Leeuwarden: Feiern im Gefängnis

Trekschouten, lange, flache Lastkähne, waren früher Linienschiffe.
Trekschouten, lange, flache Lastkähne, waren früher Linienschiffe.(c) Robert Fishman
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Unternehmergeist, Beharrlichkeit und Gemeinschaftssinn: Das kleine Leeuwarden will 2018 als Europäische Kulturhauptstadt ganz groß rauskommen.

In den Grachten schimmert das gelbliche Licht der schmiedeeisernen Straßenlaternen. Auf dem Straßenpflaster glitzern die hellen Buchstaben friesischer Gedichte. Zusammen bilden sie eine Route der Poesie durch die Leeuwarder Altstadt. Mit einem Elektroboot gleitet eine Gruppe Touristen durch die Kanäle der Innenstadt vorbei an rötlich-braunen Backsteinfassaden mit bodentiefen gardinenlosen Fenstern. Junge Leute radeln auf schweren Hollandrädern gemächlich über die von unten blau beleuchteten Brücken. Viele haben ihre Lenker mit Blumen dekoriert. Auf den zahlreichen Bänken an der breiten, weitgehend autofreien Nieuwestad zu beiden Seiten der Hauptgracht sitzen Menschen entspannt in der Abendsonne. In den Kneipen und Straßencafés genießen die Leeuwarder den Feierabend. Europas Kulturhauptstadt 2018 lässt es ruhig angehen.

Kleine Großstadt. So nennt Mario Kristmann seine Wahlheimat. Der 28-jährige Deutsche fühlt sich in Frieslands Hauptstadt „wie auf dem Dorf“. Leeuwarden, mit gut 100.000 Einwohnern größter Ort der Region, ist für Mario „groß genug, um anderen auch aus dem Weg gehen zu können und so überschaubar, dass man Netzwerke aufbauen und pflegen kann.“ Der kräftige junge Mann kam wie viele zum Studieren und blieb. Er liebt den weiten Himmel über der flachen friesischen Landschaft, das Spiel der leuchtenden Farben in Wind und Sonne – und die inspirierende Atmosphäre der Stadt. Viele der etwa 16.000 Studierenden seien als Künstler, Filmemacher oder Mediengestalter „kreativ unterwegs“. Leeuwardens drei Universitäten bieten neben Technik und Naturwissenschaften diverse Kunst- und Medien-Studiengänge an.

Jamila Faber hat an der Akademie für Popkultur eine Mischung aus Musik, Kunst und Marketing studiert. Jetzt ist die 27-jährige Stadskunstenaar, Stadtkünstlerin. Für mindestens vier Projekte im Jahr bekommt sie aus dem Rathaus ein festes Honorar. „Die vertrauen mir“, freut sich die Künstlerin mit den wachen dunklen Augen. Jamila ist ständig in Bewegung. Voller Energie schwärmt sie zum Beispiel von ihrer Aktion zum Valentinstag: Mit Kreide schrieb sie mit einigen Mitstreitern Gedichte über Liebeskummer auf die Straßen der Altstadt. Die Kreide sei wie die Liebe: „Heute strahlt sie. Und der nächste Regen wäscht sie weg.“ Ihre Performances, Songs, Gedichte und Theaterstücke entstehen aus poetischen Momenten wie diesem und aus Begegnungen wie dem Gespräch mit einer Afrikanerin, die auf Facebook wegen ihrer schwarzen Hautfarbe laufend anzügliche Botschaften erhielt. Jamila schrieb darüber ein Lied wie über einen geheimnisvollen Typen, der jeden Abend in einem Fußgängertunnel stand und plötzlich für immer verschwand.

Stadt der Selbermacher. Sie will Menschen berühren und zum Mitmachen bewegen. Reaktionen aus dem Publikum greift sie sofort auf. „Community Art“ nennt sie ihr Konzept, das die städtische Jury überzeugte. Aus 50 Bewerbern wurde sie zur Stadtkünstlerin gewählt. Leeuwarden beschreibt Jamila als „DIY-City“, eine Stadt der Selbermacher. So gründeten drei engagierte Leute den „Club Asteriks“, weil nirgends Bands zu bezahlbaren Preisen auftreten konnten. Als die Gründer hörten, dass das ehemalige Gefängnis zum Kulturzentrum umgestaltet werden sollte, schlugen sie der Stadt eine „Zwischennutzung“ vor.

Stadtkünstlerin Jamila Faber schreibt mit Kreide Gedichte auf die Straßen.
Stadtkünstlerin Jamila Faber schreibt mit Kreide Gedichte auf die Straßen. (c) Beigestellt

Um Hausbesetzungen zu verhindern, bieten viele niederländische Gemeinden Anti-Kraak-Wohnen an. Man mietet ein freies Haus oder einzelne Räume für wenig Geld und verpflichtet sich, jederzeit auszuziehen, wenn sich ein neuer Dauernutzer findet, das Objekt abgerissen oder umgebaut wird. So kamen die Musikfans an einen nicht genutzten Teil der ehemaligen Haftanstalt, bauten Theke, Bühne und eine Musikanlage ein. Hinter einer schweren Eisentür mit vergitterter Luke feiern nun jedes Wochenende junge Leute im einstigen Knast, ohne jemanden zu stören. Durch die dicken Backsteinmauern des 150 Jahre alten Baus in bester Innenstadtlage dringt kaum ein Ton nach draußen.

Unternehmergeist, eine direkte, zupackende Art, Beharrlichkeit und einen ausgeprägten Sinn für Gemeinschaft nennt Rouke Hoek die wichtigsten Eigenschaften seiner Landsleute. Er spricht für das Friesische Museum. Es erzählt die Geschichte der als eigensinnig und weltabgewandt verschrienen Provinz.

Zerbrochener, angelaufener Spiegel. Der Flame Lieven Bertels, bis Mitte Juni Direktor der Europäischen Kulturhauptstadt 2018, hat sich intensiv mit der Geschichte des Landes beschäftigt. Leeuwarden liege wie viele friesische Gemeinden unter dem Meeresspiegel. „Sie existieren nur, weil die Menschen sich angesichts der Naturgewalten zusammengeschlossen haben.“ Weit ab vom dicht besiedelten Holland legten die Friesen im frühen Mittelalter Hügel an, um sich vor den immer wiederkehrenden Sturmfluten der Nordsee zu retten. Die Stadt Leeuwarden entstand auf drei solcher Terpen, die über die Jahre zusammenwuchsen, als sich die See allmählich zurückzog. Später baute man gemeinsam Deiche und Kanäle. Auf diesen fuhren bis ins 19. Jahrhundert neben zahlreichen Lastkähnen von Menschen und Tieren gezogene Linienschiffe, die Trekschouten, bis nach Amsterdam und in den Süden der Niederlande.

So hatte Friesland lang vor dem Bau der Eisenbahn ein öffentliches Verkehrsnetz. Die Region erscheint Lieven Bartels mit ihren Grachten, den in die weite flache Landschaft gestreuten Bauernhöfen und stillen Dörfern „wie ein zerbrochener, angelaufener Spiegel der alten niederländischen Kultur“. Viele Traditionen, die die Moderne anderswo unter sich begraben hat, leben hier weiter. Noch heute träfen sich vielerorts die Bauern auf einem neutralen Grundstück zur Aussprache, um Konflikte friedlich beizulegen. Um schnell die Kanäle und Entwässerungsgräben zu überqueren, nutzten die Friesen früher Stäbe, mit denen sie wie im Stabhochsprung trocken übers Wasser gelangten. Daraus hat sich eine beliebte Sportart entwickelt, in der es Turniere und andere Wettkämpfe gibt. Erhalten blieben auch die Skûtsjes, lange flache Segel-Lastkähne für das seichte Wattenmeer.

Die Rache des großen Peter. Das Friesische Museum präsentiert in seiner Dauerausstellung ein 2,13 Meter langes, schon etwas angerostetes Schwert. Es gehörte dem Nationalhelden Grutte Pier, dem großen Peter. Nachdem Invasoren aus dem Süden im frühen Mittelalter seinen Hof zerstört und seine Frau ermordet hatten, sann der Bauer auf Rache. Auf dem heutigen Ijsselmeer verfolgte er holländische Schiffe. Zahlreiche Legenden ranken sich um den Mann. Mit dem Satz „Butterbrot und grüner Käse, wer das nicht sagen kann, ist kein echter Friese“ habe er seine Gefangenen auf ihre Herkunft getestet. Wer den friesischen Spruch nicht aufsagen konnte, wurde mit dem langen Schwert geköpft oder auf die Planken des Bootes genagelt und versenkt.

Eine eigensinnige, weltoffene Gemeinschaft. Friesische Seeleute segelten damals bis nach Indien. Mittelalterliche Fundstücke im Museum belegen regen Handel mit Skandinavien, Südeuropa, dem Nahen und Mittleren Osten. Sneek, Harlingen und andere Hafenstädte der Region waren lang vor Amsterdam reiche Metropolen.

Friesisch. Das Friesische Museum zeigt die Eigenheiten des Landes.
Friesisch. Das Friesische Museum zeigt die Eigenheiten des Landes. (c) Theo de Witte

Beharrlichkeit, Eigensinn und die Mienskip, zu Deutsch etwa Gemeinschaftsgeist, haben sich die Friesen als Markenzeichen bewahrt. Damit gewannen sie als Außenseiter das Rennen um den Titel Europäische Kulturhauptstadt 2018. Metropolen wie Utrecht oder Den Haag hatten ihre Bewerbung längst eingereicht, als ein paar junge Leeuwarder auf die Idee kamen, die Kulturhauptstadt nach Friesland zu holen. Sie brachten einen Stein ins Rollen, den anfangs niemand ernst nahm. Ein Städtchen im fernen Nordwesten, allenfalls bekannt für Kühe, Kondensmilch oder seltene Wattvögel, wollte Europas Kulturhauptstadt werden. Entgegen aller Erwartungen entschied sich die Auswahljury für die Idee, Friesland 2018 als europäische, weltoffene Gemeinschaft zu präsentieren. Mit einem Etat von rund 70 Millionen Euro aus den Kassen von Stadt, Region und Staat hat das Kulturhauptstadtbüro inzwischen mehr als 100 Projekte angeleiert: Unter dem Titel „Behind the Front Door“, hinter der Eingangstür, drehen Profis mit Jugendlichen aus einem der ärmsten Wohngebiete der Niederlande am Stadtrand von Leeuwarden einen Film über ihren Alltag.

Kulturhauptstadt von unten. Neben sozialen Themen geht es um nachhaltige Entwicklung und Ökologie. Mit einer Geschichte über den friesischen Wattvogel Godwit, eine Schnepfenart, die einst den 100-Gulden-Schein zierte, wollen die Planer weltweite Zusammenhänge aufzeigen: Weil Frieslands Felder zu Monokulturen für Futtergras geworden sind, finden die Zugvögel kaum noch Nahrung. Deshalb ziehen sie immer früher in ihre afrikanischen Winterquartiere, wo sie den dortigen Bauern die Aussaat wegfressen. „Und was passiert dann?“, fragt Kulturhauptstadt-Manager Bertels: „Die Menschen fliehen in die großen Städte oder zu uns.“

Mit ihren Projekten liefern Bertels und seine Mitarbeiter Ideen für die Zukunft des ländlichen Raums. In der Hoffnung auf Jobs und ein besseres Leben verlassen die jungen Leute ihre Dörfer. Die industrialisierte Landwirtschaft braucht kaum noch Arbeitskräfte. Dorfläden und Wirtshäuser geben auf, Schulen schließen. „Wird aus dem Land eine Spielwiese für Reiche, eine Lagerstätte für die Armen oder ein Freilichtmuseum?“, fragt Bertels.

„Unter den Türmen“ heißt ein Projekt, das leerstehenden Dorfkirchen neues Leben einhauchen will. „Schatzkammern voller Geschichten“ nennt Initiatorin Tamara Schoppert Frieslands Dörfer. Die Leute aus den Ortschaften seien erst skeptisch gewesen, machten jetzt aber begeistert mit. In einer an Schnitzereien reichen Kapelle planen sie eine Schnitzwerkstatt mit einem international bekannten Künstler.
Schoppert, selbst Schauspielerin und Regisseurin, erzählt von einer streng calvinistischen Gemeinde, die während des Zweiten Weltkriegs Evakuierte aus dem katholischen Süden der Niederlande aufnehmen musste. Nach anfänglichen Widerständen seien die Menschen aber miteinander ausgekommen, manche hätten neue Freunde gefunden. Lieven Bertels berichtet von einem Dorf, das die Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien und Afrika als Chance erkannt habe. Anwohner hätten gemeinsam ein leerstehendes Haus gekauft, um es einer syrischen Familie zu überlassen, damit wieder Leben in den Ort kommt.

Spinnereien. Die Kulturhauptstadt versteht sich als Begleiter all dieser Ideengeber. Viele kommen wie einst die Bewerbung aus der Mitte der Bevölkerung. Bertels und seine Leute helfen bei Organisation, Marketing, Vernetzung und Budgetierung. Rund 800 lokale Initiativen machen inzwischen mit. Marten Winters zum Beispiel will mit seinem Projekt „Der achte Tag“ vor allem Menschen zusammenbringen, die einander sonst nie begegnen. Er plant ein Riesendomino aus Matratzen, das ins Guinessbuch der Rekorde kommen soll. Von überall her werden Leute mit ihren Schlafunterlagen nach Leeuwarden kommen und sich damit zu einem Dominospiel aufbauen. In Schulen und Kindergärten will Winters Kindern helfen, ihre Fantasien zu verwirklichen. „Die Erwachsenen reden Kindern ihre Ideen oft als Spinnereien aus“, beklagt er. „Wir fragen sie nach ihren Träumen.“ Ein Bub habe sich beispielsweise gewünscht, dass eine Kuh zwischen zwei Kirchtürmen auf einem Seil balanciert. Mit dem 3D-Drucker kein Problem. Die Idee hinter alledem: Scheinbar Unmögliches in einer starken Gemeinschaft verwirklichen, indem man Neues zusammen ausprobiert. Mit dieser Einstellung sorgt das kleine Land immer wieder für Überraschungen.

Info

Europäische Kulturhauptstadt 2018. www.2018.nl/de
Neben vielen regionalen Projekten präsentiert eine große Ausstellung Werk und Leben des Leeuwarder Grafikers und Künstlers MC Escher. Mit der als Kurtisane bekannt gewordenen und im Ersten Weltkrieg als (angebliche) Spionin hingerichteten Mata Hari befasst sich ab Oktober 2017 eine weitere Ausstellung im Friesischen Museum.

1876 war die spätere Tänzerin als Margaretha Geertruida Zelle in Leeuwarden zur Welt gekommen.

Stadtführungen: Stadtrundgänge zu verschiedenen Themen (Bier, Street Art, Spuren der Nassauer u.a.) veranstaltet „A Guide to Leeuwarden“. Zum Nachlesen gibt es Stadtpläne, Tipps und Stadt-Infos unter aguidetoleeuwarden.nl

Bootstouren auf den Grachten und Kanälen der Stadt bietet Greenjoy . Hier kann man auch Elektroboote mieten, http://greenjoy.nl/leeuwarden

Der schiefe Turm von Leeuwarden: Weil ihn seine Architekten im 16. Jahrhundert teilweise auf Sand gebaut haben, steht der Oldehove heute noch schiefer als der berühmte Turm in Pisa. In 40 Metern Höhe hat man freie Aussicht über die Stadt. oldehove.eu/de

Waag: In der 1590 erbauten Stadtwaage, eines der schönsten alten Bauwerke der Stadt, serviert heute ein Restaurant heimische Küche, Nieuwstad 148

Friesisches Museum: Frieslands Eigenheiten und Geschichte zeigt das Fries Museum am Wilhelminaplein 92,
friesmuseum.nl.

Museum de Grutterswinkel: Eine Greißlerei aus dem frühen 20. Jahrhundert halten 40 Ehrenamtliche am Laufen. Die Einrichtung von Laden, Schlaf-, Mädchen- und Wohnzimmer ist original erhalten. Im ehemaligen Wohnzimmer servieren sie Tee, Kaffee und friesische Leckereien zu zivilen Preisen. Nieuwesteeg 5, museum-de-grutterswinkel.nl

Nashorn: Konzerte, DJ-Nächte, Lesungen, Poetry-Slams, Bingo-Abende und mehr veranstaltet das Kulturzentrum Neushoorn (Nashorn). Ruiterskwartier 41, neushoorn.nl

Cafés: Überall in der Stadt finden sich ausgefallene, kleine inhabergeführte Cafés wie das minimalistisch eingerichtete Blikspuit mit seiner großen Kinderspielecke und dem angeschlossenen Laden für ausgefallene Kleinigkeiten, Kelders 28, http://blikspuit.com

Grand Café: Investoren haben das ehemalige Hauptpostamt von 1885 zu einem mondänen Café im Stil der 1920er Jahre umgebaut. Mit seiner Holzdecke und den hohen arkadengeschmückten Wänden erinnert das Innere des Gebäudes an ein Kirchenschiff.
Das angrenzende 4-Sterne-Hotel Post-Plaza in einem ebenfalls denkmalgeschützten ehemaligen Bankgebäude nutzt das Café-Restaurant u. a. als Frühstücksraum. 42 der Hotelzimmer liegen ebenfalls im ehemaligen Postamt. Hotel und Café bieten exzellenten Service zu gehobenen Preisen. post-plaza.nl

Einkaufen: Wenige Klein- Mittelstädte haben noch so viele originelle kleine Läden wie Leeuwarden, zum Beispiel der Papierwarenladen Kabinett (Kelders 27, kabinett-store.nl).
Für ihre vielen kleinen Geschäfte und Cafés erhielt die Kleine Kerkstraat 2010 die Auszeichnung „netteste Einkaufsstraße der Niederlande“.

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