die Künstler sollen sichtbar sein. Auch zugunsten des Tourismus. Schließlich muss der 650-Einwohner-Ort von etwas leben. 2600 Gästebetten stehen zur Verfügung, an der Vermarktung des Labels „Künstlerort“ wird mit Kunstauktionen, Literatur- und Filmtagen oder Jazzfestivals gearbeitet. Besonders wichtig ist den Ahrenshoopern ihren himmelblauen Kunstkaten.

1909 wurde das Gebäude als Stätte der Begegnung zwischen Künstlern und Käufern jenseits des kommerziellen Kunsthandels eröffnet. Der Zweck hat sich laut Götze bis heute erfüllt. Dass auf der Hauptstraße ums Eck ein Geschäft klassische Kommerzbilder im billigsdorfer Touristenstil zum Kauf feilbietet, kostet den Bürgermeister nur einen süffisanten Spruch: „Die Ausnahme der Regel, der Kram kommt per Lkw aus Polen und Rumänien, wir können es leider nicht verbieten.“ Lieber redet Götze über den zweiten Grund, warum der Kunstkaten für Ahrenshoop so wichtig ist: „Er war immer eine Anregung, weitere Häuser nach seinem Vorbild zu bauen. Damit das Dorf nicht architektonisch verschandelt wird.“

Ein Spaziergang durch die sandbödigen Seitenstraßen lohnt sich schon allein wegen der idyllischen Häuserkulisse. „Fischlandstil“ nennt man das, was sich hier ausgeprägt hat. Das typischste Merkmal der Villen ist das Dach mit den geschwungenen Fledermaus-Gauben, eingedeckt mit in der Sonne ergrautem Schilf. Anderswo Reet genannt, wird hier vom Rohr gesprochen, das in Küstengebieten so beliebt ist, weil es elastisch mit dem Wind arbeitet und gut doppelt so lange (rund 80 Jahre) hält wie ein Ziegeldach. Rohrdachdecker sind in der Region gefragte Professionisten. Ebenfalls arttypisch für den Fischlandstil: Giebelkreuze mit Pferdeköpfen. „Früher hat man noch echte Pferdeköpfe aufgehängt, als Schutzzeichen gegen Geister, Gewitter und sonstigen Unbill“, erzählt Götze, für den die Erhaltung des lieblichen Ortsbildes sakrosankt ist.

Unverwüstlich: Die für die Gegend typische Rohrdeckung hält zumindest 80 Jahre.
Unverwüstlich: Die für die Gegend typische Rohrdeckung hält zumindest 80 Jahre. (c) TVB Mecklenburg-Vorpommern/Nobert Krüger

Kein zweites Sylt. Hotelinvestoren haben bei ihm keinen Auftrag: „Wir werden mit Sicherheit nicht versylten.“ Und auf die Entwicklung zu einer Schickeria-Destination hat die Gemeinde auch keine Lust. Man glaubt es dem Mann im bieder karierten Hemd und dem verblichenen Basecap als Sonnenschutz aufs Wort. Seit mehr als 20 Jahren verdient er sich als Maler und Grafiker, um sein Bürgermeisteramt ehrenamtlich ausfüllen zu können. Neuzuzüge hat es in dieser Zeit praktisch keine gegeben. Neue Baustellen werden schlicht und einfach nicht ausgewiesen.

Dass dies den Grundstückpreis mittlerweile auf mehr als 600 Euro pro Quadratmeter getrieben hat, ist eine elitäre Nebenerscheinung. Was soll‘s, wenn kein Land mehr zum Bebauen freigegeben wird. „Eine intakte Natur. Das ist wichtiger als neue Villen“, sagt der Bürgermeister mit Verweis auf den Ahrenshooper Holz. 55 Hektar groß ist das Naturschutzgebiet am nordöstlichen Ende des Ostseebades. Seit genau 50 Jahren wird es nicht mehr bewirtschaftet, um das alte Baumgut und Europas größte Stechpalmen-Bestände zu erhalten. Seltene Vögel wie Hohltauben, Waldkäuze, Zwergschnäpper sowie Fledermäuse treiben sich hier rum. Ungestört.

Richtig zu leuchten beginnen die Augen des ehemaligen Funkoffiziers der ostdeutschen Handelsflotte – 18 Jahre fuhr Götze zur See, bevor er in Ahrenshoop sesshaft wurde –, wenn die Rede auf die Bodden kommt. Jene Lagunen, die ihre Namen von „Boden“ oder „Grund“ ableiten, in Bezug auf die geringe Tiefe der Gewässer. Götzes Tipp: „Spazieren Sie zum Althäger Hafen und fragen im Räucherhaus nach Andreas Schönthier. Wenn Sie Glück haben, gibt es eine Einladung auf ein Zeesbootfahrt über den Saaler Bodden.“ Gesucht, gefunden. Manchmal hat man Glück. Nach der Landtour geht es nun raus aufs Wasser – und das nicht mit irgendeinem Schiff.

Fein. Paul Müller-Kaempffs „Weiter-Blick über das Dorf Ahrenshoop“.
Fein. Paul Müller-Kaempffs „Weiter-Blick über das Dorf Ahrenshoop“.(c) Bild aus Privatbesitz

„Willkommen auf der Blondine. Ich zeig euch jetzt mal meinen Arbeitsplatz.“ Launig wirkt er, der sichtbar stolze Besitzer des 1930 gebauten Bootes. 1974 lag die „Blondine“ als Wrack vor der Insel Ummanz, zwei Fischer retteten es vor dem Zerfall. Zwölf Meter lang, drei Meter breit, zehn Tonnen schwer, perfekt restauriert. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die späten 1970er-Jahre wurden Zeesboote wie dieses von den Boddenfischern genutzt, auch noch von Andreas Schönthier selbst. Charakteristisch sind der stumpfe, massige Bug, um die scharfe See abzuweisen, der geringe Tiefgang, das eichenhölzerne Mittelschwert und die Metallaugen an Bug und Heck. Durch diese wurden lange Holzbäume („Auszieher“) geschoben, an denen man die Schleppernetze befestigte und am Grund entlang zog, namensgebend „zeeste“.

Dunkle Tarnung. Das augenscheinlichste Merkmal sind freilich die rotbraunen Baumwollsegel, gefärbt mit einem fettigen Sud aus Eichenrinde. „Ein Schutz gegen Schimmel und Fäulnis. Dunkel ist auch wichtig, weil sich die Fische vor der Farbe Weiß fürchten. Da denken sie an Reiher oder Möwen. Dunkel halten sie wahrscheinlich eher für vorüberziehende Wolken“, so der Kapitän, der seinen Unterhalt seit Lebzeiten als Fischer verdient. Zuerst auf hoher See vor Island, danach an der Küste und seit gut 40 Jahren in den hiesigen Lagunen. Heute ist er einer von 15 übrig gebliebenen Bodden-Berufsfischern der Region. 150 bis 200 Tonnen Fisch holen er und seine Mitarbeiter jährlich an Land, vornehmlich Zander, aber auch Barsch oder Hecht und anderes mehr: „Der Hecht jagt mit den Augen und braucht eher klares Wasser, wie es nahe der Ostseeeinbuchtung ist. Den Zander fangen wir überall, den stört das von den Schilfablagerungen typisch Trübe des Boddens nicht.“

Lecker. Fisch aus den Osteegründen Mecklenburg-Vorpommerns.
Lecker. Fisch aus den Osteegründen Mecklenburg-Vorpommerns.(c) Th_Paulus

Angst um den Fischreichtum hat der Fischer nicht. Ausgeklügelte Vorschriften – neben Schonzeiten und Schongebieten etwa Mindestmaße an Maschengrößen der Netze, um kleineres Jungtier im Wasser zu belassen – sorgen für nachhaltig gesunde Verhältnisse. Allein von der Fischerei kann man hier dennoch nicht leben. Schönthier hat sich mit dem Räucherhaus direkt am Hafen von Althagen längst ein zweites Standbein geschaffen. Hier kommt im Restaurant der selbst gefangene Fisch frisch auf dem Teller oder wird im Fischgeschäft verkauft. In der hauseigenen Räucherei gehen von April bis Oktober täglich, Punkt 11.30 Uhr, an der „Reuse“ die Öfen auf. Dort kann der Fisch direkt aus dem Rauch genossen werden. Zum „Durchspülen“ eventueller Gräten wird helles und dunkles Bier vom Fass serviert. Künftig auch Bier vom Chef, der sich seit kurzem der Heimbrauerei verschrieben hat: „Am liebsten ist mir ein helles, kühles Blondes.“ Passt gut.

Der schönste Tag. Nach eineinhalb Stunden fährt die „Blondine“ wieder in den Hafen ein. Über das Jahr hinweg dient das altgediente Fischerboot als Zeuge einer vergangenen maritimen Arbeitskultur. Nur einmal im Jahr wird es noch richtig ernst. Dann, wenn am dritten Wochenende im September im Althäger Hafen von Ahrenshoop der Startschuss für eine Fischerregatta der reizvollen Art fällt. Es ist der Höhepunkt der Traditionssegler-Saison, verbunden mit einem maritimen Volksfest. Ein guter Teil der 100 in der Klassenvereinigung der Zeesboote registrierten Schiffe erweisen dem optischen wie sportlichen Spektakel die Ehre. „Da setze ich die 100 Quadratmeter Segel und verlange der alten Dame noch einmal alles ab. Einer der schönsten Tage im Jahr“, sagt Schönthier. Einer, den sich auch Götze niemals entgehen lässt.

Die Reise wurde von Mecklenburg-Vorpommern und DZT unterstützt.

Tipps

Anreise: mit Germania freitags und sonntags direkt Wien–Rostock (letzter Rückflug 10. 9. 2017); freitags von Linz nach Heringsdorf/Usedom mit Austrian Airlines (letzter Rückflug 15. 9. 2017);
Urlaubspakete mit Flug, Unterkunft, Transfer und/oder Mietwagen sowie Fly & Drive: hofer-reisen.at, www.ruefa.at

Informationen: zu Mecklenburg-Vorpommern und dem Reiseland Deutschland:
www.germany.travel, www.auf-nach-mv.de

Vor Ort: 23. bis 25. 6. Ahrenshooper Jazzfest.
Bis 21. 10. 2017: Das Jubiläumsjahr der Künstlerkolonie im Kunstmuseum Ahrenshoop, kunstmuseum-ahrenshoop.de
6.-9. 9. Ahrenshooper Filmnächte. Neue deutsche Filme

Tour durchs Land: Radtour Fischland-Darß-Zirngast. 205 km zwischen Ostsee und Bodden in vier Tagen.

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