Alpen: Die Berge überwinden

Massiv. Die Zillertaler Alpen mauern nach Süden. Davor: der Schlegeis Speicher.
Massiv. Die Zillertaler Alpen mauern nach Süden. Davor: der Schlegeis Speicher.(c) Klaus Kranebitter
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Über die Alpen gehen, ohne an die Grenzen zu gehen: sieben Tage je vier bis sechs Stunden plus ein paar Abkürzer mit PS. So lässt sich die Distanz Tegernsee–Sterzing locker machen.

Alpenüberquerung, das Wort steht wie eine Steilwand, oder besser gesagt: wie ein Dreitausender vor dem Wanderer. Es klingt nach Steigeisen und Hüttenschlafsack, Kletterpassagen und Gratwanderungen. Aber das trifft die Sache nicht ganz, denn wie vor Jahrtausenden suchen sich die Menschen auch heute nicht die schwierigsten, sondern die komfortabelsten Strecken von Norden nach Süden oder retour. Aber nicht zwingend führten die friktionsfreiesten Wege dereinst über das Flache oder durch Täler, die verbuscht, sumpfig, wenn nicht überschwemmt waren. Ungeachtet dessen, was da an Getier und feindlichen Stammesvertretern im dichten Dickicht lauerte. Nein: Am lockersten und sichersten schritt man im baumfreien Gelände über Almmatten, Steinplatten, sogar Geröllhalden und Schneefelder.

So ein moderaterer transalpiner Weg führt auch vom Zillertal ins Pfitschtal hinüber, in seiner jeweiligen Verlängerung von Bayern nach Südtirol. Die moderne Alpenüberquerung absolviert der Wanderer also als eine siebentägige, geführte Tour mit Gleichgesinnten oder in individuell gebuchter Form. Er startet in Gmund am Tegernsee und marschiert in Sterzing hinter dem Brenner durchs Ziel. Man könnte „Die Alpenüberquerung“ freilich auch in die umgekehrte Richtung gehen, aber der Initiator dieser Tour und Route, der Tiroler Geograf Georg Pawlata, hat noch keinen getroffen, der das so gewünscht oder gemacht hat. Offensichtlich impliziert die Marschrichtung Nord-Süd, dass es in Summe von oben nach unten beziehungsweise mehr ab- als aufwärts geht. Wobei das ein Irrtum und zudem nicht weniger anstrengend ist: Knie und Kondition beansprucht nicht so sehr das Bergauf-, als das Bergabgehen. Nach sieben transalpinen Tagesetappen weiß man das.

Wetterwendisch. Grad hat auf dem Weg ins Pfitschtal die Sonne noch geschienen.
Wetterwendisch. Grad hat auf dem Weg ins Pfitschtal die Sonne noch geschienen.(c) Madeleine Napetschnig

Höhenmeter sammeln. Am Bahnhof Gmund, einem entzückenden Häuschen, treten die Wanderer noch recht unsportiv mit Rollkoffer an. Sie wissen, dass sie ihn nicht selbst über die Alpen schleppen müssen. Er wird jeden Tag von einem Taxi eine Etappe weiter transportiert, und das Etappenziel ist auch nicht die knarzige Almhütte, sondern ein ordentliches Hotel oder Gasthaus im Tal. So macht sich die übersichtliche Truppe mit kleinem Rucksack auf den Weg, quasi als Gewöhnung ans Gerät: die Bergschuhe, den Regenschutz, die Wasserflasche, die Teleskopstecken bei Bedarf.

Der lockere Auftakt führt auf den Tegernseer Höhenweg, unterhalb liegt oberbayerische Kulturlandschaft – so gepflegt anmutend, als hätte man die Grashalme einzeln frisiert. Man versteht gleich, warum sich rund um das noble Gewässer Deutschlands Geldadel und Fußballprominenz für einen Wohnsitz anstellen. Mischwald und Blumenwiesen überziehen das propere Stück Voralpen, mittendrin funkelt der klare See dank der weltweit ersten Ringkanalisation. Unangestrengt wird die erste Brotzeit eingeschnitten, am Ufer im großen Brauhaus neben dem Kloster. Und gemütlich geht‘s weiter: Mit der Ruderfähre über den See, noch ein Stückerl wandern, um letztlich in Wildbad Kreuth zu landen – in einem Hotel mit ein paar Sternen, bei einem Menü mit mehreren Gängen.

Man möchte meinen, dass die zentrale Etappe (Nummer sechs, jene über den Alpenhauptkamm) die anspruchsvollste sein wird. Aber nein, die meiste Kraft erfordert bereits der Abschnitt Nummer zwei, der lange Weg vom Tegern- zum Achensee: Über die Blauberge ziehen sich die Höhenmeter, bis zum Ziel in Achenkirch weit hinauf und gefühlt noch weiter hinunter, so wie auch die umgebenden Berge immer steiler, schroffer, unwegsamer erscheinen. So zwischen Rofan und Karwendel wähnt man sich bereits höchst in den Alpen. Auch gastronomisch ist Tirol angezeigt, wenn man denn gleich hinter der Grenze auf der Blaubergalm einkehrt.

Aufgeklart. Die zweite Etappe hat‘s ein wenig in sich. Zum Glück gibt‘s Hütten.
Aufgeklart. Die zweite Etappe hat‘s ein wenig in sich. Zum Glück gibt‘s Hütten.(c) Klaus Kranebitter

Auf der dritten Etappe bleibt der Achensee gehend im Blick, er ist kein stilles, sondern ein durchaus dramatisches Gewässer, auf dem sich bei bestem Wind die Segler und Kitesurfer tummeln. Die Ansammlung von Hotels am oberen und unteren Ende stört die Naturschönheit nicht weiter, weil das Ufer an anderer Stelle roh, rauh, fjordartig bleibt. Es kostet an heißen Tagen dennoch keine Überwindung, immer wieder einmal ins Wasser zu springen.

Öffentlich abkürzen. Nicht jeder Kilometer zwischen Bayern und Südtirol lohnt sich zu Fuß hinter sich zu bringen, man müsste beim Queren des Inntals schon einen Sinn für die Ästhetik von Autobahnen und stark verhüttelten Talböden haben. Außerdem ist diese Alpenüberquerung weder dem Leistungssport noch einem Transportmittelboykott verpflichtet. Linienbusse, Bergbahnen, Achensee- und Zillertalbahn werden in die Tour sinnvoll und günstig eingebaut. So kutschiert man an den Eingang zum Zillertal hinüber und setzt ab Fügen zuerst mit dem Lift den Marsch über die Berge fort.

Lieblich. Wald- und Wiesenszenerie zum Start am Tegernsee.
Lieblich. Wald- und Wiesenszenerie zum Start am Tegernsee.(c) Madeleine Napetschnig

Landschaftlich führen die Etappen vier und fünf noch weiter an alpine Erwartungshaltungen heran, durchs Zillertaleralpineske, wie das auch der Skifahrer schätzt: Nicht zu felsiges Gelände, Almgebiete mit Zirben, Latschen, Arnika, Erika, Preiselbeeren, pfeifenden Murmeltieren, Kuhglockengebimmel. Mit Hochmoorböden und Lacken, die aus der Eiszeit übrig geblieben sind, und Schliff von Gletschern, die nicht mehr existieren. Auch diese beiden Abschnitte sind nicht durchgängig gewandert – die Alpenüberquerung hat auch im Zillertal den Mut zur praktischen Lücke, in dem sie die schönsten Stellen, die kleinen Gipfel, die besten Hütten einbaut und den Transport Bergbahn und Bus überlässt. So auch für den Weg von Mayrhofen zum Talschluss, Start der Königsetappe. Hier speichert eine riesenhafte Kraftwerksmauer das Wasser des Schlegeis Speichers, während von oben noch ein paar Schneefelder und Restgletscher herunterblecken. Wie lange noch? Und wie jetzt, muss man etwa da hinauf?

Aber der Weg biegt seitlich ab und benimmt sich fast wie eine Promenade, so eben dahin, am Bach entlang. Die Strecke ist ausgekleidet mit Steinblöcken und dekorativ gesäumt von natürlichen Steintrümmern. In langen Fäden rieselt das Wasser über die baumlosen Flanken des Hochtals, anders als in den Kalkalpen versickert das Schmelzwasser nicht im Gestein, sondern zeigt sich. Schließlich verengt sich der breite Weg zum Steig, längere Gerade legen sich in steiles, aber kurzes Zickzack. Die Unterstände aus Bruchstein für die Tiere – und die Wanderer, die sich gerade wieder in die Regenhaut schälen – verschmelzen mit der Umgebung, zu einem Grüngrau mit weißen Einsprengseln: Steintrümmer, Geröll, Schneeflecken. Die Wolken ziehen noch einmal zu, sehr plötzlich, das macht den Anblick noch einmal so dramatisch. Die Truppe, der Guide, alle sind auf so ein Wetter gefasst. Ein zweites Paar Handschuhe findet sich immer.

Stattlich. Das Ziel ist erreicht: Sterzing, die einstige Fuggerstadt.
Stattlich. Das Ziel ist erreicht: Sterzing, die einstige Fuggerstadt. (c) Klaus Kranebitter

Hochalpine Spaghetti. Ganz oben am Übergang, aber gar nicht so weit oben: Das Pfitscherjochhaus steht auf 2275 Metern an der Grenze, politisch ein Ort von Bedeutung: In den 30er-Jahren wurde eine Militärstraße heraufgebaut, die Hütte zur Grenzstation, von 1963 bis 1970 vom italienischen Militär zwangsbesetzt – 1966 ein Beamter der Grenzwache bei einem Sprengstoffanschlag getötet. Ein Teil der Hütte wurde dabei zerstört. Heute sitzt man im sanierten Haus bei Spaghetti.

Immer wieder greift der Guide Geschichten auf, historisches, geologisches, naturkundliches Material, die Wanderer klinken sich ein, klinken sich aus. Das Tempo variiert und die Mitteilsamkeit schwankt mit den gemachten Höhenmetern. Diese letzten etwa führen so lange bergab – das Pfitschtal liegt richtig tief unten –, dass man sich wie durch Klimazonen zurückarbeitet, vom Winter in den Sommer. Von der Flechte zur blühende Sommerwiese. Da unten schläft man noch einmal, bis zum letzten aller Märsche, richtig lange durch die bäuerliche Idylle. Den Bus, der vorbeikommt, lässt man sausen. Sind doch nur mehr ein paar Stunden bis Sterzing.

Infos

Die Alpenüberquerung in Zahlen:
Gesamtlänge: 110 km
Gehzeit brutto: 35 Stunden
Summe der Meter bergauf: 3300
Summe der Meter bergab: 3830
Höchster Punkt: 2280 m (Pfitscherjoch).
www.die-alpenueberquerung.com

Die Strecke: Diese Alpenüberquerung startet in Gmund am Tegernsee (Bayern)und endet in Sterzing in Südtirol und führt vorbei am Achensee und durchs Zillertal. Übernachtet wird in Hotels und Gasthöfen (3/4*) im Tal, das Gepäck wird, wenn man will, auch befördert. Die Alpenüberquerung kann man sowohl als geführte oder individuelle Tour buchen. Touren sind wegen der Witterung nur von Ende Juni bis Mitte Oktober möglich.

Anschauen unterwegs: das ehemalige Kloster Tegernsee, die Steinölproduktion am Achensee, den Schlegeis Speicher im Zemmtal, das mittelalterliche Ensemble von Sterzing. www.tegernsee-schliersee.de, www.achensee.com, www.zillertal.at,
www.sterzing.com

Einkehren: unter anderem im Brauhaus Tegernsee, auf der Blaubergalm im Mangfallgebirge, der Gaisalm (Achensee), Gartalm und im Alpengasthof Loas im Zillertal, Pfitscherjochhaus oder am Pretzhof im Pfitschtal.

Karte: Eigene Kompass-Wander-Tourenkarte zur „Alpenüberquerung“, 1:50.000, WTK 2556, www.kompass.de

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