Slowakei

Bratislava: Sozialistisch, modern, mit Platte

Über der Brücke des Slowakischen Nationalaufstandes schwebt ein Ufo – samt Gastronomie.
Über der Brücke des Slowakischen Nationalaufstandes schwebt ein Ufo – samt Gastronomie. Imago
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Bratislava gibt sich als Krönungsstadt und betont die Nähe zu Wien. Doch außerhalb der historischen Altstadt dominiert das Erbe einer sozialistischen Moderne. Mit kopfstehenden Pyramiden, dem „Centre Pompidou des Ostens“ und dem größten Plattenbauviertel Zentraleuropas.

Bratislava kracht beim Schalten, schaukelt und riecht nach Öl. Durch die Scheiben eines Skoda 1203 betrachtet sieht die Stadt anders aus als in der Tourismuswerbung. Nicht so nach Donaumetropole und nicht wie das zweite Wien. Eben grauer, alltäglicher, bescheidener, „ostblockiger“. Der „böhmische Bulli“, in den Sechzigern hinter dem Eisernen Vorhang entwickelt, weil die Tschechoslowakei einen heimischen Lieferwagen brauchte, war jahrzehntelang überall im Land unterwegs – auch als Polizeiauto und Leichenwagen. Heute drehen sich die Leute nach dem Wagen um, etliche Erinnerungen im Blick, Anekdoten im Kopf. So richtig auf der Höhe der Zeit ist das Modell nicht mehr, war es vielleicht nie. „Immer bricht etwas, oder der Motor kocht“, sagt Juro Sikora grinsend hinter dem Steuer, mit Vollbart und einer grünen Fidel-Castro-Mütze. Er fährt routiniert mit Zwischengas. Ein dicker Stein unterstützt an diesem Tag die Handbremse. Das sozialistische Erbe – es braucht Aufmerksamkeit. Und Pflege. Nicht nur im Motorraum, sondern auch im Stadtraum.

Umgedrehte Pyramide

Der Skoda ist Teil des Fuhrparks von Authentic Slovakia, die in Bratislava seit ein paar Jahren alternative Städtetouren anbieten. Gegründet wurden sie von zwei Brüdern, Söhnen eines Reisebürobesitzers, die für das touristische Bratislava eine jüngere Variante sahen: Plattenbauviertel statt Altstadt, Arbeiterklasse statt Kaiserin Maria Theresia. Und auch: hässlich statt schön. Anfangs interessierte das nur Rucksackreisende, heute fahren alle mit. Viele Briten, Skandinavier, Österreicher, weniger Deutsche, denen man nicht zeigen muss, wie von oben verordnete Architektur aussieht. Es geht auch um mehr Mut zur eigenen Geschichte.

Das Gebäude des Slowakischen Hörfunks ist eine umgedrehte Pyramide.
Das Gebäude des Slowakischen Hörfunks ist eine umgedrehte Pyramide. Imago

Darum, sich nicht nur einen Teil herauszupicken. „Häuser, in denen Mozart als Sechsjähriger gespielt hat, gibt es in Österreich zigfach“, sagt der in Bratislava geborene Juro, 30 Jahre alt, eigentlich Englischlehrer und passionierter Fahrradfahrer. Er liebt das Unverwechselbare an seiner Stadt: „Ein Centre Pompidou des Ostens oder eine Pyramide, die auf dem Kopf steht, gibt es woanders bestimmt nicht.“ Ein paar Abzweigungen weiter kragt sie dann in den Himmel: Die Station des Slowakischen Hörfunks, Slovenký rozhlas, eine umgedrehte Pyramide. Vertraut man auf Listen, ist es eines der hässlichsten Gebäude der Welt. Aber auch eines der aufregendsten. Viel Platz hat das staatliche Planungsbüro rundum gelassen. Gerade so, als könne sich doch noch zeigen, dass die Ägypter recht hatten, nicht die sozialistischen Ingenieure.

Ästhetisch neu bewertet

Solche Bauten erinnern an eine Zeit, die viele ausblenden wollten – sowohl optisch als auch inhaltlich. Soll das jetzt weg? Oder hat das etwas? Ein paar Blöcke weiter die monströse Markthalle Nová tržnica, die manch Einheimischen an das Centre Pompidou erinnert. Oder der Platz der Freiheit, Námestie slobody, mit einer riesigen, metallenen Lindenblütenstatue, die kälter kaum wirken könnte. Und blickt man auf die Hügel der Stadt, thront da eben nicht nur die spätbarocke Burg, sondern auch das Slavín-Denkmal, errichtet zu Ehren der Sowjetsoldaten. „Andere haben solche Objekte abgerissen, wir zum Glück nicht“, freut sich Juro. Denn es geht ja auch um die persönlichen Erinnerungen, nicht nur um weltanschauliche: „Hier sind wir Skateboard gefahren, als es in Bratislava noch keine Skateparks gab.“ Gerade die Jungen finden die Bauten der sozialistischen Ära wieder spannend.

Kakanisches Gegenstück

Knapp zwei Kilometer unterhalb, eine andere Welt: Bratislava strahlt, schnörkelt und riecht nach Kaffeehaus. Es ist das Bratislava der Reisebusse mit Gruppen. Perfekt saniert. Ein Gang durchs historische Zentrum von Bratislava ist eine Zeitreise in die Donaumonarchie. 300 Jahre lang war man Hauptstadt von Ungarn. 18 Könige und Königinnen wurden hier gekrönt. Die offizielle Heldin: Maria Theresia. Ihre Krönungsfeier wird einmal im Jahr in aller Pracht in der Kirche und auf den Straßen nachgespielt. Wer historisch denkt, sagt bis heute gern Pressburg. Gepflasterte Gassen, Inschriften, Weinstuben. Die einstige Größe, die frühere Bedeutung von Bratislava – man will sie vorzeigen. Dafür musste die Altstadt ein Schmuckstück werden, lang bevor man sich um den Rest der Stadt kümmerte.

Jeder Tourist steigt hinauf zur Burg, dem Wahrzeichen von Bratislava. Er lässt den Blick schweifen, sieht, wie klein der historische Stadtkern ist, und wie immens der Rest rundum. Gigantisch nimmt sich die Silhouette auf der anderen Donauseite aus: Hier liegt der Stadtteil Petržalka, das größte Plattenbauviertel Zentraleuropas und das am dichtesten besiedelte Gebiet der Slowakei, einst gebaut für die Arbeiter der Raffinerie. Jeder Vierte in Bratislava lebt noch heute dort, mehr als 100.000 Menschen. Eine Hochhausriegelwelt, die bis an die Staatsgrenze Österreichs reicht. Über den Strom führt die Brücke des Slowakischen Nationalaufstandes (Most SNP), auf der in 85 Metern Höhe ein Lokal in Form eines Ufos balanciert. Ein größerer Gegensatz ist kaum denkbar: hüben in der Altstadt kleine Gassen, drüben landepistenartige Straßen, hier rote, spitze Schindeldächer, dort lange, graue Dachflächen.

Das Gegenstück: die restaurierte Altstadt.
Das Gegenstück: die restaurierte Altstadt. Imago

„Guter Ort zum Leben“

Das wichtigste Verkehrsmittel von Petržalka sind die öffentlichen Busse. Die Linien ziehen vorbei an den kleinen Läden im Erdgeschoß der Plattenbauten: Reifenhändler, Secondhandshops, Copyshops, Vinotheken und Videotheken. Dazwischen viele aufgegebene Geschäfte. Ein Beisl hat sein Angebot mit rosarotem Eddingstift auf die Fensterscheiben geschrieben. Einfache Lösungen sind in Petržalka gefragt. Das Geld sitzt nicht locker, Touristen verirren sich selten herüber. Einige Gebäude sind saniert, andere Fassaden bröckeln noch. Mitten zwischen den Plattenbauten liegt ein kleiner Baggersee, in dem im Sommer halb Petržalka badet. Martin Kleibl kommt mit dem Fahrrad. Der 36-Jährige ist hier aufgewachsen, zieht selbst zwei Kinder im Viertel groß. „Heute ist Petržalka ein guter Ort zum Leben“, sagt er. Es gibt alles: Kindergärten, Spielplätze, Schulen. „Und in zehn Minuten ist man in der Innenstadt.“ Die Limonade vom Kiosk kommt in dünnwandigen Plastikbechern, ist selbst gemacht und sprenkelt die Zähne mit schwarzen Kräuterstückerln. Dazu gibt es ungarische Langos. Man sitzt auf Mobiliar aus Europaletten. Anders als drüben in der Altstadt würden hier weder Pulled Pork Burger noch Cold Drip Coffee ihren Weg auf die Karte finden.

Fotoprojekt öffnete Türen

Martin ist überzeugt, dass es in Petržalka Sehenswertes gibt. Und Erhaltenswertes: kleine Kirchen, Arbeitertavernen, sozialistische Denkmäler, nie in Betrieb genommene U-Bahn-Stationen. Einiges davon verschwindet allmählich wie etwa die riesigen Fassadenmalereien an den Stirnseiten der Plattenbauten. Sozialistische Zeitdokumente, die sich 37 Meter in den Himmel gestreckt haben, beim Sanieren aber verschwinden. Bis auf eines, das Martin Kleibl mit einer Crowdfundingaktion retten konnte. Was er sich für den Umbau des Viertels noch wünscht: dass mehr soziale Treffpunkte entstehen. Als ihm bewusst geworden ist, dass er keinen seiner Nachbarn kennt, ist der Fotografiestudent klingeln gegangen und hat ein Projekt daraus gemacht. Es ist ihm gelungen, die Hälfte der Menschen in seinem Geburtsgebäude in ihren Wohnzimmern abzulichten. Und die Anonymität ein Stück weit aufzuheben. Eines ist klar: Das moderne Bratislava ist am Alltagsleben der Menschen deutlich näher dran als die Habsburgermonarchie – egal, wie prächtig sie gewesen sein mag. Skodas aber sind auf beiden Seiten der Donau selten geworden.

Auf einen Blick

Architektonisch erweist sich Bratislava als ergiebig, nicht nur die Substanz aus der Donaumonarchie betreffend, sondern speziell, was die baulichen Segnungen der Nachkriegsmoderne und Phasen wie der des Brutalismus betrifft. Interessante Punkte sind etwa die ufoartige Aussichtsplattform auf einer Donaubrücke, der Fontána Družba (Freundschaftsbrunnen) und der Postpalast, der Sitz der Slowakischen Radiostation oder die Slowakische Nationalgalerie. Mit Petržalka, wo von 1973–85 eine sozialis-tische Planstadt realisiert wurde, gibt es viel Anschauungsmaterial von Plattenbauten. Ein Register moderner Architektur auf: www.register.ustarch.sav.sk

Touren:www.authenticslovakia.com

Infos:www.visitbratislava.com

Buchtipps: Hurnaus/Konrad/Novotny: "Eastmodern – Architecture and Design of the 1960s and 1970s in Slovakia" bei Springer. Henrieta Moravčíková: "Modern and/or Totalitarian in the Architecture of the 20th Century in Slovakia" bei Slovart.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 5.8.2017)

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