Ötillö-Bewerbe: Von Insel bis Insel

Im Schärengarten. Das Ostseewasser ist an die zwölf Grad kalt.
Im Schärengarten. Das Ostseewasser ist an die zwölf Grad kalt.(c) Jakob Edholm
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Klingt vielleicht harmloser, als es ist: Ötillö zählt zu den schwierigsten Ein-Tages-Rennen weltweit.

Ein Mann mit drahtiger, groß gewachsener Statur am Hafendamm der schwedischen Insel Sandhamn. Sportschuhe, schwarze Jogginghose, schwarze Fleecejacke, blond gewellte Haare, die unter einer Strickhaube hervorquellen. Die gelassene Körperhaltung erzählt noch nicht von der gespannten Vorfreude auf den Moment, in dem das ­Ötillö-Boot einlaufen wird. Knapp 300 Menschen wird Michael Lemmel in den nächsten Minuten begrüßen, jeden einzelnen herzlich in die Arme nehmen. Der frühere Adventure Racer von Weltklasseformat und heutiger Ötillö-Racedirector weiß, dass seine Schützlinge morgen davon zehren müssen.

Wer Ötillö auf der Landkarte sucht, tut dies vergeblich. Die schwedisch-englische Wortschöpfung Ö-till-Ö – zu Deutsch: von Insel zu Insel – steht für einen Wettbewerb außerhalb der Norm, entstanden auf kuriose Weise. 2002 verbringt Anders Malm, Besitzer des Hotels Värdshus auf der Insel Utö, mit drei Freunden eine längere Nacht an der eigenen Hotelbar, Land- und Seekarten vor sich. Ein Wort ergibt das andere: „Zwei Teams. Wir starten von hier. Ziel ist das Restaurant Seglarhotellet auf Sandhamn. Wir laufen und schwimmen.“ Rund 50 Kilometer Seelinie, durchbrochen von Felsen und Inseln, trennen die beiden Eilande des Stockholmer Schärengartens. Die verrückte Idee wird zum 24-stündigen Abenteuertrip.

Vier Jahre später nimmt die einstige „bsoffene Gschicht“ ernsthafte Formen an. Die schwedischen Sportmanager Michael Lemmel und Mats Skott werden von „The 4 Originals“ gebeten, einen Wettbewerb aus der Taufe zu heben. Neun Zweierteams finden sich 2006 zur Premiere ein, gerade einmal zwei erreichen das Ziel. 2017 sind 148 Paare aus 18 Nationen am Start, unter ihnen Ironman-Triathleten, Multisport-Stars oder Military-Elitesportler. „Ötillö“ ist innerhalb weniger Jahre zum Markennamen einer rasant wachsenden Sportdisziplin geworden, der sich weltweit rund 40.000 Athleten verschrieben haben. 450 Swimrun-Bewerbe finden in diesem Jahr statt, in Schweden, England, Kroatien, der Schweiz oder Deutschland. 2018 könnte ein Spot in Österreich auf den Kalender kommen. Die Urstrecke zwischen Sandhamn und Utö wird jährlich als Swimrun World Championship gewertet und von Experten bereits unter die härtesten Adventure-Ein-Tages-Rennen der Welt gereiht.

(c) Jakob Edholm

„Es wird brutal.“ Der 4. September 2017 sollte dieser Einschätzung im Stockholmer Archipelago zur Ehre gereichen. Internationale Zuschauer und Medien werden ab sechs Uhr früh Zeugen des heftigsten Tages in der Geschichte der Swimrun-WM. Regen peitscht über die Inseln, getrieben von einem aufkommenden Sturm. Der örtliche Wetterdienst prognostiziert Böen bis zu 90 Kilometer pro Stunde. Beim Directors Briefing am Vortag hat Lemmel den Teams der Begleit- und Medienboote, den Sanitätern und Rettungsmannschaften, dem Hubschrauberpiloten und den freiwilligen Helfern eindringlich ins Gewissen geredet. „Es wird brutal. Wir haben solche Bedingungen in all den Jahren noch nicht gehabt. Die Sicherheit der Teilnehmer steht im Vordergrund. Jeder entlang der Strecke, egal in welcher Funktion, wird auf mein Kommando zum Nothelfer umfunktioniert.“

„Ich war schon einmal gelassener und klarer im Kopf“, diktiert David Hauss kurz vor Rennstart in die Mikros der Journalisten. Selbstsicher klingt anders aus dem Mund eines Triathlon-Europameisters, der mit Partner Cédric Fleureton zu den Spitzenathleten, aber auch zu den Ötillö-Novizen des Feldes zählt. Die nackten Fakten nötigen mehr als nur Respekt ab. 65 Kilometer, sprich eineinhalb Marathondistanzen Trail über Stock und Stein, zehn Kilometer schwimmen auf offener See, zehn bis zwölf Grad Wassertemperatur, 26 zu überquerende Inseln, 50 Wechsel zwischen Lauf- und Schwimmeinheiten. Zur Idee der Ötillö-Sonderregel – jedes Paar (drei Wertungsdisziplinen: Herren, Damen, Mixed) wird mit einer zehn Meter langen Schnur zur Seilschaft über die gesamte Renndistanz – meint Lemmel: „In einer Gesellschaft, in der alles und alle auf Individualität fokussieren, wollen wir das Paarerlebnis in Extremsituationen stärken. Es geht um Verbindung.“

Streckenrekord. Und es geht um Verbindlichkeit – wie das französische Duo am eigenen Leib erfährt. Bereits nach wenigen Kilometern stürzt Hauss und verstaucht sich den Knöchel, sieben Stunden vor der erwarteten Zielankunft. Aufgeben ist weder für ihn noch für seinen Partner eine Option. Das Rennen wird zum Selbstüberwindungstrip à deux. Das gilt auch für jene, die verletzungsfrei bleiben, vor allem, wenn im letzten Renndrittel die größte der Herausforderungen ansteht. The „Pig swim“, die längste Schwimmdistanz am Stück. 1,8 Kilometer auf offener See im Kampf gegen Sturm, Strömung und Wellengang. Manche driften ab und geraten in Panik. Die Begleitboote mutieren wie angekündigt zu Orientierungshelfern für Topathleten in Seenot. Teamwork ist angesagt, in jeder Hinsicht.

Knapp acht Stunden nach dem Start erreicht das Team „Swedish Armed Forces“ mit neuem Streckenrekord das Ziel vor dem Hotel Värdshus – jenem Hotel, in dessen Bar „The 4 Originals“ 2002 die Idee hatten. Nach zehn Stunden ist die Tortur für das beste Damenteam überstanden, nach 14 Stunden haben es auch die Letzten im Feld geschafft. Rund 20 Prozent sind am Timecut, an Verletzungen, am Wetter und letztlich an sich selbst gescheitert. David Hauss und Cédric Fleureton belegen in Anbetracht der Umstände den beachtlichen siebenten Platz. Als sie wieder zu Atem gekommen sind, berichten sie „vom verrücktesten, härtesten und schönsten Natursporterlebnis“ ihrer Karriere. Umarmt werden sie noch im Ziel – so wie alle anderen – von Lemmel. Ein Déjà-vu für 300 Abenteurer, die nach dem Rennen und dem Essen die Nacht zur Party machen. Auf Utö, von den Schweden eigentlich Insel der Liebe genannt.

Info

Ötillö-Bewerbe sind mittlerweile international, zuletzt auf der Mecklenburger Seenplatte. Infos: www.otilloswimrun.com, Onlinestream: www.otilloswimrun.com/live

Stockholmer Schärengarten: rund 30.000 Inseln, Schären und Felsen, die sich 80  km östlich vom Stadtzentrum in die Ostsee erstrecken. Ein Paradies für Segler, Angler, Wanderer, Radfahrer, Camper. Quartiere von einfach bis gehoben.

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